Die Buchhändlerin denkt nicht lange nach. Sie bahnt sich einen Weg zwischen den Ladenregalen, weicht mehreren Schaukelstühlen aus, auf denen sich Menschen wiegen, die kaum nach KäuferInnen aussehen, und kommt umgehend mit einem blauen Band, einem hellblauen Band genauer gesagt, zurück. „La Trinitaria“ in der Zona Colonial im kolonialen Stadtteil von Santo Domingo ist spezialisiert auf einheimische Literatur und offenbar gut sortiert. Sehr frequentiert ist der Laden allerdings nicht. Ich hatte nach interessanten, jüngeren Romanen gefragt. „Hier“, sagt sie und reicht mir den eher schmalen Band, 184 Seiten, großzügige Schrift, dritte Auflage. Der Titel kommt so unliterarisch daher, wie es nur geht: „Papi“. Klingt nach Kinderbuch. Ist es auch. Und ist es überhaupt nicht
Papi ist der stets abwesende Vater, den ein kleines Mädchen vergöttert. Papi ist der Einzige, der Beste, der die Mutter der Ich-Erzählerin verlassen hat, aber sicher gleich wiederkommt und seine Lieblingstochter zum Baden abholt, dem sie Briefe in die USA schreibt, damit er der in der DomRep gebliebenen Mutter und ihr einen Fernseher kauft, der Geliebte an jedem Finger beider Hände hat, geschenkebeladen zurückkehrt, um die ganze Familie und Nachbarschaft von seinem Erfolg in den States zu überzeugen. Er ist der aus dem Ausland heimkehrende Sportler, der vom Flughafen aus triumphal in die Hauptstadt läuft, während die Anhänger Spalier bilden und ein gewiefter Straßenhändler schon Andenken verkauft. Der kleine Gangster auf der Flucht, der große Gangster mit Büro und Jakuzzi hinter geheimer Schiebetür, Drogenhändler, Bauspekulant, Hochstapler, Politiker, Volksheiliger, Märtyrer. Die ganze Palette der Spielarten des Macho dominicano.
Die Porträts der Papis schieben sich unmerklich übereinander, grotesk übersteigert und bis zur Kenntlichkeit dominikanische Gesellschaftsverhältnisse und Angewohnheiten nachzeichnend. Regelmäßig geht die Phantasie mit dem Mädchen durch. Mythen, Aberglauben, Fernsehwerbung und die Wahrheiten, die nur aus Kinder- oder Narrenmund kommen können, gehen ineinander auf. In Kinderart steigert sich das Mädchen in imaginäre Wettstreits, in denen Papi immer noch mehr kann und immer noch mehr hat, was sich etwa so anhört: „Mein Papi hat so viel Geld, dass er ein Frauenportemonnaie benutzen muss, denn in ein Männerportemonnaie passt es nicht alles hinein, und deswegen hat er immer eine Frau an seiner Seite, die ihm das Portemonnaie trägt.“ (S. 27)
Sprachlich ist jedes Register vertreten, vom gekauten Slang, in dem kein „s“ vorm Verschlucken sicher ist: diablo, eso miterio si son abusadre (S. 126) bis zum zwei Seiten langen stakkato hingeworfenen Rap. Miqui Mau und Doctor Spok sind die vorgegebenen Helden. Spanglish, Schlagerschmalz, Politikerslogans, Vater(!)-Staat-Parolen und Satzkaskaden ohne Punkt und Komma wechseln sich ab. Ein Stadtroman, aber auch ein Roadmovie, ein Sittengemälde, eine Popperformance, die die Welt der billigen Bilder der TV-Kultur und Hollywoodstars im Kopf des Mädchens völlig neu ordnet.
Man muss den Roman mit der Atemlosigkeit lesen, mit der die Tochter die Qualitäten ihres Vaters herunterrasselt, um die stille Leerstelle des abwesenden Vaters zu überspielen, nicht ertragen zu müssen: in einem Rutsch. „Mittendrin aufzuhören ist so gefährlich, wie bei voller Geschwindigkeit vom Motorrad zu springen“, schrieb die spanische El País. Wohl wahr.
Denn man muss auch das Ende lesen. So wie jede Papiversion sich in ihrer karikaturhaften Übersteigerung in die nächste auflöst, so treibt der Text auf einen Fluchtpunkt zu. Und klar: Wo Männerbilder dekonstruiert werden, wie sie von ihnen selbst oder von Frauen inszeniert werden, muss irgendwann der Blick auf die Frau jenseits der Projektionsfolie fallen. Und das geht so: Die Mutter des inzwischen herangewachsenen Mädchens ist todkrank und bleibt vermutlich nur in der Phantasie der Tochter am Leben. Eine Aussage, die LeserInnen – wie den Rest des Romans – so psychoanalytisch und so landesspezifisch interpretieren mögen, wie sie wollen.
Im Herbst 2011 war Rita Indiana in Barcelona, um die spanische Ausgabe von „Papi“ vorzustellen und mit ihrer Band Rita Indiana y los Misterios aufzutreten. Dabei entstand auch ein kurzes Videointerview, in dem Rita Indiana sich und ihre Musik charakterisiert. Ihre Musik sei seltsam in der DomRep, ihr Look ebenfalls. Als Russin würde sie manchmal angesehen. Aber es gebe in ihrem Land eben so viele Typen, Klassen, Herkünfte, dass sie perfekt in diese Mareada von Varietäten passe. Facebook und Twitter habe sie aufgegeben, weil sie fast davon abhängig geworden sei. Über den Verkauf ihrer Musik habe sie keine Kontrolle. Ihre CD sei morgens herausgekommen und mittags schon an den Ständen der Calle Duarte zu erstehen gewesen, in insgesamt fünf Versionen. Gut, sie habe auch selbst seit zehn Jahren keine CDs mehr im Laden gekauft. „In dieser Hinsicht bin ich ebenfalls kriminell“, daher könne sie nicht mit dem Finger auf Schwarzkäufer zeigen. Im Übrigen müsse der Staat eine Regelung finden, die Künstlern das Leben ermöglicht. Musik sei gratis, das sei ein Fakt.[fn]Das Interview ist nachzuschauen unter http://www.cccb.org/en/autor-rita_indiana_hernandez-39440[/fn]
Tatsächlich gibt es El Juidero, ihre erste CD von 2010, gleich am ersten Stand in der Calle Conde, als wir am letzten Montag des Jahres 2012 danach fragen. „Beste Qualität, Original“, meinen die verkaufenden Jungs und lassen sich auch gerne mit ihrer Ware fotografieren. Am Vortag hatten wir Rita Indiana unverhofft beim wöchentlichen Sonntagsabendskonzert vor den Ruinen des Klosters San Francisco erlebt (vgl. Beitrag von Hans-Ulrich Dillmann in dieser Ausgabe). Rita Indiana war nicht vorgesehen, aber die Gruppe Bonnyé holt auch immer wieder bekannte und befreundete MusikerInnen auf die Bühne. Von meinem ziemlich entfernten Platz im Publikum aus bin ich nicht sicher, ob diese sehr große, schlanke Gestalt mit Pilzkopffrisur und herunterbaumelnden Hosenträgern ein Mann oder eine Frau ist. Außer uns scheint sich niemand diese Frage zu stellen. Man kennt sie: Rita Indiana! Die Autorin von „Papi“, das ich gerade verschlungen habe. Sie wird frenetisch beklatscht, auch wenn ihr Elektro-Merengue vom Son der Veranstalter um einiges abweicht, muss eine Zugabe geben. Später geht sie mit einem Pappkarton durch die Reihen, sammelt Geld für die (alle) KünstlerInnen, ebenfalls mit Erfolg.
Rita Indiana ist bekennende Lesbe. Ihre Partnerin ist Puertoricanerin, sie selbst lebt teilzeitig bei ihr in Puerto Rico. In der Dominikanischen Republik, sagte sie anlässlich ihrer Auftritte in Spanien, sei es weiterhin schwer, als Homosexuelle ein würdiges Leben zu führen. Interessant, dass die DominikanerInnen ihre Musik trotzdem ausgesprochen mögen, ihre Romane und Gedichte vermutlich auch, aber Belletristik findet in der DomRep sicher weniger LeserInnen, als an jenem Sonntagabend vor der Klosterruine in der Zona Colonial tanzen. Ich wüsste eine Lösung: Übersetzungen!