Mit Hilfe der „sozialen Erinnerung“ können die Spuren des Krieges bei denjenigen aufgedeckt werden, die ihn zwar nicht erlebt haben, aber in einer Gemeinschaft aufgewachsen sind, die zu Kriegszeiten betroffen war. Familienangehörige und Nachbar*innen sind also unmittelbare Opfer dieser Vergangenheit. Die Studie basiert auf Lebensgeschichten von zehn jungen Menschen, Frauen und Männern, die nach 1992 in der Gemeinde Nueva Trinidad im Norden von El Salvador geboren wurden. Im Rahmen der Forschung schufen sie ihre eigene „Geschichte des bewaffneten Konflikts“, um damit zu erkunden, inwiefern die vergangenen Ereignisse ihr Leben heute beeinflussen.
Nueva Trinidad ist eine Gemeinde, die wie andere in der Gegend auch während des Krieges, vor allem in den frühen 1980er-Jahren, von schweren militärischen Operationen zerstört wurde. Ab 1991 setzte eine Neubesiedlung des Ortes von ehemaligen Geflüchteten und ehemaligen Kämpfer*innen der Guerilla ein. Über 20 Jahre nach der Neubesiedlung und dem offiziellen Ende des bewaffneten Konflikts ist diese Vergangenheit dennoch im Alltag präsent. Zum Beispiel in den „Erinnerungsorten“, wo mit Wandbildern und Sprüchen diejenigen Orte gekennzeichnet sind, die Schauplatz von Gewalttaten waren. Alle jungen Menschen wissen von diesen Ereignissen (zum Beispiel die Massaker an der Bevölkerung, die auf dem Dorfplatz oder außerhalb der Gemeinde stattfanden). Die Vergangenheit zeigt sich aber auch in den Menschen mit ihren Narben, in deren Verhalten und bei spontanen Gesprächen auf der Straße. Sie spiegelt sich auch in Institutionen wie der katholischen Kirche wider, mit ihrem Erinnerungskomitee und den jährlich stattfindenden Gedenkfeiern, die an die Unterzeichnung des Friedensabkommens, die Neubesiedlung, die Massaker und andere wichtige Termine erinnern.
Kurz: Der Alltag in Nueva Trinidad setzt einen ständigen Prozess des Erinnerns in Gang, der auf dem Wunsch basiert, „die Erinnerungen an den bewaffneten Konflikt wachzuhalten“, vor allem diejenigen, die vom Leid der Ortsangehörigen berichten. Die jungen Menschen stehen zu dieser Absicht und finden es wichtig, an die Ereignisse in der Gemeinde zu erinnern, da dies gewissermaßen die Vergangenheit würdigt. Hinzu kommt, dass das Leiden sie mit ihren Vorfahren verbindet. Denn obwohl sie erst nach 1992 geboren wurden, mussten sie selbst unter den Bedingungen der Nachkriegszeit leiden: die extreme Armut in Nueva Trinidad während des Wiederaufbaus in den frühen neunziger Jahren (als die jungen Menschen geboren wurden), die Abwesenheit von Tanten, Onkeln, Großeltern und anderen Verwandten, die im Krieg getötet wurden. Mit ihren Erinnerungen zeigen sie, was Nueva Trinidad bis heute ist: ein Territorium von Kriegs- und Nachkriegsüberlebenden.
Diese Erinnerungen werden locker, offen und enthusiastisch erzählt. Dabei tritt eine interessante Entwicklung zutage: Die jungen Menschen, die immer wieder die Geschichten von Verwandten und Nachbar*innen hören, übernehmen in ihrem eigenen Leben (im Studium, auf der Arbeit) das Verhalten eines Überlebenden: Angesichts widriger Situationen geben sie nicht klein bei, auch wenn dies bedeutet zu leiden. Hier geht ihr Zugehörigkeitsgefühl zum Territorium einher mit der gemeinsamen Identität, in welcher der bewaffnete Konflikt eine wichtige Rolle spielt.
Die Situation gestaltet sich noch komplexer, wenn sich die Jugendlichen mit tiefer gehenden Erinnerungsprozessen zu beschäftigen beginnen, die sich auf das Privatleben der Familie beziehen. Dabei erzählen sie von schmerzhaften Ereignissen, welche die Angehörigen während ihrer Zwangsvertreibung oder in den Flüchtlingslagern erlebten, das können auch Morde an anderen Verwandten sein oder Erfahrungen aus dem Guerillakampf. Was hierbei auffällt: Obwohl die jungen Menschen diese Ereignisse nicht am eigenen Leib erlebt haben, eignen sie sie sich gewissermaßen an. Damit einher gehen Emotionalität, Empathie und Vorstellungskraft, die es ihnen erlauben, diese Vergangenheit „beinah zu (er)leben“.
Die Erinnerungen werden im Rahmen einer tiefen Verbindung zwischen den Jugendlichen und ihren Verwandten geschaffen, wobei ihre Mütter und Großmütter als Erzählerinnen eine besonders wichtige Rolle spielen. Dies liegt wahrscheinlich an spezifischen Geschlechterdynamiken während und nach dem Krieg (Väter, die in der Nachkriegszeit die Familie verlassen haben, oder Großväter, die im Krieg gefallen sind). Ihre Verwandten funktionieren daher als emotionale Brücke, die die Jugendlichen mit der Vergangenheit verbindet. Begünstigt wird diese Verbindung auch durch die Entwicklung von Einfühlungsvermögen nicht nur im Hinblick auf die Kriegsvergangenheit der Verwandten, sondern auch auf ihr gegenwärtiges Leben als Überlebende. Schließlich stellen sie sich dabei vor, wie es ist, die Demütigungen des Krieges zu erleben, und empfinden den Schmerz nach, der sich in der Gegenwart bei der Erinnerung an diese Ereignisse einstellt.
Es ist für sie nicht leicht, „danach“ geboren zu sein und gleichzeitig die Kriegsvergangenheit innerhalb der Familie ständig präsent zu haben. Zumal die privatesten Erinnerungen komplex und lückenhaft sind, was sie nicht weniger emotional macht. Gefühle wie Traurigkeit, Wut und Unsicherheit sind dabei die häufigsten. Die Grundlage dieser Dynamik ist vor allem die Situation, die ihre Angehörigen erlebt haben. Für die jungen Menschen ist es nicht immer einfach, deren ganze Erfahrungen zu teilen. Sie haben das Gefühl, dass ihnen etwas vorenthalten wird, dass ihnen nicht die „ganze Geschichte“ erzählt wird. Dies geschieht entweder, weil das Erinnern schmerzt und es noch „Traumata gibt“ oder weil ihre Verwandten die „Ruhe“ der Gegenwart nicht durch das Ansprechen unangenehmer Erinnerungen stören wollen. Ein Beispiel: Einer Mutter würde es schwerfallen zu erzählen, dass sie als Guerillakämpferin getötet hat, und für den Sohn wäre diese Erinnerung schwer zu verdauen.
Obwohl bestimmte Inhalte von Erinnerungen nicht erzählt werden, gibt es auf jeden Fall eine Art „kommunikatives Schweigen“: Gesagt wird nicht alles, aber die Spuren in den Menschen und den Räumen erzählen es. Die Narben der Verwandten, ihre Verhaltensweisen, ihre Art zu sein, das alles wird – den Jugendlichen zufolge – mit den Kriegserlebnissen in Verbindung gebracht und ist Symbol dafür, dass etwas passiert ist. Die Fragen nach diesem „Etwas“ stecken in ihnen drin und werden möglicherweise nicht verschwinden, weil sie ständig mit ihren Verwandten (und Nachbar*innen) interagieren.
Für junge Menschen ist es schwieriger, mit den Familienerinnerungen umzugehen, verglichen mit dem Bestreben, die Erinnerungen ihrer Gemeinde „lebendig zu halten“. Die Erinnerung an den Krieg innerhalb der Familie ist unbequem und fordert sie mehr heraus. Als Konsequenz daraus bringen diese privaten Erinnerungen paradoxerweise zwei gegensätzliche Reaktionen hervor: Für manche sind die Leidensgeschichten der Familienangehörigen ein Ansporn, um die Erinnerung an den Krieg weiter aufrechtzuerhalten, da sie das Kundgeben des Erlebten als eine Form der Bestätigung und Würdigung ansehen. Für andere wiederum hemmt dieses Leiden sie, weiter zu erinnern. Schließlich können nicht verheilte Wunden wieder aufgerissen werden, wenn das Thema erneut auf den Tisch gebracht wird, was wiederum das enge Verhältnis mit ihren Familienangehörigen in Mitleidenschaft zieht.
Dies zeigt die Konflikte, die innerhalb der Familien entstehen können und die durch das Dilemma des „Erzählen oder Schweigen“ verstärkt werden. Die meisten jungen Menschen haben ein echtes Interesse an der Kriegsvergangenheit. Sie stellen ihre Fragen oder haben es zumindest für die Zukunft vor. Das ist nachvollziehbar, denn sie wollen die Ursachen dafür ergründen, warum zum Beispiel bestimmte Verwandte nicht mehr leben, warum Angehörige der Guerilla bei-getreten sind etc. Sie wollen die Lücken füllen und die Erinnerungsfragmente miteinander verbinden. Hier zeigen sich zwei Knackpunkte: zum einen der Konflikt zwischen dem Wunsch der Jugendlichen, mehr über die Vergangenheit der Familie zu erfahren, und der Unfähigkeit ihrer Verwandten, ihre intimen Erinnerungen zu vermitteln; zum anderen die unterschiedlichen Dynamiken in der Gemeinde und im familiären Kontext. Während die Vergangenheit in der Gemeinde tendenziell ohne Zögern betrachtet wird, sieht das bei den Familien anders aus. In beiden Fällen kann die Art und Weise, wie diese Konflikte ausgetragen werden, Auswirkungen auf die jeweiligen Verletzungen haben.
Dass junge Menschen mehr als 25 Jahre nach der formellen Beendigung des Konflikts die Schwierigkeiten mitbekommen, die ihre Angehörigen und Nachbar*innen im Hinblick auf die Vergangenheit haben, zeigt, dass Maßnahmen zur sozialen Wiedergutmachung nach wie vor ausbleiben. Und dennoch weist Nueva Trinidad – möglicherweise auch andere, ähnliche Orte – die Besonderheit auf, seine Bewohner*innen vor der Dynamik des Vergessens zu schützen oder davor, dass ihre Erinnerungen und im Krieg gemachte Erfahrungen verunglimpft und entwertet werden. So könnten zum Beispiel die jungen Menschen dafür stigmatisiert werden, dass sie Nachkommen von ehemaligen Geflüchteten und ehemaligen Kämpfer*innen sind. Doch in Nueva Trinidad ist dies kein Grund zur Sorge. Im Gegenteil: Indem sie die gemeinsame Vergangenheit des Leidens mit allen Bewohner*innen teilen, wird der starke soziale Zusammenhalt weiter gefestigt.
Bis hierhin mein kleiner Überblick, der zeigt, wie komplex das Verhältnis dieser Gemeinde mit der Kriegsvergangenheit ist. Nun wissen wir, dass diese Dynamik, welche die Erinnerung fördert, Identitätsfragen mit der Figur des Überlebenden verknüpft und das soziale Gefüge weiter stärkt, auch das Aufkommen und die Bearbeitung jener intimen Erinnerungen ermöglichen könnte, die nie geteilt worden sind, obwohl der Wunsch danach besteht. Die Gemeinde könnte Orte schaffen, an denen diese Leidenserinnerungen mitgeteilt werden, die sich von den bereits etablierten Gedenkfeiern und anderen institutionell verankerten Aktivitäten unterscheiden. Damit würden die schmerzhaften Erfahrungen von einer noch größeren Anzahl von Bewohner*innen anerkannt und gewürdigt werden. Daran müssen die jungen Menschen, die in Zukunft die Geschicke des Landes lenken werden, angemessen beteiligt werden, da die Vergangenheit auch Auswirkungen auf sie selbst und ihre Erinnerungen hat. Dafür müssen konkrete Maß-nahmen ergriffen werden, um einen Raum zu schaffen, in dem unter-schiedliche Erinnerungen zwischen den verschiedenen Generationen zusammengebracht werden und der Dialog unter-einander gefördert wird (die gemeindebasierte Psychologie und verwandte Disziplinen können viel dazu beitragen). Nur so, mit einem weiten Blick, kann ein vollständigerer Heilungsprozess der Vergangenheit erreicht werden, und das betrifft uns alle, obwohl uns dies oft nicht bewusst ist. Es liegt an uns, uns der Vergangenheit zu stellen und uns mit ihr zu versöhnen.
Eine junge Frau aus Nueva Trinidad macht es uns bereits vor: Glaubst du, dass der bewaffnete Konflikt auch in deiner Zukunft eine Rolle spielt? Das wird immer in mir drin sein, auch wenn sich Form und Bedeutung vielleicht verändern. Würdest du, wenn du könntest, dich dessen entledigen? Nein, denn es ist Teil meiner Herkunft, von mir und meiner Geschichte. Ich würde es eher verändern, als eine Erfahrung nehmen, als Geschichte meiner Familie, meiner Gemeinde. Und dies immer präsent haben und stolz auf den ganzen Prozess sein, den meine Familie erlebt hat, und darauf, was wir alles geschafft haben. Ja, vor allem das. Aber ich würde es nicht vergessen und auch nicht loswerden wollen, denn es ist Teil meiner Identität. (19-jährige Tochter einer ehemaligen Geflüchteten).