Das Große im Klitzekleinen

Esther Andradi ist keine Freundin großer Worte. Sie ist eine Meisterin der kleinen Form, der überraschenden Weise, ein Detail zu beschreiben, das sich im Prozess des Lesens als Essenz eines Ganzen entpuppt. In ihrem neuen Buch „Microcósmicas – Mikrokosmen“ stellt die Autorin dies wieder einmal unter Beweis. Erschienen ist es kürzlich zweisprachig auf Spanisch und Deutsch im Berliner KLAK-Verlag.
Statt eines Vorwortes ist dem Band mit 49 kurzen, oft nur wenige Zeilen umfassenden Texten ein lakonisches „Haushalts-Axion“ vorangestellt: „Rennen ist wie fegen./ Fegen ist putzen./ Putzen ist wie schreiben./ Schreiben ist sich anlegen mit dem Chaos.“  Welcher Mann hätte diesen Vergleich gewagt, dazu noch als Motto und Maxime eines Buchs? Die weibliche Perspektive ist dem Band somit programmatisch vorweg einverleibt. Dabei können Frauen übrigens auch Mörderinnen sein, wenn Männer auf einem Machotum beharren.
Die Antwort auf das Chaos – des Lebens – ist es, be-schreibend einzufangen. Aus einer weiblichen Sicht auf die kleinen Dinge, aus denen die großen Dinge dem Motto entsprechend herausgeputzt werden. Und klein sind sie oft wortwörtlich. In „Salmonellen“ geht es tatsächlich um Viren, in „Tagebuch eines Lachses“ um Gene, in „Die Lehre der Filzlaus“ um besagtes Insekt, augenzwinkernd natürlich, mit dem der Autorin ganz eigenen Humor. Der Kurzprosa entsprechend geht es dabei schnell, aber nicht hastig zu: „Alegro Ma Non Troppo“, „Andante Furiso“, „Rallentando“, „Vivace“ und „Fine“ heißen die symphonisch ordnenden Kapitelunterteilungen.
Erst stutzen, dann schmunzeln, dann nochmals stutzen, und so fort. Los geht es mit „Das Labyrinth“, das alle Grundelemente kreativer Prozesse überhaupt anklingen lässt: Traum, Mythos, Rätsel, die Frage nach Beziehung und Identität von Autor*in, Erzähler*in und Protagonistin. Die Frage nach Schöpfer*in und Geschöpf motiviert auch „Der Gauner“, „Der Mond“, „Elementar, mein lieber Watson“ oder „Noch eine Verwandlung“. Letzteres wiederum ist schon im Titel zentral in „Hybrid“ oder in „Metamorphose“.
Es ist keine europäische Literatur und auch keine lateinamerikanische, vielmehr eine, die aus allem schöpft und insofern kosmopolitisch ist. In „Rom“ geht es nicht wirklich um die italienische Metropole und „Hypatia“ ist keine Stadt in Griechenland. So wie die Autorin zwischen den Welten pendelt, zwischen Lateinamerika und Europa (was später noch zur Sprache kommen wird), so lotet ihr pendelnder Blick Verschiebungen und Differenzen aus, die am Ende eine schillernde Verweigerung der einfachen Zuschreibung hervorbringen, wie beim nur augenscheinlich profanen Thema der Kartoffel in „Am tiefsten ist die Haut“.  Um das Verhältnis von Erwartung und Ausdruck drehen sich die drei „Symmetrien“-Texte.
Der vergleichenden Bewegung entsprechend steht dem Originaltext in argentinischem Spanisch auf der linken Buchseite eine deutsche Übersetzung rechts gegenüber, angefertigt von Esther Andradis Tochter Raquel Suter. Man darf sicher sein, dass die deutsche Version abgesprochen ist und daher die kleinen Unterschiede gewollt sind. Sprachen prägen Sichtweisen und wohl auch umgekehrt.
„Schlechte Gesellschaft“ ist mit gerade einmal zwei Zeilen der kürzeste Text über nichts weniger als das sich entfernende Universum. Nur wenig länger ist „Ziegen“. Der Text erinnert an die wohl kürzeste Kurzgeschichte der Weltliteratur: „Als er erwachte, war der Dinosaurier immer noch da.“ Genau wie bei dem genialen Guatemalteken Augusto Monterrosa (1921-2003, davon viele Jahre im mexikanischen Exil) greift Esther Andradis Text über Flucht und Ernüchterung nach vorne und hinten aus, wächst im Kopf der Lesenden zu einer Geschichte ohne Grenzen.
Esther Andradi ist ila-Leser*innen als Autorin von Artikeln zu Argentinien, zur Literatur und zu Frauenbewegungen keineswegs eine Unbekannte. 1975 emigrierte die im argentinischen Rosario Geborene nach Peru, 1980 nach Europa, 1995 wiederum nach Argentinien (siehe dazu ein Lebenswege-Interview in der ila 183). Zum Journalismus kamen andere Textsorten: Essay, Lyrik, Kurzgeschichten und Roman. 2003 kehrte die Wanderin zwischen den Welten zurück nach Deutschland und lebt seither im migrantisch geprägten Berlin. „Mi Berlín. Crónicas de una ciudad mutante“ (2016) legt Zeugnis ab von einem Leben in politischem und sozialem Wandel, in der Anthologie „Vivir en otra lengua“ reflektiert sie das Zuhausesein in einer Sprache statt in einem Ort und die Bedeutung des Sprachwechsels. Verluste gibt es dabei immer. Wie das Paradies stirbt, wird an dieser Selle allerdings nicht verraten. Nur dies sei gesagt: einfach die Seite „Jenseits von Eden“ lesen.