Humberto Cholango, ist die Idee des buen vivir eine Erfindung des ehemaligen Vorsitzenden der Verfassunggebenden Versammlung Alberto Acosta oder von Präsident Rafael Correa? Welche Ursprünge hat das Konzept des sumak kawsay in Ecuador?
Die Ursprünge gehen zurück auf das Leben der indigenen Völker und Nationalitäten. Wir sind eine kollektive Kultur und suchen nicht nur den bienestar, den Wohlstand, wie ihn die westliche Kultur anstrebt, sondern für uns geht das sumak kawsay oder buen vivir weit darüber hinaus. In den indigenen Gemeinden geht es darum, das Land gut zu führen, die Gemeinschaft zu stärken, die Familie. Dabei geht es nicht in erster Linie um die wirtschaftlichen Aspekte, Geld und Geschäft, sondern für uns ist das buen vivir die Frage nach einem guten Lebensstil in Harmonie mit der Natur und einem Leben in Respekt vor den Anderen, nicht nur den Menschen, sondern mit der Umwelt, den Tieren, die eine Einheit mit uns bilden.
Das buen vivir bezieht sich also in erster Linie auf soziale und kulturelle Aspekte, oder bezieht es auch Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung mit ein?
Für uns existiert keine Trennung nach Kategorien der Politik, Wirtschaft, Kultur oder des Sozialen. Das buen vivir soll uns zu einem einheitlichen erfüllten Leben führen, dabei geht es nicht in erster Linie um Geld, wir suchen die Ruhe, einen sauberen Fluss, gesunde Nahrung, frische Luft. Das Leben ist eine Einheit, orientiert sich weder an den oben genannten Kategorien noch an den Rechten, wie den sogenannten WSK Rechten, den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten. Wir lehnen diese Klassifizierung ab, für uns hat die chacra, unser Stück Land, ebenso wirtschaftliche wie kulturelle oder soziale Bedeutung.
Wie bewertet die CONAIE die Einbeziehung des Konzeptes des buen vivir in der aktuellen Verfassung Ecuadors: als Erfolg der Bemühungen der Indígenabewegung oder als eine Instrumentalisierung des Konzepts durch die „Bürgerrevolution“?
Das ist ein wichtiger Erfolg. Wir hatten uns zunächst auf das Thema der Plurinationalität in unserer Arbeit in der Verfassunggebenden Versammlung konzentriert, doch ergab sich eine unerwartet positive Konjunktur, sicher auch beeinflusst von den Debatten in Bolivien, für die Themen des buen vivir und der Rechte der Natur, und die CONAIE hat dies unterstützt. Dass die Regierung dieses Konzept nun instrumentalisieren und auf ihre Weise interpretieren will, das ist ein anderes Thema, ändert aber nichts am Erfolg der Indígenabewegung Ecuadors und der gesamten Andenregion.
Kann man die Politik der aktuellen Regierung mit ihren verstärkten Investitionen in die Bereiche Bildung, Gesundheit, Infrastruktur etc. als einen Schritt in Richtung der Realisierung des sumak kawsay verstehen?
Nein, das ist eine Politik der Klientelisierung. Um das buen vivir zu konstruieren, müssen die Völker und Nationalitäten die Möglichkeit haben, über solche Maßnahmen zu diskutieren und zu entscheiden. Derzeit basiert die Politik der Regierung auf Entscheidungen in Quito, das buen vivir lässt sich aber nicht von oben verordnen, es kann nur aus dem Dialog entstehen, in dem man sich zusammensetzt und entscheidet. Aber was hilft es, Medikamente in den Amazonas zu schicken, wo es doch eine ganze Reihe von Pflanzen und lokalen Mitteln zur Heilung spezifischer Krankheiten gibt?
Während der gesamten letzten Jahre hat es mehr Konfrontation als Kooperation zwischen einer der linken Regierungen des Kontinents und der CONAIE, einer der stärksten sozialen Bewegungen Lateinamerikas gegeben. Welches sind die Konfliktlinien im Rahmen der Realisierung des buen vivir?
Für uns ist die Konstruktion des buen vivir immer eine Infragestellung der Macht. Oft werden wir wegen der akuten Konflikte als Opposition zur Regierung von Rafael Correa gesehen, es geht der CONAIE aber um mehr. Wir kritisieren und hinterfragen die herrschenden Strukturen in Staat und Gesellschaft. So drehen sich viele Debatten und Konflikte um das dominante Wirtschaftsmodell, das die aktuelle Regierung mit ihrer Politik des Extraktivismus offensichtlich fördert. Eine Ausdehnung des Bergbaus und der ölproduktion geht aber auf Kosten der Natur und der indigenen Völker.
Offensichtlich mehren sich die Brüche innerhalb der Regierungsbewegung, die teils mit dem autoritären Stil des Präsidenten, teils aber auch mit seinem Entwicklungsmodell, das klassischen Vorlagen folgt und, wie du beschrieben hast, Kernelemente des Verfassungsgrundsatzes des buen vivir konterkariert. Die internen Friktionen haben zu einer Schwächung der Regierung und ihrer sozialen Basis geführt. Siehst du vor diesem Hintergrund eine Perspektive, die zu einer politischen und inhaltlichen Alternative jenseits der „Bürgerrevolution“ führen kann?
Unzweifelhaft gibt es eine Ernüchterung bei vielen sozialen Bewegungen, die Rafael Correa wegen seiner radikalen Rhetorik von einem profunden Wandel gefolgt waren, aber nun erkennen, dass den Worten praktisch keine Taten gefolgt sind. So gibt es Frustration und Distanzierung nicht nur bei den sozialen Bewegungen, sondern auch unter vielen Intellektuellen und unterschiedlichen politischen Organisationen. Es kommt nun nicht darauf an, nur den Präsidenten zu kritisieren, sondern vielmehr Vorschläge und Alternativen zu präsentieren.
So wird aktuell zwischen den Indígena- und Bauernorganisationen ein neues Gesetz zu Land und Territorien erarbeitet, das nicht nur Höchstgrenzen für den Landbesitz festlegen soll, sondern auch ein neuartiges Produktionsmodell, das die Orientierung auf die Agrarexporte überwinden muss. Hier geht es auch um eine Umverteilung des Reichtums. Ahnliche Debatten gibt es unter den Arbeiter- und Studentenorganisationen. Das nährt die Hoffung, mittel- und langfristig ein neues Entwicklungsmodell für Ecuador vorlegen zu können, das kohärent zu den Verfassungsgrundsätzen wie dem buen vivir und den Rechten der Natur ist.
Das buen vivir ist in aller Munde, eine neue Mode, in Deutschland gab es kürzlich einen großen Kongress dazu, an dem aus Ecuador Alberto Acosta teilnahm. Aber ist es wirklich ein Konzept für die Städte, wo inzwischen die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt, auch in Ecuador? Ist es tatsächlich möglich, das Konzept real jenseits der kollektiven, ländlichen Erfahrungen der indigenen Gemeinden, welche auch dein Ausgangspunkt der Definition des Konzepts waren, weiterzuentwickeln und mit Leben zu füllen?
Aber natürlich. Die Eingangsfrage bezog sich auf den Ursprung des Konzeptes. Und der liegt weder bei Acosta noch bei Correa, sondern eben in den ländlichen indigenen Gemeinden. Aber für uns ist das buen vivir kein Konzept nur für die Indigenen, im Gegenteil, es muss für alle Menschen gelten. Wie das Konzept heute diskutiert wird, ist es ein neues Konzept, ein zivilisatorisches Konzept für eine neue Menschengeneration. Zu was hat das traditionelle Entwicklungsmodell genutzt? Es ist ein auf Konsum und Individualismus ausgerichtetes Modell, das die Welt an den Rand des Kollapses geführt hat. Demgegenüber ist das buen vivir, das ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Aspekten des Menschseins und der Harmonie mit der Natur anstrebt, ein Modell für alle Menschen auf allen Kontinenten.
Wie interpretiert die CONAIE die Tendenz des Regimes, ehemalige Führungspersönlichkeiten der Indígenabewegung (wie Ricardo Ulcuango als neuer Botschafter in Bolivien oder wichtige Verbündete wie Kintto Lucas als stellvertretender Außenminister) in Regierungsfunktionen zu berufen: Zielt es darauf ab, die CONAIE zu spalten und zu schwächen, oder darauf, relevante Inhalte der Bewegung, mit der die Regierung zerstritten ist, in die Regierungspolitik zu übernehmen?
Das ist ganz klar, es zielt auf die Schwächung. Denn wenn die Regierung ein Interesse hätte, zentrale Themen der Indígenabewegung wie das buen vivir oder die Plurinationalität in ihre Politik einzuführen, wäre das Mindeste ein Dialog und die Suche nach dem Konsens gewesen. Doch der Präsident attackiert frontal die Indígenabwegung, kriminalisiert ihre Führer, dehnt den Bergbau und die ölförderung in unseren Territorien aus und hat zur gleichen Zeit einige ehemalige oder aktuelle Führungspersönlichkeiten für Positionen im Öffentlichen Dienst ausgewählt. Für uns stellt sich nicht die Frage, ob zwei, drei, vier oder sonst wie viele Indígenas in Regierungsposten sitzen, das ist zunächst einmal ihr gutes Recht. Für uns geht es darum, einen politischen Wandel zu erleben, und das tun wir nicht.