Das Lachen und Weinen Haitis

Eigentlich habe er gar keinen eigenen Verlag gründen wollen, schreibt Verlagsgründer und Übersetzer Peter Trier auf die Frage, wie es zur Gründung des litradukt-Verlages kam: „Am Anfang standen mein Interesse für Literaturübersetzung und ein kollektives Projekt für einen Verlag, der ‚schwarze’ frankophone Literatur herausbringen sollte. Im Rahmen dieses Projekts habe ich ein Buch aus Haiti übersetzt (Gary Victors „Blutchor“), ein Land, von dem ich damals kaum etwas wusste und zu dem ich auch keine persönliche Beziehung hatte. Wegen Meinungsverschiedenheiten mit den anderen Gesellschaftern bin ich später aus dem gemeinsamen Projekt ausgestiegen und habe dabei den „Blutchor“ ‚geerbt’. Durch dieses Buch war ich inzwischen auf andere haitianische Autoren aufmerksam geworden. Da ich keine Chance sah, meine Übersetzung bei einem bestehenden Verlag unterzubringen, habe ich selbst einen Verlag gegründet.“

Für die deutschen LeserInnen und die Wahrnehmung haitianischer Literatur in Deutschland war diese Entscheidung zweifellos ein Glücksfall, denn Peter Trier hat ausgesprochene literarische Schätze entdeckt und übersetzt. Wobei die Beschränkung auf Literatur aus Haiti nicht Programm sein soll. litradukt möchte Literatur aus dem frankophonen Afrika und der Karibik veröffentlichen. In diesem Verständnis hat er neben den Büchern der drei haitianischen Autoren auch den Titel „Schädelernte“ des aus Djibouti stammenden, im deutschsprachigem Raum durch „In den Vereinigten Staaten von Afrika“ (Edition Nautilus) bekannt gewordenen Abdourahman A. Waberi herausgebracht, eine Auseinandersetzung mit dem Völkermord in Ruanda.

Wo ein Verlag auf eine so kurze Geschichte wie litradukt zurückblickt, kann nur die von ihm herausgegebene Literatur selbst als Aushängeschild gelten und vermitteln, wohin die Reise künftig literarisch gehen soll. Wer sich beeilt, kann noch das gesamte Verlagsprogramm in einem absehbaren Zeitraum bewältigen. Und zwar mit Genuss. 

Gleich drei Romane von Louis-Philippe Dalembert hat der Verlag seit 2007 vorgelegt. Drei Titel, die ein beredtes Zeugnis von der literarischen Stärke und der thematischen Vielfalt des 1962 geborenen Autors vermitteln.

In „Gottes Bleistift hat keinen Radiergummi“, dem 1996 im französischen Original erschienenen ersten Roman Dalemberts, beschreibt der im Ausland lebende Ich-Erzähler einen Besuch in Salbounda (Haiti) auf den Spuren seiner Kindheit. Er hat keine Angehörigen mehr in dem Land, seine Eltern starben, als er noch ein Säugling war, die Großmutter, bei der er aufwuchs, lebt nicht mehr. So hofft er, wenigstens den Schuhputzer Faustin, der eine Art Ersatzvater für ihn war, wiederzufinden. Doch in der Straße im Hafenviertel von Port-aux-Crasses (Port-au-Prince – „crasse“ bedeutet Dreck), in der er seine frühe Kindheit verbrachte, trifft er keine bekannten Gesichter, und niemand der aktuell dort Lebenden kann sich an einen Schuhputzer namens Faustin erinnern. Auch ein vager Hinweis auf einen Alten weit außerhalb der Stadt, der möglicherweise etwas wissen könnte, hilft ihm nicht weiter, denn als er das besagte Dorf erreicht, wird der Greis gerade beerdigt. Er beschließt, die Suche nach seinen Wurzeln aufzugeben und die Tage bis zu seinem Rückflug in seinem Hotelzimmer zu verbringen. Und dort findet er in seinen Träumen und Erinnerungen, was er auf der Straße vergeblich gesucht hat, seine verlorene Kindheit. Er denkt zurück an seine ebenso resolute wie großmütige Großmutter mit dem Spitznamen Pont-d’Avignon und all die anderen, die die Straße am Tage und vor allem nach Einbruch der Dunkelheit bevölkerten: ambulante Händ-lerInnen, großmäulige Schuhputzer, obdachlose TagelöhnerInnen, Trunkenbolde. Sie bildeten den Mikrokosmos seiner Kindheit, bestimmten seine Sicht der Welt. Auch Faustin kehrt in der Phantasie zurück, der Erzähler beginnt dessen Biographie zu imaginieren – wie er als Jungvermählter aus seinem Dorf in die Stadt kam, dort verzweifelt versuchte, Fuß zu fassen, wie seine schwangere Frau ins Dorf zurückkehrte, er aber aus Scham in der Stadt blieb, schließlich als versoffener Schuhputzer im Hafenviertel strandete und weiter davon träumte, es doch noch zu schaffen und seine Frau und Tochter in die Stadt zu holen.
Auch wenn er die Welt mit den großen staunenden Augen des kleinen Jungen erzählt, für den die Typen aus dem Hafenviertel keine verelendeten Obdachlosen waren, sondern die Helden seiner Wirklichkeit, hat die Darstellung nichts Idyllisches. Gewalt ist allgegenwärtig, die Repression des Duvalier-Regimes entgeht auch dem Kind nicht, die Erschießung von Aufständischen, bei der selbst die GrundschülerInnen der Hauptstadt mit ihren LehrerInnen erscheinen müssen, wird zu einem traumatischen Erlebnis. Aber trotz allem erinnert sich der Erzähler mit großer Wehmut an seine ersten Lebensjahre in Port-aux-Crasses und vermittelt dies auch den LeserInnen. In wohl keiner anderen Region werden so viele faszinierende Romane über die verlorene Welt der Kindheit geschrieben wie in der englisch- und französischsprachigen Karibik. „Gottes Bleistift hat keinen Radiergummi“ ist einer der schönsten.

In „Jenseits der See“, dem zweiten Roman Dalemberts, geht es um Migration – gewaltsam erzwungene oder (vermeintlich) freiwillige. Seit im 16. Jahrhundert die ersten Schwarzen aus Westafrika deportiert und zur Zwangsarbeit auf die Insel Hispaniola verfrachtet wurden (heute beherbergt diese Insel Haiti und die Dominikanische Republik), sind die HaitianerInnen ein Volk von MigrantInnen. Der gewaltsamen Verschleppung und Versklavung folgte im frühen 20. Jahrhundert die Migration in die wohlhabendere Dominikanische Republik. Dort wurden die EinwanderInnen aus Haiti jedoch nicht nur rassistisch diskriminiert, sondern auch Opfer brutaler Pogrome. 1938 wurden mehr als 30 000 HaitianerInnen ermordet – alle, denen die erneute Migration, in diesem Fall die rechtzeitige Rückkehr nach Haiti, nicht gelang. In den fünfziger und sechziger Jahre flohen haitianische Oppositionelle zu Tausenden vor dem Terrorregime des Diktators Francois Duvalier (Papa Doc) und später dem seines Sohnes Jean-Claude Duvalier (Baby Doc). Auch nach dem Ende der Familiendiktatur haben sich die Lebensbedingungen wegen anhaltender politischer und ökonomischer Krisen nicht verbessert, so dass vor allem die jüngeren HaitianerInnen die einzige Perspektive für ein besseres Leben in der Migration, vorwiegend in die USA, aber auch nach Kanada und Europa, sehen.

Im ersten und letzten der drei Oberkapitel von „Jenseits der See“ erzählen die Großmutter Grannie und der Enkel Jonas die Geschichte ihrer Familie, etwa seit dem Jahr 1937. Damals entschied Grannies Vater, mit seiner Familie auf die andere Seite des Gebirges (in die Dominikanische Republik) zu gehen. Die elenden Arbeits- und Lebensbedingungen auf den Zuckerrohrplantagen des Nachbarlandes, wo sogar die Kinder auf den Feldern mitarbeiten müssen, um das Überleben der Familie zu sichern, führen schnell zur Desillusionierung. Doch bevor sich die Familie Gedanken über die Zukunft machen kann, beginnen die Massaker. Wie Tausende andere fliehen sie Hals über Kopf in Richtung Haiti. Bei der Flucht verlieren sie den ältesten Sohn, ein weiterer wird verletzt, so dass später sein Bein amputiert werden muss. Mit Hilfe einiger solidarischer DominikanerInnen und organisierter Landsleute erreichen sie schließlich unter dramatischen Bedingungen die haitianische Grenze.

Zurück in Haiti geht es ihnen zunächst ganz gut, doch im Laufe der Zeit wird die Duvalier-Diktatur immer unerträglicher. Immer mehr Leute verlassen das Land, obwohl die Ausreise ein gefährliches Unterfangen ist. Die Häscher des Regimes jagen alle, die ihr Weggehen vorbereiten. Wer dann doch einen Platz auf einem der kaum seetüchtigen Boote findet, der/dem steht eine dramatische Überfahrt bevor, die die meisten nicht überleben. Das Weggehen so vieler zerreißt Familien und Beziehungen. Grannie verfolgt den Exodus ihrer Verwandten und Nachbarn voller Trauer. Jonas fällt in tiefe Verzweiflung, weil auch seine große Liebe Maite Haiti in Richtung USA verlässt. Er selbst wird Lehrer und will im Land bleiben, auch wenn er seine Hoffnungen auf eine positive Entwicklung längst verloren hat.

Neben den Berichten der Großmutter Grannie und ihres Enkels Jonas hat das Buch noch zwei weitere Ebenen. Im vergleichsweise kurzen Mittelkapitel schildert ein Erzähler einen Tag im Leben des erwachsenen Jonas im Port-au-Prince der Jetztzeit, das von Gewalt und Verzweiflung geprägt ist.
Zudem wird in Einschüben, die das gesamte Buch durchziehen, ohne Punkt und Komma die Überfahrt eines Sklavenschiffes von Afrika nach Saint Domingue geschildert, eine Lektüre, die wegen der beschriebenen Qualen nur schwer zu ertragen ist, die aber klarmacht, wo die Ursachen der Gewalt liegen, die die haitianische Gesellschaft bis heute prägt. „Jenseits der See“ verlangt den LeserInnen einiges ab. Aber es lohnt sich!

Die enorme Vielfältigkeit Louis Philippe Dalemberts zeigt sich auch in seinem dritten Roman, „Die Insel am Ende der Träume“, mit dem der Autor auch sein Können als Abenteuer- oder Kriminalschriftsteller beweist. Der Ich-Erzähler wird in einer Hotelbar in Santiago de Cuba von einem Spanier angesprochen. Dieser schlägt ihm vor, sich an einer Schatzsuche zu beteiligen. Er habe bei einer Archivarbeit Dokumente und einen Plan gefunden. Aus ihnen gehe hervor, dass Pauline Bonaparte, die jüngste Schwester Napoleons, Anfang des 19. Jahrhunderts auf der zu Haiti gehörenden Insel „La Tortue“ eine größere Summe Goldmünzen gebunkert habe. Pauline sei die Ehefrau eines napoleonischen Generals gewesen, der zu dem französischen Expeditionscorps gehörte, das gegen die haitianischen Revolutionäre kämpfte, um das Land wieder zur französischen Kolonie zu machen und die Sklaverei wiedereinzuführen. 

Der Ich-Erzähler, der vom Überführen luxuriöser Yachten lebt und gerade eine von ihnen von Italien nach Cuba gebracht hat, willigt nach einigen Überlegungen ein, beteiligt sich an dem seltsamen Projekt des Spaniers und investiert das Honorar seines letzten Jobs. So chartern die beiden ein Boot und begeben sich unter einigen Schwierigkeiten nach „La Tortue“. Die Suche gestaltet sich dort als schwierig, weil die Angaben auf der Karte sehr ungenau sind. Zudem kommen dem Erzähler immer mehr Zweifel am Ziel und der Motivation des Spaniers: Geht es ihm überhaupt darum, den Schatz zu bergen, oder ist er aus ganz anderen Gründen auf die Insel gekommen? Und wer sind die spanischen Geschäftsleute, die sich auf „La Tortue“ herumtreiben, angeblich um die Möglichkeiten zur Errichtung einer Hotelanlage zu überprüfen? Die Antwort auf diese Fragen kann hier nicht gegeben werden, genauso wenig wie der Fortgang der Geschichte skizziert werden kann – schließlich handelt es sich um einen Krimi. Aber einen, der nicht nur spannende Unterhaltung liefern will, sondern auch Reflexion, in diesem Fall über politisches Handeln, dessen Antriebe und Motivationen.

So unterschiedlich die drei Romane auch sein mögen, sie haben doch auch Gemeinsamkeiten. Immer arbeitet sich der Erzähler an Haiti und der Karibik ab. Er kann dort nicht leben, er kommt aber auch nicht davon los. Immer wieder stellt er die Frage, woher er kommt, wohin er gehört und ob man überhaupt irgendwo hingehört. Dieses Thema spiegelt sich auch in der Biographie des Autors wider. Louis-Philippe Dalembert wurde 1962 in Port-au-Prince geboren. Nach dem Tod seines Vaters wuchs er überwiegend bei seiner Großmutter auf, verließ 1986 Haiti, setzte sein Studium in Frankreich fort und promovierte über den großen cubanisch-französischen Autor Alejo Carpentier. Seitdem lebt er als Autor und „Vagabund“ – wie er sich selbst bezeichnet – zwischen Paris, Rom, Port-au-Prince, dem Nahen Osten, Afrika und den Amerikas.

Dalembert ist ein großartiger Erzähler, der seine Themen in packenden Geschichten verarbeitet. Er will die LeserInnen nicht schockieren, Gewaltdarstellungen, vor allem in „Jenseits der See“, sind kein Selbstzweck, sondern Ausdruck der brutalen Realität, mit der die HaitianerInnen konfrontiert sind. Für mich ist Dalembert die literarische Entdeckung der letzten Jahre. Ich empfand „Jenseits der See“ als das stärkste der bislang übersetzten Bücher. Wer sich für den Autor interessiert, sollte damit aber nicht unbedingt anfangen. Als Einstieg würde ich „Gottes Bleistift hat keinen Radiergummi“ empfehlen.

Einen ganz anderen Stil als Louis-Philippe Dalembert pflegt der 1958 geborene Gary Victor, von dem im litradukt-Verlag der Erzählungenband „Der Blutchor“ erschienen ist. Wäre Victor kein Haitianer, sondern ein alter britischer Herr, würden die meisten seiner Erzählungen das Etikett „skurril“ tragen. Etwa die von dem hohen Regierungsbeamten, dem urplötzlich ein Schwanz wächst. Oder die über den seiner Ehefrau überdrüssigen, wohlhabenden Bürger, dessen Schäferhund eines Nachmittags mit einer menschlichen Hand im Maul vom Nachbargrundstück kommt. Dann natürlich die über die Verwandlung eines US-amerikanischen Besatzungsoffiziers, der sich – für ihn fatalerweise – mit einem Voodoo-Priester angelegt hatte.

Doch diese satirische Überzeichnung kennzeichnet nicht alle Texte des Buches. Die drei längsten Erzählungen sprechen eine ganz andere Sprache. Da ist zunächst die Titelerzählung „Der Blutchor“, in der ein erwachsener Mann berichtet, wie und warum er als Junge seinen schlafenden Vater mit einem Hammer erschlagen hat, eine Tat, die damals einem Einbrecher zugeschrieben wurde. In „Elias und der Mann mit den großen Hörnern“ beschreibt der Ich-Erzähler einen verstörenden Traum, in dem ihm ein Nachbarsjunge ein Papier mit einer Kombination von Zahlen übergibt. Mit diesen Zahlen spielt der Mann Lotto und erzielt den Hauptgewinn. Doch dann taucht der Nachbarsjunge auf und verlangt die Herausgabe des jüngsten Sohnes des Mannes. Man habe doch im Traum ein Abkommen geschlossen, die Lottozahlen gegen das Leben des Babys. Der Mann gerät in Panik, weil er ahnt, dass etwas Furchtbares geschehen wird. Die Schlusserzählung „Der Programmierer“ ist das Tagebuch eines Drogensüchtigen, der sich in Montreal das Leben genommen hat. Er schildert darin seine immer bedrängenderen Halluzinationen und seine verzweifelten Versuche, den Programmierer, der all diese Bedrohungen und Angriffe programmiert habe, zu finden und auszuschalten.

Victors Erzählungen sind beunruhigend. Das gilt sowohl für die eher lustig-skurrilen als auch erst recht für die, in denen der Schrecken von Anfang an spürbar ist. Sie zeigen seelische Abgründe hinter den Fassaden von Wohlanständigkeit und geordneten Verhältnissen. Anders als bei Dalembert, wo die Gewalt von außen in das Leben der ProtagonistInnen tritt, ist sie bei Victor eine Konstante im menschlichen Zusammenleben.

Der dritte haitianische Autor des litradukt-Verlages ist Georges Anglade. In der ila 317 hatte ich bereits dessen brillante Politsatire „Und wenn Haiti den USA den Krieg erklärte“ besprochen. Der 1944 geborene, heute in Montreal lebende und lehrende Anglade bedient sich in seiner Literatur der traditionellen lodyans, kurzen – ursprünglich mündlichen – Erzählungen, die sich über Phänome des Alltags und die Mächtigen lustig machen. In „Und wenn Haiti den USA den Krieg erklärte“ hat er 15 lodyans zu einer zusammenhängenden Handlung kombiniert. Mitte Dezember veröffentlicht der litradukt-Verlag unter dem Titel „Das Lachen Haitis“ eine Sammlung von 90 lodyans Georges Anglades, die sich, so die Ankündigung, „zu einem Mosaik Haitis vereint, das die haitianische Provinz, die Hauptstadt und das Milieu der Auslandshaitianer umfasst.“ Für den vorliegenden Beitrag kommt das Buch leider etwas zu spät, die beiden daraus auf der Website www.litradukt.de als Leseproben veröffentlichten Texte „Grabinschrift für eine alte Jungfer“ und „Das Liebesgericht“ machen jedenfalls Lust auf mehr.

Angesichts dieses ambitionierten Programms bleibt zu hoffen, dass sich der litradukt-Verlag auf dem Buchmarkt behaupten kann und den LeserInnen in den nächsten Jahren weitere literarische Entdeckungen präsentieren wird.