Feminismen und Feminist*innen in der Diaspora“ – Was hast du als erstes gedacht, als ich dir die Interviewanfrage für diese ila geschickt habe?

An die feministischen Praktiken von Migrant*innen in Deutschland, daran, wie unsere Erfahrungen als Lateinamerikanerinnen die Weise beeinflussen, wie wir über unsere Herkunftsländer und unsere aktuellen Wohnorte denken. Und an die vielen Arten, wie wir an der sozialen Transformation spinnen.

Du hast in deiner Masterarbeit zu Organisationen von lateinamerikanischen Migrantinnen in Deutschland geforscht. Was hat dein Interesse daran geweckt?

Ich habe Nichtregierungsorganisationen (NRO) und auch einige selbstständige Coaches beforscht, die lateinamerikanische Migrantinnen in Berlin in den Arbeitsmarkt integrieren wollen. In Lateinamerika, vor allem in Kolumbien, habe ich eine „Professionalisierung“ oder „Bürokratisierung“ von feministischen Organisationen und Initiativen erlebt. Die sind jetzt abhängig von externer Finanzierung und kümmern sich nicht mehr um den freiwilligen und autonomen feministischen Aktivismus auf den Straßen. Dort habe ich auch einiges über die autonome feministische Bewegung in Lateinamerika gelernt, die seit der UN-Frauenkonferenz in Peking in den 90ern die Logiken der NROisierung der feministischen Bewegung kritisiert und ihre fiesen Konsequenzen aufzeigt.

Als ich nach Berlin kam, habe ich festgestellt, dass es hier auch NRO gibt, die mit lateinamerikanischen Frauen arbeiten. Ihre Webseiten haben mich hellhörig gemacht, denn ich habe viele der vom autonomen und anderen Feminismen kritisierten Dynamiken wiederentdeckt. Auffällig fand ich zum Beispiel, dass alle untersuchten NRO und Coaches im Bereich Arbeitsmarktintegration nur mit qualifizierten Frauen arbeiten. So wird Klassismus reproduziert und der Arbeitsmarkt nicht hinterfragt, sondern idealisiert. Sie spielen der Logik der „Ausländerintegration“ der deutschen Bundesregierung in die Hände und ergänzen sie lediglich um die „Genderperspektive“. Hier geht es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ihr Konzept von Empowerment konzentriert sich ausschließlich aufs Individuum.

Ich fand es wichtig zu zeigen, warum und auf welche Weise diese NRO der Agenda des sogenannten Gender-Mainstreaming folgen müssen, wenn sie weiterhin Finanzierung erhalten wollen (vor allem von der Stadt Berlin und der EU).

Das war keine einfache Forschung, und in vielen Fällen war meine Kritik nicht besonders willkommen. Immerhin war ein Ziel der Forschung, die auf der Arbeit der feministischen Soziologin Jules Falquet aufbaut, das lächelnde Gesicht des Neoliberalismus mit Genderperspektive zu enttarnen. Dieser will nichts anderes, als „auf nette Art und Weise“ qualifizierte Lateinamerikanerinnen, vor allem weiße und mestizische, in die neoliberale Globalisierung zu integrieren. Leider idealisieren viele Leute diese Organisationen und ihre Agenden und meinen, sie seien eine Errungenschaft für Migrantinnen in Deutschland.

Welche Arbeit machen diese Organisationen konkret, oder welche Dienstleistungen bieten sie?

Interessant, wie du die Frage stellst, denn tatsächlich bieten sie „Dienstleistungen“ an. Die Arbeit beruht auf einer Beziehung zwischen Expertin und Kundin, in der die Expertin ein Gehalt bekommt. Sie bieten psychologische sowie Migrations- und Familienberatung an, Deutschkurse, interkulturelle Trainings und Arbeitsmarktintegrationsmaßnahmen für qualifizierte Frauen.

Diese Organisationen haben zunächst das Ziel, anderen Migrantinnen zu helfen. Was genau kritisierst du daran?

Im Gegensatz zu sozialen Bewegungen wie den Black Panthers oder der lateinamerikanischen Befreiungstheologie geht es ihnen nicht um Bewusstseinsbildung, die eine kollektive politische Aktion der Unterdrückten anstoßen und zur sozialen Transformation führen kann.

Bei diesem Empowerment, das ich kritisiere, geht es darum, auf individueller Ebene das Selbstbewusstsein zu stärken, um qualifizierte Frauen zu aktivieren, damit sie sich in den Arbeitsmarkt integrieren oder sogar Machtpositionen in Politik und Wirtschaft erlangen. Hier wird das Gesellschaftsmodell, in dem wir leben, nicht in Frage gestellt, geschweige denn die wirtschaftliche und politische Macht herausgefordert, die viele Menschen – nicht nur Frauen – ausbeutet, ausgrenzt und misshandelt. In dieser Logik wäre eine „empowerte“ Gesellschaft eine, in der die Geschäftsführerin des Waffenunternehmens eine Frau ist. Das ist eine irreführende Logik. Es gibt schon heute Hierarchien zwischen Frauen, nämlich anhand von Differenzen wie Herkunft, Hautfarbe, Klasse oder körperliche Verfassung. Diese Hierarchien werden naturalisiert und verfestigt. Damit einige wenige Frauen wirtschaftliche Macht erlangen, müssen viele andere ausgebeutet werden. Grundsätzlich kann das neoliberale Empowerment nicht vom Geist der Eroberung der westlich-kapitalistischen Gesellschaft getrennt werden. Sein Ziel ist es, die Natur und einen Großteil der Menschheit seinem Willen zu unterwerfen.

Diese verinnerlichten Logiken des Individualismus und der Konkurrenz nennst du „neoliberale Subjektivität“. Woher kommt sie, und warum verfängt sie so sehr bei Migrantinnen?

Individualismus und Konkurrenz gab es schon vor der Durchsetzung des Neoliberalismus. Sie gehören zur eurozentrischen Modernität und wurden zu Grundpfeilern des im 15. Jahrhundert beginnenden Kapitalismus. Mit der Untersuchung versuche ich zu zeigen, mit welchen neuen Logiken und Diskursen Individualismus und Konkurrenz im Neoliberalismus gefördert werden. Ich glaube, es gibt viele Gründe, warum die neoliberale Subjektivität bei migrantischen Frauen so verfängt. Einer ist, weil diese Logiken zum „lächelnden Gesicht“ des Neoliberalismus gehören, das ich vorhin erwähnte. Es geht um Konsens, Aktivierung, Verführung. Qualifizierte Migrantinnen sollen glauben, dass sie dafür belohnt werden, wenn sie individualistisch und konkurrierend handeln. Es gilt als Beweis dafür, dass Frauen und Migrant*innen allgemein an Macht gewinnen – obwohl die, die es „schaffen“, in Wahrheit sehr wenige sind.

Ich glaube auch, dass ein Großteil der Frauen, die diese Logiken idealisieren, keine anderen Lebensweisen, Kosmovisionen oder Formen der sozialen und politischen Organisierung kennen, die nicht auf der Logik des freien Marktes beruhen, sondern wo Freiheit vor allem eine kollektive ist. Wie etwa bei den Zapatistas, die Teil der Maya-Bevölkerung in Mexiko sind.

Wie sieht denn deiner Meinung nach der Weg zur Befreiung aus?

Ich denke, dass es nicht den einen Weg gibt. Aber es hat sehr wohl Vorschläge und Alternativen zur hegemonialen kapitalistischen Gesellschaft gegeben, sowohl im Laufe der Geschichte als auch heute. Im letzten Kapitel der Masterarbeit stelle ich Beiträge von Organisationen und Kosmovisionen vor, die heutzutage existieren, zum Beispiel die Kosmovision des Buen Vivir, die Initiative Respect Berlin und die zapatistische Bewegung. Letztere war letztes Jahr auf Europareise, um sich mit Kollektiven auszutauschen, die Widerstand leisten gegen den neoliberalen, rassistischen und patriarchalen Kapitalismus (siehe auch die ila 450).

Für meine Masterarbeit war eine wichtige Frage, wie Arbeit innerhalb der neoliberalen Hegemonie verstanden wird. Ich möchte kurz erzählen, wie im Zapatismus Arbeit verstanden wird, dafür beziehe ich mich auf das Zine „In ihrer eigenen Sprache. Bats’i’k’op Zapatista“. Erstens ist wichtig zu verstehen, dass Arbeit von Anfang an eine wichtige Säule des Zapatismus war. Das heißt aber nicht, dass sie gegen Bezahlung arbeiten wollen. Sie kämpfen für das Recht auf Arbeit, aber für das Wohlergehen ihrer Gemeinden, in der Art und Weise, die sie selbst bestimmen.

Auf Bats’i’k’op gibt es drei Begriffe für „Arbeit“, aber mit unterschiedlichen Bedeutungen:

1. A’mtel: Das ist die wahre Arbeit, die du für dich selbst, deine Familie und deine Gemeinde machst. Es gibt keinen Boss. Wer A’mtel macht, ist frei, denn sie oder er bestimmt selbst über ihre Zeit. Man hört auf, wenn der eigene Körper es braucht. Wenn alle zur gleichen Zeit mit der Arbeit beginnen, hören alle zu unterschiedlichen Zeiten damit auf und werden dafür respektiert.

2. Pak’ak’al: Das ist der tägliche Austausch. In einer Gemeinde kennen und respektieren sich alle. Wenn man jemanden um Hilfe bittet, wird diese Person helfen, und später gibt man die Hilfe zurück.

3. Kanal: Sie wurde durch die Kolonisierung eingeführt und meint explizit Ausbeutung. Es ist diese Art der Arbeit, in die sich lateinamerikanische Frauen, die die untersuchten Kurse besuchen, versuchen zu integrieren. Es ist die Art der Arbeit, die du täglich machst, aber nicht für dich, deine Familie oder deine Gemeinde, sondern für einen Boss. In Bats’i’k’op wird diese Art der Arbeit wie eine Beziehung der Sklaverei verstanden. Wenn sie in die Stadt gehen, um Arbeit zu suchen, sagen sie „chibat ta kanal“: Ich werde ausgebeutet werden.

Durch diese Unterscheidung der drei Bedeutungen von Arbeit wird deutlich, dass die Zapatistas klar zwischen kapitalistischer Ausbeutung und gemeindeorientierter Produktivität unterscheiden. Der Aufbau der Autonomie basiert auf A’mtel, das alle Arbeiten im zapatistischen Territorium beinhaltet, von den Räten der Guten Regierung bis zu den Gesundheitspromotor*innen in den autonomen Kliniken, den Kollektiven der Kaffeeproduzent*innen, den Bildungspromotor*innen usw. Niemand bekommt für ihren oder seinen A’mtel einen Lohn, vielmehr unterstützen sich alle gegenseitig in den Familien und Gemeinden, um die verschiedenen kollektiven Arbeiten zu ermöglichen. Wenn zum Beispiel ein Zapatista im Rat der Guten Regierung arbeitet, wird er während dieser Zeit von seiner Gemeinde mit Lebensmitteln versorgt. Die Gemeinde unterstützt die Familie des Compañero bei der Ernte und dem A’mtel der Familie.

Wie siehst du die Zukunft des Feminismus in der Diaspora: Wird es überhaupt so etwas geben wie einen spezifischen Diaspora-Feminismus, der sich von anderen Feminismen abgrenzt? Welche Kämpfe gilt es zu führen? Welche Hindernisse zu überwinden? Und was gilt es zu gewinnen?

Ich glaube, dass es verschiedene Feminismen gibt und geben wird, und auch antipatriarchale Praktiken, die sich nicht explizit feministisch nennen. Es gibt unterschiedliche Kämpfe, je nach Kontext und Lebenserfahrungen. Manche organisieren sich, um legalisiert zu werden, für bessere Arbeitsbedingungen in der reproduktiven Arbeit, für das Recht auf Abtreibung, gegen sexualisierte Gewalt. Ich denke, in einer Zeit, die von Vertreibung und Privatisierung geprägt ist, sind Kämpfe um Gemeingüter wichtig. Durch die Pandemie wurde die reproduktive Krise, in der die Menschheit steckt, sichtbar und verschärft. Vor allem Frauen und Queers werden für diese Arbeit zuständig gemacht. Auch das ist ein zentraler Kampf.

Es gibt diverse Hindernisse. Eines ist die immer stärker werdende Repression, ein weiteres die Isolierung der unterschiedlichen Kämpfe. Oft interessieren sich nur die direkt Betroffenen für ein bestimmtes Thema. Ein Beispiel ist der Kampf um die Legalisierung von Menschen ohne Papiere. Hier braucht es mehr Bewusstsein und Sensibilität, damit sich auch Menschen mit legalem Aufenthaltsstatus oder Staatsbürger*innenschaft diesen Kämpfen anschließen. Ich finde, dass Identitätspolitiken im neoliberalen Stil den kollektiven Kämpfen geschadet haben, weil man davon ausgeht, dass es nur darum geht, eine Reihe von Verbesserungen innerhalb des Kapitalismus zu erreichen. Es führt auch zu einer Konfrontation zwischen Gruppen, etwa Frauen gegen Männer, wobei letztere als zu bekämpfende Feinde angesehen werden. In dieser Logik wird die enge Verbindung zwischen Patriarchat, Kapitalismus und Rassismus unsichtbar. Dabei können wir nur im Kampf gegen all diese Verhältnisse frei werden.