Das lange Warten

Als Daniel seine Nachbarin Vera Sigall bewusstlos in ihrem Haus vorfindet, ist er sicher: Dies konnte kein Unfall gewesen sein. Der talentierte, aber erfolglose Architekt kannte die „Vitalität“ und „Trittfestigkeit“ der Schriftstellerin zu gut! Nie wäre sie, ohne fremdes Zutun, die Treppe hinuntergestürzt – auch trotz fortgeschrittenen Alters!

Daniel ist mit Gracia verheiratet, einer pragmatischen und dynamischen Frau, die es zur angesehenen Nachrichtensprecherin gebracht hat. Dem nachdenklichen und eher passiven Architekten hingegen gelingt es nicht, in der Welt der großen Architekten Fuß zu fassen. Die Freundschaft zu Vera Sigall hat ihn mit der Zeit von der Lebensweise entfernt, die alle künstlerischen Ambitionen ausschließt. Nun liegt sie im künstlichen Koma. „… du hast mich auf halber Strecke allein gelassen, Vera, hast mich deiner Worte und deines ruhigen Schweigens beraubt, der Welt, die wir teilten und in die ich ohne dich nicht zurückfinde.“ Daniel verbringt viele Stunden an ihrem Krankenbett, redet zu ihr, während bei ihm zu Hause der Graben zu seiner Frau immer tiefer wird.

Inmitten dieser Gefühlsturbulenzen taucht Emilia auf. Eine junge und introvertierte Französin, die nach Santiago de Chile gekommen ist, um über Vera Sigall zu recherchieren. Als sie von dem Unglück erfährt, geht auch sie fast täglich ins Krankenhaus. Emilia fühlt sich auf sonderbare Weise zu Veras Literatur hingezogen. „Meine ursprüngliche Idee, die in ihren Texten verborgenen Sternkonstellationen aufzuspüren, kam mir inzwischen ungenügend vor. Da war noch so viel mehr. Aber welchem Weg musste ich folgen?“

Der Dichter Horacio Infante ist die dritte Stimme, die sich in das Erzählduo Daniel/Emilia einschaltet. Er hatte Emilia vor einiger Zeit auf das Werk der legendären Autorin aufmerksam gemacht. Das war in Frankreich. Bei einer Buchvorstellung. Der alternde Poet schreibt eine Email an Emilia. Er berichtet ihr über Vera als Schriftstellerin und über seine Liebesbeziehung zu ihr. Es erschließen sich Geschichten, die in die 1950er-Jahre zurückgehen. Sie handeln auch von Schicksalen, die von der Ukraine bis nach Chile führen, von der Diktatur Augusto Pinochets und von dem unter der chilenischen Bourgeoisie anzutreffenden Antisemitismus.

Während in ihrem vorherigen Roman „Nackt schwimmen“ (dt. 2012) die zeitgenössische Historie Chiles zentrales Thema war, stellt diese in „Stumme Herzen“ zwar den zeitlichen Rahmen, indes steht das Innenleben der Figuren deutlich im Mittelpunkt, inbegriffen das der abwesenden Protagonistin. Wer war Vera Sigall? In welchem Zusammenhang stehen die so verschiedenen Figuren zueinander? Was ist es, das Vera, Emilia und Gracia miteinander teilen und von ihren Partnern trennt? Wer ist verantwortlich für Veras Unfall? Unter dem sich nie erschöpfenden Thema der Liebe spielen Aspekte wie Kommunikationsunfähigkeit, emotionale Abhängigkeiten, Talent, Versagen und Lüge eine entscheidende Rolle. Über Vera, Horacio und Emilia wird Literatur zu einem weiteren spannenden Thema und von verschiedenen Seiten beleuchtet: wie viel Lüge, Selbstbetrug und Neid hinter den Autoren stecken kann, einerseits; wie viel in ihr an Wahrheiten verborgen sein kann, andererseits.

„Stumme Herzen“ zeichnet eine Vielzahl von Themen und eine transparente, teils poetische Sprache aus. Der Rhythmus ähnelt dem eines Boleros: gemäßigte Tempi mit einem kriminalistischen Unterton, der in kurzen Dissonanzen mitschwingt. Die drei sich kapitelweise abwechselnden narrativen Stimmen machen den Roman lebhafter und zeigen, wie relativ Wahrheit sein kann. 

Dass die aus der Ukraine stammende brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector für Vera Sigall Patin stand, stellt das Werk in einen besonderen literarischen und historischen Kontext. „Die Prosa von Lispector ist dunkel und unverständlich, sobald man sich aber Zutritt zu ihr verschafft, gewährt sie dem Leser viele Blicke auf das Leben und auf einen selbst […]. Die Herkunft und Lebenswege der Familie Lispector und jene meiner eigenen Familie“ sind die gleichen: „Beide jüdischer Herkunft, mussten sie aus Rassegründen Anfang des 20. Jahrhunderts aus der Ukraine fliehen“, sagte Carla Guelfenbein in einem Interview 2015 anlässlich der Publikation des Romans. Geschickt verknüpft Guelfenbein autobiografische Bezüge, reale Begebenheiten und Fiktion miteinander. 1959 in Santiago de Chile geboren, ging sie drei Jahre nach dem Militärputsch von Pinochet mit ihren Eltern ins Exil nach England.

Die Autorin erhielt 2015 für Contigo en la distancia – so der auf den gleichnamigen kubanischen Bolero zurückgehende Originaltitel – den mit 175000 Dollar dotierten Literaturpreis des spanischen Verlags Alfaguara. Seit 1986 lebt Carla Guelfenbein als Schriftstellerin und Drehbuchautorin wieder in ihrer Heimat. „Stumme Herzen“ ist der fünfte Roman, der von ihr in deutscher Sprache vorliegt.