Sie hätte als wohlbehütete Tochter irgendwann heiraten und ein „normales“ Leben führen können. Aufgewachsen war sie in der Textilstadt Elberfeld (heute Wuppertal) in einem bürgerlich-liberalen Milieu, ging aufs Gymnasium, absolvierte zwei Jahre ihrer Schulzeit in London , machte Abitur, spielte Klavier. Aber die Mutter ließ der knapp 20-jährigen Grete ihren Willen, als diese sich 1923 lieber in der Kunstgewerbeschule in Stuttgart anmelden wollte, um dort Graphik und Design zu studieren. Mit einem Diplom in der Tasche kehrte sie zwei Jahre später zurück, übernahm Arbeiten im Bereich der Werbegraphik und experimentierte mit Zeichnen.

Eine Fotoausstellung von Edward Weston und Paul Outerbridge brachte sie dann endgültig auf den eigenen Weg. Sie begeisterte sich sofort für das junge Medium der Fotografie. Das war ihr Ding. Grete Stern reiste 1927 nach Berlin – dorthin, wo es in jenen Jahren politisch und künstlerisch-avantgardistisch geradezu brodelte. Sie mietete sich eine kleine Wohnung und machte sich auf die Suche nach einem Lehrer. Über ihren Bruder Walter, Filmcutter, kam sie an den bekannten Fotografen Otto Umbher („Umbo“) und über diesen an Walter Peterhans, Fotograf und Mathematiker. Dessen Grundsatz des „fotografischen Sehens“ – das Auge entscheidet zunächst, und danach nimmt die Kamera nur noch auf – wird für Grete Stern zeitlebens prägend sein. Ein Jahr später, 1928, nahm Peterhans eine weitere Schülerin an, Ellen Rosenberg. Die beiden jungen Frauen wurden unzertrennlich.

1929 wurde Peterhans nach Dessau ans Bauhaus berufen, wo die Fotografie bis dahin noch nicht Teil des Lehrprogramms war. Grete kaufte ihrem Lehrer sein Fotolabor ab und eröffnete mit Ellen zusammen ringl + pit, ein Studio für Werbung und Fotografie. Hinter dem extravagant klingenden Namen, der das Geschlecht der Geschäftspartner im Unklaren lässt, verbargen sich schlicht die Spitznamen der beiden aus ihrer Kindheit. Dass es sich aber um Frauen handelte, dürfte angesichts von deren schnell sich herumsprechenden Arbeiten unschwer deutlich geworden sein. Aus den subtil ironischen Fotomontagen und witzig-kreativen Kompositionen, die oft auf das herrschende Frauenbild abheben, spricht die Aufbruchs- (oder recht eigentlich Gründer-) Stimmung einer Zeit, in der die Werbebranche gerade erst entstand und ihre eigene Sprache erst noch entwickelte. 1931 schon widmete die Zeitschrift „Gebrauchsgraphik“ ringl + pit einen Artikel. 1933 bekam das Studio in Brüssel den Ersten Preis für Werbeplakate. 1934 nahmen sich die Pariser Cahiers d’Art des Phänomens ringl + pit an.
1932 hatte sich Grete Stern bei Peterhans im Bauhaus eingeschrieben, um dort ihre theoretischen Kenntnisse weiter zu fundieren. Dabei lernte sie ihren Mitstudenten und späteren Ehemann, den Argentinier Horacio Coppola, kennen. In Berlin bewegten sich Grete Stern und Ellen Rosenberg im linken künstlerisch-politischen Milieu um Bertolt Brecht, hörten bei Karl Korsch Vorträge zum dialektischen Materialismus, ohne indessen direkt (partei-)politisch aktiv zu sein.

Als das Bauhaus 1933 nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten geschlossen wurde, entschieden auch Grete Stern und Ellen Rosenberg, aus Deutschland fortzugehen, obwohl sie persönlich noch nicht unmittelbar verfolgt waren. Sie habe nicht in einem Land leben wollen, in dem es Konzentrationslager gab, sagte Silvia Coppola später über ihre Mutter. Grete Stern konnte wegen Teilen ihrer dort lebenden Familie und ihrer dortigen Schuljahre legal nach London gehen, Ellen Rosenberg emigrierte zunächst nach Palästina und reiste später illegal nach London, um mit Grete Stern zu arbeiten. ringl+ pit konnte es unter diesen Umständen jedoch nicht mehr geben. Später berühmt gewordene Portraits von Bertolt Brecht, Helene Weigel und Karl Korsch entstanden übrigens in jenen Londoner Jahren.

Mitte 1935 fuhren Grete Stern und Horacio Coppola, den sie inzwischen geheiratet hatte, erstmals nach Argentinien. Im Gepäck hatten sie Arbeiten aus Deutschland und London, Collagen, Stilleben, Werbebilder, Fotoreportagen. All das, was bis dahin nicht als Kunst galt, wie überhaupt Fotografie in Argentinien nicht als Kunst, sondern bestenfalls als eine Unterform davon und Ersatz für Malerei angesehen wurde. Ausgestellt wurden sie nicht in Galerien oder Salons, sondern in den Schaufenstern von Fotogeschäften. Die Schriftstellerin Victoria Ocampo jedoch stellte dem Ehepaar genau hierfür die Räume des Verlagshauses Sur zur Verfügung. Und so fand im Oktober in Buenos Aires in diesem Haus, dem damaligen Zentrum des zeitgenössischen intellektuellen Lebens von Buenos Aires, und unter der Schirmherrschaft Ocampos, der sicher bekanntesten Kunstmäzenin dieser Zeit, Freundin von Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares, ein Ereignis statt, das der Kurator und Stern-Biograf Luis Priamo später die „erste Ausstellung von Moderner Fotografie in Argentinien überhaupt“ bezeichnete. Die Ausstellung begleitete eine Art Manifest aus der Feder von Grete Stern und Horacio Coppola, das zweifellos auch die Handschrift vom Bauhaus und von Peterhans trug. In dem Text ging es nicht um den Prozess des Fotografierens. Die Frage, ob Fotografie eine Kunst sein, stelle sich eigentlich nicht, schrieben die VerfasserInnen, da die Fotografie im modernen Leben ihren Platz habe. Und hier habe sie auch eine soziale Funktion.

Solche programmatischen Aussagen – wie auch die Ausstellungsstücke selbst – fanden großen Beifall in der intellektuellen und künstlerischen Szene, nicht aber unter Fotografen. Die größte Fotozeitschrift Argentiniens, El Correo Gráfico Sudamericano, erwähnte die Ausstellung nicht einmal. Erst 1943, als Grete Stern ihre erste Einzelausstellung zeigt, schreibt die Zeitschrift erstmals über die Fotografin – und zerreißt sie: die Porträtierten lächelten nicht hübsch in die Kamera, befänden sich inmitten von irgendwelchem Trödel, nichts sei ordentlich angeordnet, nichts säuberlich retuschiert und farblich verstärkt. Genau diese Provinzialität des argentinischen Verständnisses von Fotografie sollte Grete Stern später noch zu schaffen machen.

Nach der Ausstellung fuhr sie indessen erst noch einmal nach London zurück, wo sie ihre Tochter Silvia Coppola zur Welt brachte. Sie sollte die Staatsangehörigkeit des Landes erhalten, in dem die Mutter Asyl gefunden hatte. Mitte 1936 ließen sich Grete Stern und ihr Mann endgültig in Buenos Aires nieder und eröffneten dort ein Fotostudio. Anders als die herkömmlichen Studios wollten sie sich auf Werbung, nicht auf Porträts, spezialisieren. Doch das Geschäft lief mehr schlecht als recht. Die argentinischen Unternehmer konnten mit dem avantgardistischen Design von Stern-Coppola nichts anfangen. Der dick unterstrichene Name des Inhabers war ihnen wichtiger als eine witzig-kreative Präsentation. 1940 entschied das Ehepaar, nach Ramos Mejía, einem Dorf in der Provinz Buenos Aires, zu ziehen. Wladimir Acosta baute ihr Haus im Bauhausstil, hell, mit großen Fenstern, so dass ohne künstliches Licht gearbeitet werden konnte. Das Haus wird zum Treffpunkt für Intellektuelle – Schriftsteller und bildende Künstler, argentinische wie solche des Exils. Hier wurde diskutiert, entworfen, ausgestellt. Ir a Ramos, „ nach Ramos gehen“, wurde gleichsam zum Mythos, in dessen Zentrum Grete Stern stand, obwohl sie selbst eine eher stille Persönlichkeit war. Das Ehepaar arbeitete gemeinsam an der Dokumentation indigener Keramik für das Anthropologiemuseum von La Plata, erstellte Werbebroschüren für ein Ministerium. Grete Stern entwarf Buchumschläge, arbeitete für Verlage. Mitte der 40er Jahre trennte sich das Ehepaar. Grete Stern blieb mit den beiden Kindern – Andrés ist 1942 geboren – allein und selbständig in Ramos Mejía. Erst 1966 kehrte sie nach Buenos Aires zurück.

Bis 1985, als sie ihr Fotolabor endgültig abbaute, entstand ein umfangreiches und vielseitiges Werk. Ihren anfänglichen Prinzipien aus der Bauhauszeit ist Grete Stern dabei immer treu geblieben. Sie fotografierte zahlreiche Intellektuelle jener Periode und schuf damit ein wichtiges Zeitzeugnis. Die frühen Aufnahmen zeigen zumeist die Person alleine, später stellte Grete Stern SchrifstellerInnen, BildhauerInnen, MalerInnen, TänzerInnen zunehmend in einen Zusammenhang, oft den ihrer Ateliers oder Kunstwerke. Grete Stern komponierte Porträts stets langsam, suchte in der Natur oder in einem Ortsbild geduldig den passenden Blickwinkel. Schnappschüsse waren nicht ihre Sache. Nie. 1948 wurde sie eingeladen, am Plan von Buenos Aires mitzuarbeiten, für den sie Hunderte von Fotografien der Hauptstadt erstellte so und an der graphischen Gestaltung dieses Erstlingswerks mitwirkte. In dieser Zeit fotografierte sie auch immer wieder die Natur im Delta des Tigre-Flusses, deren oft fast übernatürlich wirkenden Zauber sie meisterhaft festzuhalten vermochte, weiterhin ohne je in das Bild nach seiner Aufnahme einzugreifen.

In der Frauenzeitschrift Idilio knüpfte sie an ihren subtil ironischen Umgang mit herrschenden Frauenrollen in ihrer Zeit im Studio ringl + pit an. Für die Rubrik „Die Psychoanalyse wird dir helfen“ bastelte sie zwischen 1949 bis 1951 beinahe wöchentlich witzig-hintergründige Fotomontagen. Leserinnen schrieben ihre Träume auf, sandten sie an die Redaktion, Grete Stern setzte sie bildlich um und der Soziologe Gino Germani kommentierte sie unter dem Pseudonym Richard Rest. Durchaus bemerkenswert war hierbei, dass Grete Stern ihre kritischen Ansichten zur Unterdrückung und (manchmal selbst gewählten) Unterordnung der Frauen, insbesondere der Frauen des Zeitschriften wie Idilio lesenden Mittelstands, ausgerechnet in einem Medium unterbrachte, das diese Rolle keineswegs kritisch zu hinterfragen gedachte.

1956 wurde Grete Stern gebeten, ein Fotoatelier im Nationalmuseum für Bildende Künste aufzubauen und zu leiten – ein weiterer Ausdruck ihrer wachsenden Anerkennung in Argentinien. Dieses Fotoatelier blieb bis zu ihrer Pensionierung 1970 in ihrer Hand. 1959 nahm sie dazu einen einjährigen Lehrauftrag an der Universidad del Norte in Resistencia/Chaco an. Die Begegnungen mit den Ethnien der Tobas, Wichi-Matacos, Mocovíes und anderen im Chaco faszinierten sie derart, dass sie einen Projektantrag formulierte für eine größere Reise durch den Gran Chaco, die sie nach dessen Bewilligung ganz allein machte und von wo sie mit über 800 Fotos zurückkehrte. 1964, inzwischen 60jährig, reiste sie noch einmal für drei Monate dorthin und durchquerte die Gegend mit dem Zug, dem Bus, zu Fuß. Fotos vom Alltag der Indígenas zu machen, erzählt Grete Stern später, setzten viel Vertrauen voraus. Fast immer sind Frauen und Kinder auf den Aufnahmen zu sehen – das Einfühlungsvermögen der Frau Grete Stern und ein schnelleres Vertrauenfassen von Frau zu Frau hat sicher damit zu tun, aber auch die Tatsache, dass viele Männer damals schon die Gemeinden auf Arbeitsuche verlassen hatten.

Die respekt- und würdevollen Bilder ihrer Mutter von den Menschen im Gran Chaco, deren Handwerk und deren Orten hätten nicht die Anerkennung erfahren, die sie eigentlich verdient hätten, meinte ihre Tochter Silvia Coppola später. Das habe ihre Mutter stets bedauert. Dennoch: Grete Stern geriet nie wirklich in Vergessenheit. Ihre Arbeiten wurden immer wieder ausgestellt, auch in Europa, wohin zurückzukehren die ehemalige Elberfelderin niemals erwogen hat. Auch wenn sie ihrem Stil und ihrer Technik bis zum Schluss und über weit mehr als fünf Jahrzehnte treu geblieben ist, ist Grete Stern niemals unmodern geworden. Wohl aber war sie lange ihrer Zeit voraus. „Man wird in meinen Bildern sehen, was ich will, dass man sieht“, hat sie einmal gesagt. Zweifellos.