Klar, solidarisch sein wollen wir alle. Erst recht, wenn es sich um Menschen handelt, die sich im Globalen Süden mit der durch „Strukturanpassungsprogramme“ aufgezwungenen Armut und der Machtarroganz europäischer Regierungen auseinandersetzen müssen. Oder um Menschen, die vor Hunger, Unterdrückung oder Kriegen nach Europa fliehen und aufgrund der Abschottungspolitik der EU ihr Leben aufs Spiel setzen müssen.
Aber geht das überhaupt? Sind wir als privilegierte, „weiße“ Europäer*innen nicht unweigerlich in die ungleiche globale Machtkonstellation verstrickt? Trägt nicht sogar die beste Absicht, solidarisch sein zu wollen, noch zur Verfestigung des postkolonialen Paternalismus bei? Sind wir notgedrungen eher Teil des Problems, als Teil der Lösung?
Die antirassistische und entwicklungskritische Organisation glokal hat nun eine Broschüre vorgelegt, die unter dem Titel „Das Märchen von der Augenhöhe“ Fragen von Macht und Solidarität in Nord-Süd-Partnerschaften kritisch beleuchtet. Erfreulicherweise beschränkt sie sich nicht darauf, auf die in solchen Partnerschaften lauernden Risiken aufmerksam zu machen, und fordert auch nicht dazu auf, besser die Finger davon zu lassen. Stattdessen gibt sie auch Hinweise, wie mit den Risiken umgegangen werden kann. Denn auch die Leute von glokal wissen, dass angesichts der himmelschreienden globalen Ungerechtigkeit das pure Nichtstun nicht die Lösung sein kann.
Die Broschüre bezieht sich gleichermaßen auf entwicklungspolitische Nichtregierungsorganisationen (NRO) und Programme, nicht-kommerzielle Freiwilligendienste und Solidaritätsorganisationen, die sich aus dem Globalen Norden auf Menschen im Globalen Süden beziehen. Auch wenn sie nicht alle in einen Topf geworfen werden, gehen die Autor*innen der Broschüre davon aus, dass sie das Motto teilen: „Mit unseren Partnern im Globalen Süden arbeiten wir natürlich auf Augenhöhe zusammen.“
In der Rede von Augenhöhe und Partnerschaft sehen sie die Absicht zum Ausdruck kommen, gleichberechtigte Strukturen anzustreben. Doch wie könne, so fragen sie, „eine gleichberechtigte Partnerschaft überhaupt möglich sein, wenn politische und ökonomische Machtstrukturen fortwährend die Machtverteilung global und auch innerhalb der Nord-Süd-Organisationen beeinflussen? Wie können die immer noch wirksamen gewalttätigen Strukturen, Bilder und Einstellungen, die in der 500-jährigen Kolonialgeschichte geschaffen wurden, in der und durch die Arbeit von Nord-Süd-Organisationen verändert werden?“ (S. 5).
Aus einer machtkritischen und von postkolonialer Theorie geleiteten Perspektive analysiert die Broschüre Schieflagen in Nord-Süd-Organisationen und regt zur selbstkritischen Reflexion an. Nach einer theoretisch-historischen Einführung, die als „postkoloniale Annäherung an Theorie und Praxis“ bezeichnet wird, werden Erfahrungsberichte aus der Praxis der Nord-Süd-Zusammenarbeit vorgestellt, in denen über NRO-Strukturen, Schulpartnerschaften, Freiwilligendienste und Soli- daritätsarbeit nachgedacht wird. Ein Teil dieser Berichte stammt von Aktivist*innen und NRO-Mitarbeiter*innen aus Deutschland, ein anderer Teil von Personen aus dem Globalen Süden, die an entwicklungspolitischen NRO-Projekten oder Austauschprogrammen mitgewirkt haben (die letzteren sind in Originalsprache unter www.glokal.org nachzulesen).
Einer der Berichte stammt von Margarita Rodríguez Ornelas, die seit 2012 in einer Arbeitsgruppe mitarbeitet, die kulturelle Austausche zwischen Mexiko und Deutschland initiiert. In ihrem Bericht setzt sie sich mit dem Süd-Nord-Freiwilligenprogramm des vom BMZ getragenen weltwärts-Freiwilligendienstes auseinander. Während der weitaus überwiegende Teil der Freiwilligen deutsche Jugendliche sind, die an Hilfs- und Entwicklungsprojekte im Globalen Süden vermittelt werden, besteht seit 2014 auch eine Süd-Nord-Komponente, die einigen jungen Menschen aus dem Süden ermöglicht, als Freiwillige nach Deutschland zu kommen. In ihrem Bericht zeigt die Autorin die extrem ungleichen Bedingungen auf, die für die jeweiligen Teilnehmer*innen aus Deutschland und dem Süden bestehen, und betont die Notwendigkeit horizontaler Strukturen im Sinne einer gleichmäßigen Verteilung von Macht.
Die Broschüre richtet sich hauptsächlich an „weiße“ Organisationen und Gruppen im Globalen Norden, die mit Organisationen im Globalen Süden zusammenarbeiten. Sie wird mit Reflexions- und Praxishinweisen abgeschlossen, die Denkanstöße geben sollen. Diese beziehen sich in detaillierter Weise auf den historisch-politischen Rahmen, die Ziele, Werte und Motivation, Strukturen und Entscheidungsprozeduren, die meist ungewollten, aber auch wenig bedachten Risiken des „Othering“, auf Fragen der Finanzierung, Evaluation und Dokumentation sowie die Gestaltung von Reisen und Treffen. Ein besonderer Teil ist den Kommunikations-, Wissens- und Fortbildungsstrukturen gewidmet, zum Beispiel dem Umgang mit Wissen und Informationen oder der Organisation von Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit.
Gemäß der kritischen Haltung gegenüber jeder Art von Praxis, die als „Hilfe“ oder gar „Entwicklungshilfe“ konzipiert ist, richtet sich das besondere Augenmerk der Broschüre auf eine Praxis, die sich als solidarisch versteht. Die Autor*innen fragen sich, ob Solidarität, die vom Norden ausgeht, überhaupt „grundlegend dekolonisiert werden kann oder ob mit dem Solidaritätsgedanken, wie er heute in der ‚entwicklungspolitischen‘ und internationalistischen Szene benutzt wird, auch problematische Funktionen wie Exotisierung oder gar ein inhärenter Herrschaftsanspruch einhergehen“ (S. 15). Bei dem Versuch, sich von „Hilfe“ und Unterstützung abzugrenzen, könne man eigentlich nicht davon sprechen, Solidarität mit anderen zu üben, sondern sollte von Solidarität zwischen Personen, Gruppen, Kämpfen usw. ausgehen. Denn der Begriff Solidarität betone „Verbundenheit, also das eigene Leben im Zusammenhang mit dem anderer Menschen zu sehen: die Freiheit und Autonomie der anderen also als unabdingbar verknüpft mit der eigenen begreift“ (S. 15).
Weitere Anregungen sind auf der von glokal eingerichteten Plattform mangoes & bullets (www.mangoes-and-bullets.org) zu finden, u. a. unter den Schlagworten „Solidarität“, „Entwicklungspolitische Bildungsarbeit“ oder „Dekolonisierung“. Dort gibt es eine umfassende Sammlung verschiedener Medien, von Kinderbüchern über Kunst- und Aktionsbeispiele bis hin zu praktischen Methoden. Auch eine Handreichung zur Solidaritätsarbeit zwischen Geflüchteten und Soligruppen ist inzwischen unter dem Titel „Willkommen ohne Paternalismus“ erschienen.
Für 10,- (+ Versandkosten) zu bestellen über: http://www.glokal.org/publikationen/das-maerchen-von-der-augenhoehe/