Das Prinzip Versprechen

Reyna Fernández wirkt mutlos. Die Sprecherin der autonomen Gemeinde San Juan Copala campiert seit Monaten zusammen mit rund 40 weiteren Gemeindemitgliedern auf dem Zócalo, dem zentralen Platz von Oaxaca. Der plantón im Schatten des kolonialen Regierungspalastes verstört, aber in dem zentralen Konflikt in dem an Agrarkonflikten reichen Bundesstaat bewegt sich nichts.. Im September 2010 wurden die Triqui-Indígenas, die die Autonomie des Orts ausgerufen hatten, von Paramilitärs endgültig aus ihrem Dorf vertrieben. Viele der Vertriebenen sind heute in alle Winde zerstreut. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission hat dem mexikanischen Staat Schutzmaßnahmen für 135 von ihnen verordnet. Passiert sei nichts. „Wenn ihr mit dem Gouverneur redet“, bittet Reyna die Europaabgeordneten Satu Hassi und Ska Keller in den Räumen der Menschenrechtsorganisation Código DH, „dann sprecht vier Punkte an: Gerechtigkeit, die Rückkehr in die Gemeinde, den Schutz des Camps auf dem Zócalo und Gesundheitsversorgung.“ Man sieht ihr an: Sie glaubt nicht mehr, dass der neue Gouverneur etwas ändert.

Gabino Cué wurde am 4. Juli 2010 von einer breiten Koalition von rechts bis links gewählt. Er löste damit Ulises Ruiz von der PRI ab, dem Wahlbetrug 2006, Korruption und massive Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Finanzierung der paramilitärischen Gruppe UBISORT vorgeworfen wurden. Letztere ist aller Wahrscheinlichkeit nach auch für die Morde an Bety und Jyri verantwortlich. Bei der Regierungsübergabe im Dezember 2010 hinterließ Ulises Ruiz leere Kassen und astronomisch hohe Zahlungsverpflichtungen für überdimensionierte Bauprojekte über mehrere Jahrzehnte. Mit dem Ergebnis, dass derzeit viele Regierungsangestellte seit Monaten ohne Gehälter arbeiten. Unmut war vorprogrammiert. 

Auch politisch sind nach der ersten Freude über den Wahlsieg des durchaus charismatischen Gabino Cué längst Wolken aufgezogen. Gerade die Stärkung des Menschenrechtsbereichs mit der Beauftragten Eréndira Cruzvillegas, vor einigen Jahren als Aktivistin selbst verfolgt und ins zeitweilige Exil vertrieben, machte Hoffnungen. Doch die ohnehin prekäre Wahlallianz von der (gemäßigt linken) PRD bis zur (in Mexiko regierenden rechten) PAN ist zerbrochen. Vieles, wie etwa eine umfassende Wahrheitskommission, ist nicht mehr durchsetzbar. Der neue Bundesstaatsabgeordnete Flavio Sosa, der nach den massiv niedergeschlagenen Aufständen gegen Ulises Ruiz 2006 selbst zu Unrecht jahrelang in Hochsicherheitsgefängnissen saß, hat einen moderaten Vorschlag für eine Wahrheitskommision eingebracht. Er greife viel zu kurz und sei mit den Bewegungen nicht abgesprochen, bemäkeln diese. Angesichts fehlender Mehrheiten mache die Regierung im Grunde weiter Wahlkampf statt Nägeln mit Köpfen, meint Marcos Leyva von der Bildungsorganisation Educa. Gabino Cué verkünde viel, setze aber wenig um. Im Regierungs- und Justizapparat überlebten etliche Gestalten der Ulises-Ruiz-Garde, Altlasten, die jede Neuerung torpedieren. 

Gabino Cué hat aber auch viele neue Gesichter aus den sozialen Organisationen in die Regierung geholt, was diesen neben Hoffnung auf frischen Wind auch Angst vor Kooptierung macht. Die meisten, so Marcos Leyva, stammten aus alten Politikerfamilien, die sich so lediglich zeitgemäß reproduzierten. Zudem seien sie im Mittelbau untergekommen, nicht wirklich an Schaltstellen der Macht. Die sozialen Organisationen hätten angesichts der ersten Nicht-PRI-Regierung in Oaxaca ihre neue Rolle noch nicht gefunden. Ein kritisch-konstruktiver sozialer Pol müsse erst noch aufgebaut werden.

Wie vorausgesagt verspricht der Gouverneur auch gegenüber den beiden Europaabgeordneten sein Bestes. Die Gemeindemitglieder von San Juan Copala sollten in ihr Dorf zurückkehren können und jeder einzelne Mord solle aufgeklärt werden, mit Intelligenz, Talent und Kreativität.

Die Mühen der Ebene werden bei Gesprächen mit weiteren RegierungsvertreterInnen deutlich. Es hakt schon bei der Umsetzung der von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission verordneten Schutznahmen für die Triquis. Deren Sicherheitslage stellt sich nach dem Abgang des PRI-Gouverneurs Ulises Ruiz anders, aber nicht besser dar – San Juan Copala als spirituelles Zentrum der Triquis ist hier nicht allein, aber besonders betroffen. Bewaffnete UBISORT-Paramilitärs laufen wegen fehlender PRI- Finanzierung nun offenbar zur ehemals bekämpften MULT-Gruppe über. Zwar wurde UBISORT-Chef Rufino Juárez Hernández im Mai dieses Jahres durch die Bundesbehörden verhaftet – sicher nicht zufällig just wenige Tage bevor eine Delegation des Menschenrechtsausschusses des Europäischen Parlaments nach Mexiko-Stadt und Oaxaca reiste – an offene Führungsstelllen aber treten nun unbehelligt neue Kader aus beiden Organisationen, darunter wohl auch ehemalige Regierungsbeamte.

Seit Dezember vergangenen Jahres haben vierzehn Treffen zwischen Triqui- und Gabino Cué-VertreterInnen über eine beschützte Rückkehr nach San Juan Copala stattgefunden. Ergebnislos. Der mit den Vermittlungen beauftragte Arturo Peimber holt weit aus, um die Stagnation mit einem historischen Konflikt zu erklären. Dieser schwele seit 1948. Damals wurde San Juan Copala als Hauptort der Triquis von der nationalen Regierung die Selbstverwaltung und Budgethoheit entzogen. 2007 riefen die Triquis eine autonome Gemeinde aus. Seither herrscht Krieg. 

Von wem derzeit die Gewalt ausgeht und wer Willen zur Konfliktlösung hat, wird von Regierungsvertretern unterschiedlich gewichtet. Peimber wirft den vertriebenen Triquis vor, Angebote wie Krankenversorgung und LehrerInnen nicht anzunehmen. Anfang August, just an dem Tag, als in Mexiko-Stadt Beschlüsse über die Modalitäten einer auf den 25. August angesetzten Rückkehr fielen, seien in Oaxaca bei einem alkoholisierten Streit drei Triquis erschossen worden. Die Gemeinde habe die Leichen nach Oaxaca-Stadt gebracht und auf dem Zócalo ausgestellt, ein Affront, wie er findet. Und ein weiteres Aus für die Rückkehr. Die Triquis ihrerseits sehen den mangelnden Willen bei der Regierung, von Krankenhäusern und Angeboten zur Krankenbehandlung wissen sie nichts. Auch nichts von Alkohol und tödlichem Streit. Ihre Version: Zwei der drei Erschossenen seien die letzten Überlebenden einer Vierergruppe gewesen, die eine größere Landvertreibung öffentlich denunziert hätten. Die Leichen auf dem Zócalo auszustellen, sei eine Verzweiflungsmaßnahme gewesen, um auf die fortgesetzte Repression aufmerksam zu machen. Das gegenseitige Misstrauen scheint unüberwindbar, eine Rückkehr nach San Juan Copala undurchführbar, solange bewaffenete Paramilitärs patrouillieren. Der springende Punkt ist hierfür die Aufklärung der Überfalls auf die Karawane und der Morde an Bety und Jyri.

Denn, davon gehen alle GesprächspartnerInnen aus, die Täter sind für weitaus mehr Delikte verantwortlich. Eine Lösung des einen Falles könnte Licht auf viele weitere Verbrechen werfen. Nur internationale Aufmerksamkeit, darüber herrscht Einigkeit, kann die Untersuchungen überhaupt voranbringen in einem Land, in dem 98 Prozent der Verbrechen unaufgeklärt bleiben.

Genau aus diesem Grund waren Jyris Eltern bisher zweimal in Mexico, die Europaabgeordnete Satu Hassi dreimal. Von Ulises Ruiz ignoriert, von Gabino Cué mit offenen Armen empfangen, während die Regierung in der Hauptstadt diesmal versuchte, den erneuten Besuch zu verhindern. Bei jedem Treffen gab es Versprechungen. Doch auch nach16 Monaten, beklagen Satu Hassi und Ska Keller, gäbe es keine Fortschritte. Die Festnahme von UBISORT-Chef Rufino Juárez habe die Delegation des EP-Menschenrechtsausschusses lediglich beeindrucken sollen. Doch zur Last gelegt werde ihm nicht Mord, sondern Kidnapping und unerlaubter Waffenbesitz. Eine baldige Entlassung sei nicht ausgeschlossen. Untersuchungskommissionen zum Fall Jyri und Bety würden angeblich eingesetzt, nur um sich alsbald in Luft aufzulösen, Zeugenschutz werde in Aussicht gestellt, dann aber wieder verworfen, da es sich nicht um organisiertes Verbrechen handele (warum eigentlich nicht?).

Auch diesmal sah sich die Delegation aus Europa mit Verzögerungstaktik konfrontiert. Manuel de Jesús López López, Generalstaatsanwalt in Oaxaca, bezeugte zwar beste Absichten, räumte aber ein, dass in Oaxaca inzwischen die nationale Justizreform greife. Sie verlangt mündliche Verhandlungen, die Bundesebene wendet aber noch die alten Verfahren der Beweissammlung an. Die aus der Hauptstadt eingetroffenen 14 Bände Unterlagen zum Fall seien daher unbrauchbar. Eine erneute Beweisaufnahme hielt López López für undurchführbar. Selbst die Autos, in denen die Morde geschahen, existierten nicht mehr. Andere Beweisstücke, inzwischen aufbewahrt in Botschaften und offiziellen Stellen in Mexiko-Stadt, waren ihm nicht einmal bekannt. Zeugenschutz sei zudem hauptsächlich Sache der Bundesebene.

Zurück in der Hauptstadt legten die Europaabgeordneten bei Ministeriumsgesprächen hierauf ihren Schwerpunkt. Kein Zeuge würde eine Aussage machen, wenn er dabei dem möglichen Täter gegenübersteht oder der davon weiß, argumentierten sie. Man nickte, versteckte sich aber hinter angeblich fehlenden Rechtsgrundlagen. Nach zähem Ringen gab es dann endlich Versprechen auf Zusagen, Genaueres werde nach Abreise der Europäerinnen mit David Peña, dem Anwalt des Falles, ausgehandelt. Ein Strohhalm für Betys Ehemann Omar Esparza. Vor wenigen Wochen schloss er nach Drohungen das Büro der unabhängigen zapatistischen Bauernbewegung MAIZ in Oaxaca, wo er arbeitete; seine Kinder leben woanders. „Gerechtigkeit für Jyri bedeutet Gerechtigkeit für Bety“, sagte Omar Esparza schon im letzten Jahr.

Sie wäre wie eine Stecknadel in einem Heuhaufen. Menschenrechts-organisationen nutzten die Anwesenheit der Europaabgeordneten, um einen Einblick in die Menschenrechtslage insgesamt zu geben, die sich, seit Präsident Calderón 2007 die Militärs auf die Straße schickte, um den Drogenhandel zu bekämpfen, in allen Bereichen dramatisch verschlechtert hat. Die Drogenbanden sind längst extralegale Wirtschaftsimperien, die ihr Geld großenteils mit Entführungen, Erpressungen, Auftragsmorden, Menschenhandel und ähnlichen Scheußlichkeiten machen. Straflos. Am Tag, an dem die Europarlamentarierinnen in Mexiko landeten, fanden Jogger in einem öffentlichen Park der Hauptstadt die nackten, misshandelten und gefesselten Leichen zweier Journalistinnen. Auch diese Feminicidios (Frauenmorde) werden aller Wahrscheinlichkeit nach nie aufgeklärt werden. Gerade deswegen wäre es so wichtig, im Falle Jyri und Bety exemplarisch die Straflosigkeit zu durchbrechen.