Der zwar in Deutschland geborene, aber seit 1963 in Lateinamerika lebende und lehrende Befreiungstheologe Franz Hinkelammert beschäftigt sich in seinem Denken seit Jahrzehnten mit der Frage, wie die Moderne das Denken der Menschen so bestimmt, dass sie ihre eigene, körperliche Menschlichkeit dabei aus dem Blick verlieren. Gegen die Verheißungen der Unterwerfung unter den totalen Markt tritt er für eine Ethik der konkreten und endlichen, eben körperlichen Subjekte ein, wie es die Herausgeber seines neuen Buches vom Institut für Theologie und Politik in ihrem Vorwort betonen.
Hinkelammert hatte schon in seiner vorangehenden Veröffentlichung „Der Schrei des Subjekts“ an Hand einer Interpretation des Johannesevangeliums deutlich gemacht, dass nach seiner Einschätzung die zentrale Verfehlung des Christentums (theologisch gesprochen würde das „Sünde“ heißen) darin besteht, dass die Kirche schon seit dem zweiten Jahrhundert begonnen hatte, die ursprüngliche Botschaft umzudrehen, ohne dabei die Worte zu ändern. Hieß Jesu Verkündigung noch bedingungslos „du sollst nicht töten“, so wurde sehr bald daraus: „Und wenn du es doch tust, dann bringen wir dich um!“
In seinem neuen Buch spitzt er das zu. Der Verstoß gegen das Gesetz ist sicher zu kritisieren, die Verwendung des Gesetzes zum Töten aber wiederholt den Brudermord des Kain, wie er im Kapitel über „Die Rebellion auf der Erde und die Rebellion im Himmel: Der Mensch als Subjekt“ ausführlich darlegt. Aus dem „Wer tötet, muss getötet werden“ gibt es keinen Ausweg. Da alle gegen das Gesetz verstoßen, sind alle schuldig. Der Mord an Anderen wird zum kollektiven Selbstmord der Menschheit und damit zur Vernichtung der Welt, denn „eine objektive Welt ohne Menschen gibt es nicht… Die objektive Realität ist nicht zuerst da und dann der Mensch, sondern sie ist sowohl Voraussetzung als auch Folge des menschlichen Lebens.“ (S. 58)
Von diesen theologischen Gedanken muss sich niemand abgeschreckt fühlen, Hinkelammert entwickelt über weite Strecken seine Gedankenführung zwar durchaus als Theologe, aber ohne direkte Rückgriffe auf Bibel und Verkündigung. Er greift vielmehr seine Überlegungen aus den 80er Jahren wieder auf und stellt den LeserInnen in je einem eigenen ausführlichen Kapitel das Denken einiger „Väter der Moderne“ vor.
John Locke lebte und schrieb Ende des 17. Jahrhunderts in England. 1688 hatte die Glorious Revolution die allgemeine Menschenrechtsidee der Revolution von 1648 auf die Bürger und ihren Besitz eingeengt. Locke liefert dazu das passende theoretische Konzept: Die Menschenrechte gelten für alle die, die sich ihnen freiwillig in einem unausgesprochenen Vertrag als (Vertrags)Gleiche unterwerfen. Wer das verweigert (wie etwa die Indianer Nordamerikas, die kein Eigentum anerkennen), verzichtet damit ausdrücklich auf die Gültigkeit der Menschenrechte für sich selbst und hat „damit der gesamten Menschheit den Krieg erklärt und (darf) deshalb wie ein Löwe oder Tiger vernichtet werden, wie eines jener wilden Raubtiere, mit denen der Mensch weder in Gemeinschaft noch in Sicherheit leben kann“ (S.74). Im 18. Jahrhundert entwickelt Adam Smith die Idee der Vertragsgleichheit weiter.
Wenn die Individuen nur ihre eigenen Interessen gründlich kalkulieren und sich auf dieser Basis als Gleiche auf dem Markt austauschen, dann befördern sie so das Wohl aller. Ganz ohne dass das ihre Absicht sein muss, schafft die „unsichtbare Hand“ von sich aus das Allgemeinwohl. David Hume schließlich kann zwar überzeugend begründen, warum menschliche Gesellschaften eine Ordnung benötigen, die regelt, wie und unter welchen Voraussetzungen Zugriffe auf Ressourcen möglich sind und was vor Dritten wie geschützt ist, aber daraus „deduziert er ein spezifisches Eigentumssystem, nämlich das kapitalistische“ (S.186).
Demgegenüber betont Karl Marx die Destruktivität des selbstregulierten Systems Markt und die Notwendigkeit bewusster, gesellschaftlich geplanter Eingriffe. Anders kann „das Bild von einer Gesellschaft ohne Menschenopfer – eines Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“ (S. 226) niemals eingelöst werden. Die Destruktivität spitzt sich heute immer mehr zu und Hinkelammert sieht im Denken Friedrich Nietzsches die angemessene philosophische Begleittheorie. Diesen begreift er als den großen radikalen Denker genau dieser Destruktivität, der all die negativen Entwicklungen des Kapitalismus positiv wendet und das Menschenopfer verklärt. Insofern versteht der Autor die Moderne als ein Ganzes, zu der ihre Kritik (etwa in Marx) und ihre Übertreibung ins Maßlose (bei Nietzsche) ebenso gehören wie postmoderne Versuche, sie neu zu denken.
Dabei allerdings kommt Hinkelammert ins Schwimmen. Die Postmoderne reduziert er auf Jean-Francois Lyotard und schon seine eigene Nietzscherezeption blendet die Widersprüche dieses Denkers völlig aus. Die linke Wirkungsgeschichte erfasst er überhaupt nicht, obwohl er z. B. Emanuel Lévinas vielfach zitiert, über den linksnietzeanisches Denken die französischen Poststrukturalisten intensiv beeinflusst hat. Dennoch ist die Darstellung der ökonomischen Klassiker hilfreich und die Begründung für die notwendige Rückkehr zur marxschen Kritik zwingend und das Buch in diesem Sinne zu empfehlen.
Franz J. Hinkelammert: Das Subjekt und das Gesetz: Die Rückkehr des verdrängten Subjekts, Institut für Theologie und Politik, Münster 2007, 464 Seiten, 24,80 Euro