Es gibt Dinge, die sollten nicht in Vergessenheit geraten. Dazu zählen die Verbrechen, die im Namen der Eugenik im Dritten Reich verübt wurden, und auch die Straflosigkeit vieler Täter. Mit dem 2016 zunächst auf Französisch erschienenen Roman „Das Verschwinden des Josef Mengele“ trägt der Journalist Olivier Guez dazu bei, dem Vergessen etwas entgegenzusetzen. Im Nachwort des Buches schreibt Guez, dass er nur durch einen Roman in der Lage war, die Geschichte von Mengeles Flucht zu erzählen, für die er sich durch viele Archive las. Deswegen sind Personen und Eckdaten des Buches auch der Wirklichkeit entlehnt. Erzählt wird die Geschichte aus Mengeles Perspektive, mit kurzen zeitgeschichtlichen Einordnungen.
Über die sogenannte Rattenlinie gelang es einer Reihe von Naziverbrechern, erfolgreich aus dem besiegten Deutschland zu fliehen und sich in Lateinamerika – oft gar nicht so versteckt – ein neues Leben aufzubauen. Während Adolf Eichmann entführt und ihm in Israel der Prozess gemacht wurde, konnte Josef Mengele dank eines Netzwerks an Unterstützer*innen – Nazis und Opportunist*innen – bis zu seinem Tod der Strafverfolgung entkommen.
Unter dem Namen Helmut Gregor erreicht Mengele Argentinien, wo er sich dank eines unterstützenden Netzwerks ein neues Leben aufbauen kann. Zunächst hält er seine wahre Identität bedeckt. Er bekommt aber schnell Anschluss an viele Nazis, bei denen er seine Gesinnung nicht zu verstecken braucht. Über die rechtsextreme Zeitschrift „Der Weg“ lernt er die Diaspora aus Kriegsverbrechern und NS-Sympathisant*innen kennen, denen sich Mengele im Roman aufgrund seines wissenschaftlichen Hintergrunds sichtlich überlegen fühlt. Diese Gruppe hat direkten Draht zum argentinischen Präsidenten Perón, der sich erhofft, Argentinien in eine moderne Diktatur zu verwandeln (und der Mengele wohl sogar persönlich trifft).
Komfortable Aufnahme in Buenos Aires unter Perón
„Ende der 1940er-Jahre ist Buenos Aires zur Hauptstadt für den Ausschuss des gefallenen Schwarzen Ordens avanciert. Ein Sammelbecken für Nazis, kroatische Ustascha, serbische Ultranationalisten, italienische Faschisten, ungarische Pfeilkreuzler, rumänische Legionäre der Eisernen Garde, französische Vichy-Anhänger, belgische Rexisten, spanische Falangisten, integralistische Katholiken; Mörder, Folterer und Abenteurer, ein gespenstisches Viertes Reich. Perón verwöhnt seine Desperados. Im Juli 1949 amnestiert er alle, die mit einer falschen Identität eingereist sind, und empfängt sie hin und wieder in der Casa Rosada“, heißt es im Roman. Mengele übernimmt die Auslandsgeschäfte des Familienunternehmens und führt ein gutes Leben in der Nazi-Diaspora, sodass er sich sogar einen Reisepass unter seinem Klarnamen bei der deutschen Botschaft besorgt und (wenn auch mit falschem Pass) nach Deutschland reisen kann. Erst nach dem Tod Peróns und stärkerer politischer Aufarbeitung in Deutschland wendet sich das Blatt für Mengele, und er verlässt Argentinien Richtung Paraguay. Dort erhält er im November 1959 nicht zuletzt dank Präsident Alfredo Stroessner die Staatsbürgerschaft, obwohl er die Bedingungen dafür eigentlich nicht erfüllt.
„Im November 1959 ist es so weit, der Oberste Gerichtshof Paraguays gewährt Mengele die Staatsbürgerschaft, eine Aufenthaltsgenehmigung, ein Leumundszeugnis und einen Personalausweis“, hält der Roman fest. Nach der Entführung von Adolf Eichmann durch den Mossad gerät Mengele allerdings in Panik und flieht Richtung Brasilien, wo er bei einer ungarischen Familie unterkommt. Mit dieser streitet er sich immer wieder. Sie verstecken ihn letztlich nur aufgrund der finanziellen Unterstützung aus Deutschland weiter. Ein Agent des Mossad kommt ihm sehr nahe. Er identifiziert seinen Kontaktmann, wird dann aber abgezogen, da die Ressourcen im Konflikt mit den arabischen Feinden dringender benötigt werden. „Die Israelis haben ihre Jagd eingestellt, mit der wachsenden ägyptisch-syrischen Bedrohung steht ihr Überleben auf dem Spiel. Der Mossad hat – verständlicherweise – seine brasilianischen Informationen nicht an die deutschen Geheimdienste weitergeleitet.“ So schafft es Mengele letztlich zu entkommen, auch wenn er in einer heruntergekommenen Hütte lebt, nachdem ihn die ungarische Familie endgültig rauswirft. Hier schafft er es noch, Kontakt zu seinem Sohn Rolf aufzubauen, der ihm aber seine Gräueltaten vorwirft. Im Jahr 1979 ertrinkt Mengele bei einem Schlaganfall im Meer.
Straflosigkeit und politische Kontinuität
Ähnlich schockierend wie das gedankliche Innenleben Mengeles sind auch die Nebencharaktere, die ihm Unterschlupf gewähren und ihn von Deutschland aus finanzieren. Sein Sohn, der zwar den Vater infrage stellt und immer wieder den Kontakt abbricht, deckt ihn letztlich ebenfalls und hilft somit, die Straflosigkeit aufrechtzuerhalten. Auch die politische Kontinuität deckt Guez schonungslos auf: „Bonn investiert keine besonderen Mittel in die Jagd auf Mengele und schickt weder Agenten noch Spionagekommandos vor Ort. Dabei wäre es für die mit ehemaligen Nazis verseuchten Geheimdienste ein Leichtes gewesen, an Rudel, Sassen, Krug oder von Eckstein heranzukommen[fn]Unterstützer Mengeles[/fn], die nie einen Hehl aus ihrer Treue zum Dritten Reich gemacht haben. Die Bundesrepublik ist prozesswütig und begnügt sich damit, auf den Verbrecher gegen die Menschlichkeit ein Kopfgeld auszusetzen.“ Erschreckend ist auch der Erfolg der Firma Mengele, die noch bis 2010 unter dem Namen „Mengele Agrartechnik“ existierte. Der Erfolg dieses Unternehmens ermöglichte es der Familie, den gesuchten Nazi Mengele versteckt zu halten.
Gedächtnisverlust begünstigt Saat des Bösen
Die Stärke des Buches ist die kalte und nüchterne Erzählweise. Obwohl Mengele der Protagonist des Buches ist, schafft es Guez, dass man ihm gegenüber nur Antipathie und Ekel empfinden kann. Über seine Zeit als Arzt an der Rampe in Auschwitz wird in dem Buch nur am Rande berichtet, meist aus Mengeles Perspektive, der seine pseudowissenschaftlichen Experimente rechtfertigt.
Guez schreibt schnell getaktet und verwebt die Geschichte Mengeles mit den politischen Entwicklungen sowohl in Lateinamerika als auch in Deutschland. Ein schwacher Trost liegt darin mitzubekommen, wie trostlos Mengeles Leben auf der Flucht verläuft. Er wird verlassen, verbringt die Zeit mit Menschen, die ihn nicht mögen, und kann aus der Ferne erleben, wie ihm seine Abschlüsse aberkannt werden und die Nazivisionen der Bundesrepublik weichen. Das Buch endet mit einem starken Appell, der aktuell mehr als angebracht ist: „Immer nach zwei oder drei Generationen, wenn das Gedächtnis verkümmert und die letzten Zeugen der vorherigen Massaker sterben, erlöscht die Vernunft, und Menschen säen wieder das Böse.“