Das war der Gipfel

Die Herausgeber*innen schreiben in ihrem Vorwort: „Wir wollten die Proteste aus Sicht der Basisaktivist*innen, aus einer Graswurzelperspektive darstellen, nicht aus dem Blickwinkel von NGOs, Parteien oder anderer Großorganisationen.“ (S. 10) Das ist, um es vorab zu sagen, hervorragend gelungen. Was sie selbst dort zur Beschreibung ihrer Methode formulieren, könnte genauso gut ohne Anführungszeichen als Meinung des Rezensenten gesagt werden: „Dieses Buch speist sich aus dem Bewegungswissen.“ Zu Wort kommen „die Stimmen der ‚Vielen‘“, wie sie sich „in den Asambleas, Camps, Stadtteilversammlungen, alternativen Zentren, Strukturen der Gegenöffentlichkeit“ ausgedrückt haben (ebda.).

Allerdings ist mit dieser „Sicht der Basisaktivist*innen“ auch eine Haltung eingenommen, die eine Kontroverse aufnimmt und sich auf eine Spaltungslinie einlässt, die andere – durchaus auch Basisaktivist*innen – unbedingt vermeiden wollten. Darauf will ich später zurückkommen, hier soll zunächst die Struktur des Buches vorgestellt und ein paar einzelne Aspekte gewürdigt werden.

In insgesamt 18 Kapiteln werden die Ereignisse im Wesentlichen chronologisch geschildert und diskutiert. Am Ende hat die Leser*in aber mehr als nur eine Vorstellung davon, was da Vielfältiges passiert ist, wie viel Phantasie, Kraft, Freude am Werk war, wie viel Repression ausgehalten und ins Leere laufen gelassen wurde, sondern man kann auch erahnen, um was es ging, welche Schwierigkeiten, Widersprüche, unerwarteten Entwicklungen ausgehalten und ins eigene Handeln und Urteilen integriert werden mussten, selbst wenn man nicht vor Ort war.

Ein Höhepunkt dieses Versuchs, Schwieriges verständlich zu machen, sind die beiden Gespräche mit Aktivist*innen über die „Welcome-to-Hell“-Demo (S. 170-182) und die Nacht von Freitag auf Samstag (S. 212-221). Leser*innen oder politische Aktivist*innen, die wie ich in ganz anderen Zusammenhängen politisch aktiv sind, werden vieles sehr anders einschätzen und beurteilen, als es die Protagonist*innen hier tun. Aber deren politisches Anliegen wird deutlich und es ist klar, wie sie sich als Teil der radikalen Linken verorten. Selbstverständlich fehlen die Stimmen nicht, die die riesigen Gegensätze dort ansprechen: „Direkt danach konnte ich allerdings mit manchen eher bürgerlichen Leuten nicht reden, ohne ihnen gleich an den Hals gehen zu wollen.“ (S. 182) Das war umgekehrt ganz sicher ebenso. Es geht nicht um das Zudecken von extrem scharfen Widersprüchen, sondern darum, nachvollziehen zu können, was die Aktiven antreibt.

Das gilt auch für die unterschiedlichen Einschätzungen innerhalb der autonomen/linksradikalen Szene selbst, wie an den Überlegungen zur Nacht im Schanzenviertel erkennbar wird. Ich zitiere drei Stimmen, ohne sie zu kommentieren. „Ich glaube, dass jede emanzipatorische Gewalt auch eine Verantwortung übernehmen beziehungsweise in der Lage sein muss, sich zu erklären. Sie muss den politischen Moment der Rebellion auch zu fassen wissen und diesen Diskurs auch mit einem Ziel führen.“ „Das ist eine politische Frage für mich: Wie gehen wir damit um, dass eine Minderheit von Leuten mit ihren militanten Aktionen alle anderen mit reinreißt, die da keinen Bock drauf haben?“ „Diese Haltung läuft darauf hinaus, den Leuten vorzuschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben, was richtig und falsch ist. Dem gegenüber vertrete ich klar einen antihegemonialen Anspruch. Das heißt: kein Führungsanspruch und keine Befriedung durch eine Straßenverkehrsordnung für Proteste.“ Ich bin gespannt, ob und wie diese Debatte fortgeführt wird und ob es irgendwann „möglich sein (wird), Essentials zu formulieren. Und dass es nicht in Ordnung ist, Wohnhäuser anzuzünden, ist ein solches Essential.“

Nun sollte keinesfalls der Eindruck aufkommen, dass das Buch eine öffentlich sehr stark vermittelte Sichtweise teile, die hinter den Gewaltszenen die Kreativität der Proteste unsichtbar macht. Genau das Gegenteil ist der Fall. Selbstverständlich wird die Einsatztaktik der Repressionskräfte deutlich gemacht, ihr phasenweise paramilitärisches Vorgehen, ihre skrupellose Missachtung von Recht und Gesetz, von Gerichtsurteilen und Verhältnismäßigkeit, der unbedingte Rachewille auch noch der Justiz im Nachhinein. Aber im Vordergrund steht die Kraft der Proteste. Das kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werden, aber ganz sicher gab es seit vielen Jahrzehnten in Deutschland kein Großereignis linken Straßenprotestes mit derart vielen, unterschiedlichen, selbstorganisierten, phantasievollen Aktionselementen außerhalb der traditionellen, eingespielten Formen. Und in zahlreichen Beiträgen wird erkennbar, was deren Aktivist*innen wesentlich mit angetrieben hat. Stellvertretend sei jemand aus dem GoGoGo-Herausgeberteam zitiert, der einen Rundgang durch ein halbes Dutzend alternative Zentren beschreibt: Dieser „hat exemplarische Orte der gelebten Utopie besucht, eine Stadt der Zukunft, die von unten wächst, wurde in Umrissen erkennbar, Vorschein einer besseren Welt. Zusammen mit den Camps, dem Medienzentrum FC/MC, linken Buchläden, freien Radios und Küfas schienen in ihnen Keimformen einer alternativen Vergesellschaftung auf. Sie sind nicht nur Inseln der Widerständigkeit, sondern zugleich Möglichkeiten des sozialen Experiments, in denen solidarische und egalitäre Formen des Zusammenlebens erprobt werden.“ (S. 71)

Und damit sind wir genau bei der eingangs gestellten Frage. Können wir uns wirklich Vergesellschaftung als Ansammlung von kleinen, unverbundenen Projekten vorstellen? Ich selbst war an der Organisation von ziemlich vielen Gipfel- und anderen Protesten beteiligt. Es gab immer bestimmte Stärken und Schwächen. Eine solche war häufig eine nur schmale aktive Basis vor Ort. Genau das war in Hamburg die entscheidende Stärke. Noch nie habe ich eine so lebendige und starke örtliche Protestkultur erlebt. Aber die blieb für sich. Es gab kaum Bemühungen, Akteur*innen von außerhalb der Stadt mit dieser lokalen Basis zu verbinden.

Es gab schon über ein Jahr vor dem Gipfel bundesweite Bestrebungen, eine gemeinsame Abspracheebene aufzubauen. Das war schwierig genug und wurde dadurch noch komplizierter, dass es in Hamburg keinen Ansprechpartner dafür gab. Die Hamburger Strukturen waren sich selbst offensichtlich genug und hatten ja insoweit auch Recht damit, als sie sehr erfolgreiche Proteste organisiert haben. Aber eine Vorstellung vom G20-Gipfel als bundesweitem Ereignis, dem man auch gemeinsam etwas entgegensetzen will, fehlte und fehlt nach wie vor. Deshalb taucht im Buch nirgendwo auch nur der Gedanke an so etwas wie ein Hamburger Plenum zur Vorbereitung oder Koordinierung der G20-Proteste auf. Gegenüber der von einigen NGOs sehr bewusst betriebenen Spaltung in „gute, gewaltfreie“ und „böse, gewalttätige“ Demonstrant*innen waren wir deshalb nicht gemeinsam handlungsfähig. Im Gegenteil, gelegentlich scheint bei einzelnen Protagonist*innen im Buch sogar eine Haltung durch, die bundesweite Protestaktionen und -akteure eher als (störende) Konkurrenz denn als Teil eines gemeinsamen Anliegens wahrzunehmen scheint.

Das Buch reflektiert dieses Thema nicht, obwohl gerade auch aus dem GoGoGo-Team Personen an einigen mehr oder weniger erfolgreichen Versuchen der Kooperation beteiligt waren. Das ist schade, denn damit wird eine Chance verschenkt, darüber nachzudenken, wie zukünftig solche ja eigentlich günstigen Voraussetzungen sinnvoll genutzt werden können, dass eine lebendige lokale Protestkultur und ein großes überregionales Interesse zusammenkommen.

Dennoch ist das Buch unbedingt zu empfehlen und wenn jemand sich bei dem einen oder anderen Beitrag, dieser oder jener Aussage mal ärgern sollte, dann entschädigt die extrem ansprechende ästhetische Gestaltung dafür mehr als umfassend.