Edward Said wurde 1935 in Jerusalem in eine christlich-palästinesische Familie geboren und wuchs in zwei britischen Kolonien – Palästina und Ägypten – auf. Mit 16 Jahren migrierte er nach Amerika, wo er u. a. an der Princeton University studierte und an der Harvard University zum Doktor der Literaturwissenschaft promoviert wurde. Seine erste Professur erhielt er an der Columbia University in New York, wo er bis zu seinem Tod im September 2003 lehrte. Der Ausbruch des Sechstagekrieges im Jahr 1967, der zur israelischen Besetzung des Westjordanlandes und des ägyptischen Teils Palästinas führte, markierte den Anstoß zu seinem lebenslangen politischen Engagement. Seit 1977 war er Mitglied des Palästinensischen Nationalrates (des ehemaligen PLO-Parlaments), den er jedoch 1991 aus Protest gegen die Osloer Friedensabkommen verließ. In den 70er-Jahren begann er sich mit zunehmender Intensität mit dem westlichen Diskurs über den Orient zu beschäftigen. Seine zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen in englischer und arabischer Sprache und seine autobiografischen Schriften machten ihn zum Inbegriff eines postkolonialen Intellektuellen, wobei seine weltweite Popularität 1978 mit der Veröffentlichung seines Hauptwerkes Orientalism einsetzte.[fn]Als Vorlage diente die Neuauflage Edward Said, Orientalismus, Frankfurt/M. 2009. An dieser Stelle sei kritisch angemerkt, dass bei der Übersetzung anstelle von „Islamwissenschaftler“ die durchaus verwirrende Bezeichnung „Islamisten“ verwendet wurde.[/fn]

„Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden.” Dieses Zitat von Karl Marx über die französischen Kleinbauern stellte Edward Said seiner Studie voran. Seine Analyse lässt sich jedoch nicht mit einigen prägnanten Kernaussagen zusammenfassen, da schon aufgrund der Heterogenität und Vielfalt der verwendeten Materialien nur mühsam eindeutige Prämissen erkennbar sind. Darüber hinaus sorgen nicht nachvollziehbare Bezüge und Anschauungen für zusätzliche Verwirrung. Eindeutiger Gegenstand der Studie ist jedoch der Orientalismus, an den Said seine LeserInnen mittels umfassender literaturwissenschaftlicher Analysen heranführen möchte. In seiner Einführung schreibt er: „Hier schon (spätestens jedoch am Ende dieser umfangreichen Studie) sollte dem Leser klar sein, dass ich mit Orientalismus mehrere, in meinen Augen eng miteinander verbundene Dinge meine.“ (S. 10) Diese „Dinge“, die den Orientalismus ausmachen, lassen sich auf drei Ebenen einordnen:

1. Die akademische Disziplin der Orientalistik (eine anachronistische Bezeichnung heutiger Orient-, Islam- und Regionalstudien), deren „akademischen Lehrsätze und Theorien“ des 19. und frühen 20. Jahrhunderts „über den Orient und das Orientalische“ weiterhin Autorität besitzen. 2. Eine Art zu denken, die sich auf eine „ontologische und epistemologische Unterscheidung“ zwischen einem mysteriösen, irrationalen und rückständigen Orient einerseits und einem fortschrittlichen, aufgeklärten Okzident andererseits stützt (S. 11). Said demonstriert an mehreren Beispielen, wie nach seiner Auffassung diese Art der Unterscheidung zwischen dem Okzident und dem essenzialisierten „Anderen“, dem Orient, die Werke von SchriftstellerInnen und Wissenschaftlern durchziehe. Sie ließe sich etwa bei „Aischylos und Victor Hugo, Dante und Karl Marx“ nachweisen (S. 11). 3. Diese Alteritätstheorie führt schließlich auch zu der von Said als „eher historischen und tatsächlichen Seite des Orientalismus“ bezeichneten dritten Ebene, nämlich dem imperialen und kolonialen Umgang mit dem Orient sowie den ihn stützenden Ansichten, Lehrmeinungen und Reglementierungen. „Kurz, der Orientalismus ist seither ein westlicher Stil, den Orient zu beherrschen, zu gestalten und zu unterdrücken.“ (S. 11) Demnach ist der Orientalismus also keine Chimäre westlicher Phantasie, sondern ein über Generationen gewachsener hegemonialer Diskurs über den Orient, der aufgrund seiner fortwährenden Systematisierung und Institutionalisierung bis heute „als offizieller Begriffsfilter für die westliche Sicht des Orients“ Gültigkeit hat (S. 15).

Methodisch orientierte sich Said an dem diskursanalytischen Ansatz von Michel Foucault und dem Hegemoniekonzept Antonio Gramscis. Zur Begründung seiner diskursanalytischen Herangehensweise stellte Said die These auf, „dass man den Orientalismus als Diskurs auffassen muss, um wirklich nachvollziehen zu können, mit welcher enorm systematischen Disziplin es der europäischen Kultur in nachaufklärerischer Zeit gelang, den Orient gesellschaftlich, politisch, militärisch, ideologisch, wissenschaftlich und künstlerisch zu vereinnahmen – ja sogar erst zu schaffen“ (S. 11). Daher analysiert er in seiner Studie nicht nur wissenschaftliche Abhandlungen, sondern auch literarische, politische und journalistische Publikationen und Reiseberichte. Die sprachlichen Repräsentationen des Orients in den untersuchten Werken sind keine bloßen Entsprechungen ökonomischer und politischer Faktoren und gegebener Realitäten, sondern es spiegeln sich in ihnen vielmehr die komplexen Auswirkungen der Kopplung von Wissen und Macht. Im Gegensatz zu Foucault ist Said jedoch nicht der Ansicht, dass dem einzelnen Text oder Autor nur eine geringe Bedeutung zukommt. Vielmehr betont er immer wieder den konkreten Einfluss einzelner Texte oder Autoren auf „eine Diskursformation wie jene des Orientalismus“ (S. 34). 

Einen weiteren methodischen Bezugspunkt stellt das Hegemoniekonzept des marxistischen Philosophen Antonio Gramsci dar, dem zufolge sich Hegemonie in nichttotalitären Gesellschaften als kulturelle Definitionsmacht einer sozialen Gruppe präsentiert und sich grundlegende Dynamiken von Überlegenheit und Unterordnung erkennen lassen. Said zieht daraus die Schlussfolgerung, „dass gerade das innen und außen wirksame Leitmotiv des Hegemonialen das Hauptmerkmal der europäischen Kultur bildet: die Vorstellung einer allen anderen Völkern und Kulturen überlegenen europäischen Identität“ (S. 16). Das Wissen über den Orient, welches aus einer Haltung der Überlegenheit generiert wurde, erzeugte das Bild eines unterwürfigen Orientalen, der jedoch selbst nicht zu Wort kommt. Die akademische Tradition der westlichen Orientalistik bzw. deren Wandlungen im 19. und 20. Jahrhundert stehen im Zentrum der Orientalismusstudie (S. 10). 

Aufgrund der enormen Materialfülle, aber auch wegen ihrer Dominanz bei der weltweiten Kolonisierung, richtete Said seinen Fokus insbesondere auf die „Gemeinsamkeiten der britischen, französischen und amerikanischen Wahrnehmung des Orients“ (S. 26). Mit dieser Entscheidung sparte er unter anderen die deutsche Orientalistik aus, der jedoch gerade seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine nicht zu unterschätzende Rolle zukam.[fn]Siehe dazu etwa: Loimeier, Roman, Edward Said und der Deutschsprachige Orientalismus: Eine Kritische Würdigung, Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien 2/2001, Jg. 1[/fn] Als weitere Abgrenzung musste Said seine „Fragestellung zusätzlich auf den Islam und die Araber fokussieren, die fast ein Jahrtausend lang für den Orient standen“. Auch wenn Said damit große Teile wie etwa Indien, China und Japan ausblendete, rechtfertigte er seine Auswahl unter anderem damit, dass „es durchaus möglich war, die europäische Wahrnehmung des Nahen Ostens oder des Islam ohne die Einbeziehung des Fernen Ostens zu begreifen“ (S. 27). Für diese zeitlichen, historischen, geographischen, aber auch subjektiven Beschränkungen wurde Said häufig kritisiert. Dazu muss jedoch gesagt werden, dass er nie beanspruchte, „eine umfassende Geschichte oder allgemeine Darstellung des Orientalismus zu bieten“ (S. 35). 

Als letzter methodischer Aspekt, der Saids Orientalismuskritik entscheidend beeinflusst hat, sei die persönliche Dimension des Unternehmens angeführt, da, wie er selbst kundtut, geisteswissenschaftliche Erkenntnisse niemals losgelöst von den persönlichen Lebensumständen ihres Urhebers betrachtet werden können. Sein persönliches Engagement in diesem Buch, so schreibt er in seiner Einführung, „ist in hohem Maße durch das Bewusstsein bestimmt, selbst ein ‚Orientale’ zu sein“ (S. 37). Die Kritik des US-amerikanischen Staatsbürgers palästinensischer Herkunft an der westlichen „Orientalisierung des Orients“ lässt sich daher auch mit seiner biographischen Herkunft sowie der Nachhaltigkeit politischer Einseitigkeiten insbesondere im Hinblick auf die Palästinafrage und den Nahostkonflikt begründen. 

Das Buch gliedert sich in drei Teile mit insgesamt zwölf Kapiteln. Im ersten Teil, „Die Bandbreite des Orientalismus“, werden vor allem historische, philosophische und geopolitische Phänomene der Thematik umrissen, wobei insbesondere das Expansionsstreben der Europäer im Zentrum der Untersuchung steht sowie die damit verbundenen Mechanismen der Repräsentation des Anderen, die zu einer der wichtigsten Fragen der postkolonialen Studien avancierte. Napoleons Ägyptenfeldzug im Jahre 1798 markiert in diesem Zusammenhang den Auftakt des modernen Orientalismus. Napoleons akribisch vorbereiteter Feldzug diente nicht nur der militärischen Besetzung des Landes, sondern darüber hinaus der Erforschung Ägyptens als Spezialgebiet der französischen Wissenschaft. Die Forschungsergebnisse der über 150 an der Expedition teilnehmenden Wissenschaftler (Historiker, Botaniker, Anatomen, Geographen u.a.) mündeten in dem vielbändigen Werk Description de l’Égypte.

Die durch die französische Invasion in Ägypten ausgelösten Entwicklungen zwischen Ost und West haben, so Said, die kulturellen und politischen Perspektiven nicht nur nachhaltig beeinflusst, sondern auch den Repräsentationsstil des Orientalismus grundlegend verändert und so eine koloniale Herrschaft erst ermöglicht (S. 56-57). Im zweiten Teil, „Strukturen und Strukturierungen des Orients“, behandelt Said die wichtigsten Denkströmungen des 18. und 19. Jahrhunderts, die zu den späteren intellektuellen und institutionellen Strukturen des Orientalismus beigetragen haben. Ausführlich geht er dabei vor allem auf übereinstimmende Repräsentationsmuster in den Werken prominenter Gelehrter und KünstlerInnen ein. Auch wenn sich in Vokabular, Begrifflichkeit und Methodik im ausgehenden 18. Jahrhundert allgemeine Säkularisierungstendenzen in der Orientalistik erkennen lassen, wurden diese, laut Said, von religiösen Impulsen unterwandert, die „direkt dem Bild des Orientalisten von sich selbst, vom Orient und von seiner Disziplin“ entsprangen. Als Pioniere dieser modernen Form des Orientalismus präsentiert Said den französischen Philologen und Arabisten Sylvestre de Sacy (1758-1838), den französischen Historiker und Religionswissenschaftler Ernest Renan (1823-1892) und den britischen Lexikographen und Orientalisten Edward William Lane (1801-1876). Der dritte Teil, „Orientalismus heute“, beginnt mit der Phase der großen kolonialen Expansion in den Orient und beschreibt den Übergang von einem „latenten“ Orientalismus, das heißt einer fast unbewussten binären Trennlinie zwischen dem „Eigenen“ und dem „Anderen“ im westlichen Denken, in einen „manifesten“ Orientalismus konkreter Aussagen und Handlungen der westlichen Kolonialmächte, wobei ersterer letzterem als Inspiration und Impulsgeber diente.

Auch wenn es bereits vor Saids Orientalismusthese Ansätze gegeben hat, die im Nachhinein in den Bereich der postkolonialen Kritik gerückt werden können – erinnert sei hier nur an die Theorien und Analysen des Psychiaters und antiimperialistischen Autors Frantz Fanon –, hat kaum eine Studie zuvor derartige Reaktionen im akademischen Bereich und darüber hinaus ausgelöst. Insbesondere aufgrund der These eines diskursiven Zusammenwirkens wissenschaftlicher Erkenntnisse und realpolitischer Maßnahmen wurde Saids provokante Studie vor allem von den klassischen Vertretern der westlichen Orient- und Islamforschung (allen voran Saids Erzrivale Bernard Lewis, dessen Thesen und Analysen Said im Hauptwerk sowie in seinem Nachwort von 1994 mehrere Passagen widmet) als unwissenschaftliche, mit fachlichen Mängeln durchsetzte Polemik zurückgewiesen. 

Es gab jedoch auch Kritik von arabischer Seite, sehr aufschlussreich ist zum Beispiel die Studie des marxistischen Philosophen Sadiq Jalal al-Azm Orientalism and Orientalism in Reverse.[fn]Siehe etwa: Al-Azm, Sadiq Jalal, Orientalism and Orientalism in Reverse. Reprinted in: Macfie, Alexander Lyon (Hg.), Orientalism. A Reader, New York, 2000, S. 217-238[/fn] Dass Saids diskursanalytische Methodik und seine hergeleiteten Thesen durchaus Angriffsflächen bieten und Defizite aufweisen, zeigt sich allein schon an der großen Anzahl von Diskussionen, Fragen und Kritiken, die seine Studie herausgefordert hat: etwa der Vorwurf der Homogenisierung der westlichen Orientalistik, der Ausblendung von Gegendiskursen, der Essentialisierung eines Ost-West-Diskurses – den Said meines Erachtens durch seine Polemik eigentlich bekämpfen wollte –, der Vernachlässigung genderspezifischer Aspekte bis hin zu dem absurden Vorwurf, Said hätte durch seine Orientalismustheorie der Ausbreitung eines radikal-islamistischen Fundamentalismus Vorschub geleistet. Diese Einwände und Kontroversen mindern jedoch nicht den inspirierenden und bahnbrechenden Charakter des Werkes, dessen Erscheinen vor über 30 Jahren zu einer radikalen Selbstreflexion kulturwissenschaftlicher Ansätze geführt und zur Dekonstruktion kolonialistischer Machtverhältnisse beigetragen hat – insbesondere hinsichtlich der Auseinandersetzung mit kulturellen Repräsentationen, ohne dabei essentialistischen Identitätsmustern und stereotypen Klischees vom „Anderen“ verhaftet zu bleiben.

Edward Said: Orientalismus, Übersetzung: Hans Günter Holl. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2009, 459 Seiten, (geb.), 24,95 Euro