Wir wissen, dass es unendlich viel schwieriger sein wird, das Abschlussreferendum zu gewinnen als das erste Referendum“, sagt Karina Nohales, Mitglied der feministischen Dachorganisation „Coordinadora Feminista 8 de Marzo“ (CF8M) und Mitarbeiterin von Alondra Carrillo (Verfassungskonventsmitglied für die CF8M). Damit bringt sie den Verlauf des Verfassungsprozesses auf den Punkt, der erst durch die Protestbewegung des „Chile despertó“, des „Chile ist aufgewacht“, möglich wurde. Millionen von Menschen hatten ab Oktober 2019 auf Chiles Straßen für eine gerechtere Gesellschaft protestiert, für eine Umgestaltung nach sozialen, feministischen, ökologischen Kriterien, für die Rechte indigener Gemeinschaften und die Einhaltung der Menschenrechte. Sie waren mit massiver Repression durch Polizei und Militär konfrontiert, über 30 Menschen kamen zu Tode, über 460 Personen trugen schwere Augenverletzungen oder den Verlust eines Auges davon, Tausende wurden verhaftet, viele in der Haft gefoltert oder vergewaltigt. Viele sind bis heute in Haft, die Verfahren laufen nur schleppend.

Bereits am 15. November 2019 einigten sich die Spitzen der meisten im Parlament vertretenen Parteien auf ein „Abkommen über den Frieden und die Neue Verfassung“.

Dieses Abkommen war ein Zugeständnis an die Protestbewegung, gleichzeitig war es jedoch sehr umstritten. Denn es sicherte das politische Überleben der damaligen rechten Regierung unter Sebastián Piñera, dessen Zustimmungswerte in der Bevölkerung zeitweise auf unter zehn Prozent gefallen waren. Die Proteste gingen weiter, bis die Pandemie sie 2020 ausbremste.

Beim ersten Referendum über den Verfassungsprozess am 25. Oktober 2020 stimmte eine überwältigende Mehrheit von etwa 78 Prozent für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, und zwar durch Personen, die extra dafür in einen Verfassungskonvent gewählt werden sollten, also keine Abgeordneten waren.

Im Mai 2021 wurde der Verfassungskonvent mit der weltweit einmaligen Vorgabe gewählt, dass die 155 Mitglieder geschlechterparitätisch, also je zur Hälfte aus Männern und Frauen zusammengesetzt und 17 Sitze für indigene Vertreter*innen reserviert sein sollten, die über separate indigene Listen gewählt wurden. Linke und parteiunabhängige Vertreter*innen erzielten eine Mehrheit der Sitze im Verfassungskonvent. Die politische Rechte erreichte weniger als ein Drittel der Sitze und kann inhaltliche Entscheidungen somit nicht selbstständig blockieren. Im Juli 2021 wählte der Verfassungskonvent die Linguistin und Vertreterin der indigenen Mapuche, Elisa Loncón Antileo, zur Präsidentin für die erste Hälfte des Arbeitszyklus. Ein starkes Zeichen in Chile, wo Indigene im offiziellen politischen Spektrum bis dahin nicht repräsentiert waren.

Die damalige Regierung unter Piñera kam ihrer gesetzlichen Pflicht zur Bereitstellung der Infrastruktur für die Arbeit des Verfassungskonvents von Anfang an nicht ausreichend nach. Jaime Bassa, der von Juli 2021 bis Januar 2022 Vizepräsident des Gremiums war, erklärte, die extreme Rechte innerhalb und außerhalb des Verfassungskonvents hätte mehrfach versucht, „den Verfassungsprozess zum Scheitern zu bringen, (…) denn sie vertreten immer noch das politische Projekt der Diktatur und deren Verfassung“.

Doch die Mitglieder des Verfassungskonvents erarbeiteten selbst ihr internes Regelwerk, legten Abstimmungsverfahren und dafür nötige Mehrheiten fest. In sieben thematischen Kommissionen diskutierten sie Verfassungsnormen vor, über die anschließend im Plenum debattiert und abgestimmt wurde – immer per Livestream im Internet übertragen. Sie etablierten ein Verfahren, in dem aus der Bevölkerung heraus Vorschläge für Verfassungsgrundsätze eingebracht werden konnten. Dabei erhielt der Vorschlag zur Wahrung reproduktiver und sexueller Rechte und zur Legalisierung von Abtreibungen als erster die benötigten 15000 Unterschriften – ein Ausdruck der starken Beteiligung feministischer Initiativen am aktuellen gesellschaftlichen Transformationsprozess.

Am 14. Mai 2022 stimmte der Verfassungskonvent über die letzten inhaltlichen Vorschläge ab und verabschiedete einen Entwurf mit insgesamt 499 Verfassungsnormen. Der Kernsatz in Artikel 1 lautet: „Chile ist ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat.“ Das beschreibt die Abkehr vom Prinzip des subsidiären Staates, der in der Verfassung von 1980 verankert ist und für ein Gesellschaftsmodell steht, in dem der Markt alles regelt und der Staat nur eingreift, wenn der Markt versagt. Weiter wird Chile als „solidarische Republik“ definiert, die sich zu Geschlechterparität und Plurinationalität bekennt und die Wahrung individueller und kollektiver Menschenrechte und die Rechte der Natur festschreibt. Soziale Rechte wie der Zugang zu Bildung, Gesundheit, Wohnraum und einem System für Pflege und Betreuung werden ebenso garantiert wie sexuelle und reproduktive Rechte und das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung und Streiks. Wasser und Luft werden als natürliche Gemeingüter definiert, die niemandes Privateigentum sein können. Eine Dezentralisierung des Staates mit weitgehenden Autonomierechten der Regionen und deren legislativer Vertretung in einer Kammer der Regionen wurde festgeschrieben. Außerdem soll der Senat als bisheriges Oberhaus des Zweikammerparlaments abgeschafft werden.

Eine „Harmonisierungskommission“ des Verfassungskonvents wird die 499 Verfassungsnormen nun redaktionell bearbeiten, gegebenenfalls vorhandene Widersprüche oder inhaltliche Lücken identifizieren. Alle Änderungen werden dem Plenum erneut zur Abstimmung vorgelegt. Eine weitere Kommission wird die Präambel, also das Vorwort zur neuen Verfassung schreiben, und eine dritte hat die wichtige Aufgabe, „normas transitorias“ zu verfassen, die den Übergang von der alten zur neuen Verfassung regeln sollen. Ohnehin müssen die Verfassungsgrundsätze erst mittels Gesetzen oder Dekreten umgesetzt, neue Institutionen gegründet und Verfahren dafür etabliert werden.

„Die neue Verfassung wird nicht sofort alle unsere Probleme lösen“, sagt Elisa Giustioanovich, Mitglied des Verfassungskonvents, bei einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung, „aber sie eröffnet uns die Möglichkeit und gibt uns die Werkzeuge, um Lösungen zu finden“. Denn die alte Verfassung, in der das Privateigentum mehr zählt als die Einhaltung der Menschenrechte, blockiert eine solidarische Transformation der Gesellschaft bis heute.

Die Bevölkerung wird am 4. September 2022 zum Referendum aufgerufen werden, einem symbolisch aufgeladenen Datum, denn am 4. September 1970 wurde Salvador Allende zum Präsidenten Chiles gewählt und damit die Regierungszeit des Linksbündnisses der Unidad Popular eingeleitet.

Umfragen wie die des rechten Instituts CADEM haben für das Referendum zuletzt eine Mehrheit von 46 Prozent für ein „Rechazo“, also eine Ablehnung des neuen Verfassungstextes, gegenüber nur 38 Prozent für ein „Apruebo“, also Zustimmung zur neuen Verfassung, ergeben, wobei auch der Anteil der Unentschiedenen mit 16 Prozent ausgesprochen hoch liegt. Andere Umfragen wie die von „datainfluye“ oder „tuinfluyes.com“ zeigen steigende Unzufriedenheit und Vertrauensverlust in die Arbeit des Verfassungskonvents sowie ein schwindendes Interesse am Verfassungsprozess insgesamt. Massiv dazu beigetragen haben medienwirksame rechte Hetzkampagnen in den großen Medien und auf Social Media gegen die neue Verfassung und gegen die Regierung Boric. Dabei setzt die politische Rechte stark auf einen Sicherheitsdiskurs, Chile würde bedroht durch Gewalt und angeblich den indigenen Mapuche zuzuschreibenden Terror, die Verfassung sichere den Indigenen hingegen zu viele Rechte zu. Außerdem werde Chile in wirtschaftlichem Chaos und Niedergang versinken, wobei auch gezielt Fake News lanciert werden (vgl. das folgende Interview mit Karina Nohales).

Die Teilnahme am Abschlussreferendum ist für alle in Chile lebenden wahlberechtigten Personen verpflichtend, für Chilen*innen im Ausland freiwillig möglich. Seit 2012, als die Wahlpflicht in Chile aufgehoben wurde, lag die Beteiligung selbst bei Präsidentschaftswahlen stets nur zwischen 41 und maximal 57 Prozent, ein Ausdruck von politischer Resignation und Misstrauen gegenüber Parteien und Institutionen. „Wir haben das Wahlverhalten der letzten Jahre analysiert und sind da grundsätzlich optimistisch“, sagt Karina Nohales. Doch für das Abschlussreferendum bleibe die Unsicherheit, wie die Personen abstimmen werden, die in den Jahren seit Beginn der sozialen Revolte nicht gewählt haben.

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