Jacobo Kaplan ist ein angesehenes Mitglied der jüdischen Gemeinde der kolumbianischen Küstenstadt Bellavista. Zumindest dachte das der betagte Einwanderer aus Polen lange Zeit. Doch inzwischen geben jüngere Leute, zwielichtige Neureiche, wie Don Jacobo meint, in der Gemeinde den Ton an. Dies missfällt dem alten Mann sehr. Noch verdrießlicher findet er den Zustand seiner eigenen Familie. Zwei seiner Kinder sind mit Nichtjuden verheiratet und damit für das Judentum verloren. Sein Sohn Isaac hat zwar eine Jüdin geehelicht, doch die kommt aus einer reichen sephardischen Familie Bogotás und die orientalischen Juden betrachtete Jacobo Kaplan stets misstrauisch. Sein Sohn Elías, der sich wegen seiner Intelligenz und seines Wissenshungers immer der besonderen Zuneigung des Vaters erfreute, kriegt indes- sen nichts auf die Reihe. Er widmet seine Zeit fantastischen Buchprojekten und Erfindungen, aus denen nie etwas wird. Elías’ Tochter Lotty ist ihrem Großvater zwar sehr zugetan, aber sie zeigt kaum Interesse an den jüdischen Traditionen und hat sogar Freundinnen mit palästinensischen Wurzeln. Don Jacobo hat das Gefühl, als Familienoberhaupt versagt zu haben. Das wird ihm besonders deutlich, wenn seine alten Bekannten im jüdischen Club mit ihren wohlgeratenen Kindern und Enkeln prahlen.
Deshalb wächst in ihm der Wunsch, allen – Gott, der Gemeinde und seiner Familie – noch einmal zu zeigen, was in ihm steckt, damit der Allmächtige ihm gnädig sein möge und die Nachwelt ihn als Menschen in Erinnerung behält, der Großes für das Judentum und das Volk Israel geleistet hat. Da er aufmerksam das Geschehen auf der Welt verfolgt, entgeht ihm nicht, dass in den Medien mehrfach über Gerüchte um eine nationalsozialistische Geheimorganisation in Südamerika berichtet wird, die plane, die Juden zu vernichten. Der Kopf der Gruppe, genannt der „Professor“, sei nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer Gruppe hochrangiger Nazis nach Südamerika gekommen und dort untergetaucht. Zufällig erwähnt Edith, die Haushaltshilfe von Don Jacobos Familie, an dem Strand, an dem sie ihre freien Tage verbringe, gäbe es ein kleines Restaurant, das ein alter Deutscher betreibe. Sofort mutmaßt Don Jacobo, das könne der „Professor“ sein. Aus der Ahnung wird für Don Jacobo absolute Gewissheit, als er erfährt, dass die besagte Strandbar den Namen Estrella trägt. Ein alter Historiker hatte im Radio behauptet, nach dem Krieg sei eine Gruppe von Nazis auf dem Frachter Stern, spanisch Estrella, nach Kolumbien gekommen.
Für Jacobo Kaplan ist klar, was er zu tun hat, den vermeintlichen Obernazi kidnappen und nach Israel bringen, damit er dort vor Gericht gestellt würde, so wie 1960 Eichmann aus Argentinien entführt und in Jerusalem abgeurteilt wurde. Wenn ihm das gelänge, hätte er für immer einen festen Platz in der Geschichte der Juden.
Da er Unterstützung für sein Vorhaben braucht, bittet er den Streifenpolizisten Contreras um Hilfe. Der ist ihm aufgrund einer alten Geschichte zu Dank verpflichtet und kann sein Ersuchen kaum ablehnen, obwohl ihm Don Jacobos Vermutungen um den „Professor“ mehr als merkwürdig vorkommen. So gehen Kaplan und Contreras auf Nazijagd. Eigentlich hat nur Don Jacobo dieses Ansinnen. Contreras sammelt eher Material, um seinem alten Freund zu beweisen, dass er auf dem Holzweg ist, und er folglich die ganze Sache abbläst. Das Don-Quijote-Sancho-Panza-Motiv ist offensichtlich: hier Don Jacobo, der ganz von seiner Mission erfüllt ist, dort Contreras, der zwar wenig belesen ist, aber mit seiner Bauernschläue längst kapiert hat, dass sein Chef gegen Windmühlen kämpft. Doch ebenso wie Sancho Panza sich loyal gegenüber Quijote verhält, tut dies auch Contreras gegenüber Kaplan. Der lässt sich unterdessen durch nichts beirren, weder durch die Einreisepapiere des Deutschen, die Contreras durch Bestechung beschafft hat und die belegen, dass er erst fünf Jahre nach Ankunft der „Stern“ in Kolumbien einreiste, noch durch die Information, der Deutsche habe das Lokal nach seiner Tochter Estrella benannt. Selbst die Fernsehnachricht über Nachforschungen der brasilianischen Polizei, wonach der Professor vermutlich schon vor Jahren in Amazonien gestorben sei, verunsichert Don Jacobo nur kurz. Schließlich gäbe es keinen endgültigen Beweis, dass der „Professor“ wirklich tot sei.
Also observieren Contreras und Kaplan weiterhin den Deutschen und planen dessen Entführung. Als der Tag gekommen ist, an dem die Aktion steigen soll, nähert sich der Deutsche, dem nicht verborgen geblieben ist, dass er beschattet wurde, seinen beiden Verfolgern und enthüllt seine wahre Identität… „Kaplans Psalm“ ist ein satirisch-melancholisches Buch, in dem es um das Leben in der jüdischen Diaspora, um das Alter und das Sterben geht, aber sicher nicht um das Aufspüren von in Südamerika untergetauchten Nazis. Der jüdisch-kolumbianische Autor Marco Schwartz erzählt sehr liebevoll die Geschichte eines alten Mannes, der sich aus Polen über Palästina nach Kolumbien durchgeschlagen hat, sich dort eine Existenz aufgebaut, zusammen mit seiner Frau Rebecca viele Kinder großgezogen und ihnen eine gute Ausbildung ermöglicht hat. Für ihn waren seine Religion und die Traditionen des Judentums immer Richtschnur des Handelns. Doch am Ende seines Lebens fühlt er sich alt, einsam und unnütz. Vermutlich fragen sich viele Menschen an der Schwelle des Todes, was sie in ihrem Leben vollbracht haben, was von ihnen bleibt, wenn sie nicht mehr sind. Die Antwort dürfte für die meisten unbefriedigend sein, nicht weil ihre Lebensbilanz wirklich so negativ wäre, sondern weil ihr Blickwinkel von ihrem prekären Zustand im Alter bestimmt ist. Betagte Menschen spüren, wie ihre körperlichen und häufig auch geistigen Kräfte nachlassen, und registrieren meist genau, wie ihre Umwelt darauf reagiert. Sie merken, dass sie weniger ernst genommen werden und dass man ihnen nicht mehr viel zutraut. Sie erleben auch, dass ihr Wertesystem jüngeren Menschen als überholt erscheint, vielleicht sogar belächelt wird. Eine Schlüsselpassage des Romans „Kaplans Psalm“ ist für mich ein Gespräch Don Jacobos mit seiner geliebten Enkelin Lotty, der er mitgeben will, wie sie als jüdische Frau leben soll. Doch was für ihn, den Migranten, wichtig und richtig war und ihm half, seine Identität zu bewahren, ist meilenweit von der Lebensrealität der selbstbewussten jungen Kolumbianerin entfernt.
Viele ältere Menschen reagieren auf den körperlichen Verfall und die rückläufige soziale Akzeptanz, indem sie sich immer mehr in sich zurückziehen. Andere wollen es allen noch einmal zeigen, ihrem Umfeld beweisen, was in ihnen steckt, und sich letztlich auch gegen den Tod auflehnen. Dann tun sie oftmals seltsame Dinge, die Geschichten über verrückte, starrsinnige Alte und ihre Handlungen kennen wir alle, haben vielleicht selbst Erfahrungen damit gemacht. Gut gemeinte Einwände von Familienmitgliedern und Bekannten tun sie ab, weil die von Leuten kommen, von denen sie sich längst nicht mehr ernst genommen fühlen. Das gilt vor allem für Männer, die von klein auf getrimmt waren, sich und anderen etwas beweisen zu müssen.
Und so geht Jacobo Kaplan an der kolumbianischen Karibikküste auf Nazijagd. Erst als er damit scheitert und eine letzte große Enttäuschung erlebt, kann er abtreten und akzeptieren, dass sein Weg zu Ende ist.
Marco Schwartz gelingt es, die Verwirrungen eines alten Mannes darzustellen und darüber zu schmunzeln. Gleichzeitig nimmt er dabei seinen Don Quijote und seine Motive immer ernst.
Einen solchen Roman zu verfilmen ist kein einfaches Unterfangen. Der jüdisch-uruguayische Regisseur Álvaro Brechner hat es versucht und es ist ihm nur sehr bedingt gelungen. Trotzdem ist seine Filmkomödie „Señor Kaplan” nach Angaben des deutschen Filmverleihs der international erfolgreichste uruguayische Film aller Zeiten. Obwohl sich Brechner im Plot bis auf den Ort der Handlung (er hat das Geschehen von der kolumbianischen Karibik an Uruguays Strände verlegt) und das wenig glaubwürdige Ende eng an die Romanvorlage von Marco Schwartz hielt, kann (oder will) er die Stimmung und das eigentliche Thema des Buches filmisch nicht ausdrücken und verfällt stattdessen allzu oft in Slapstick. (vgl. Beitrag über die Deutschlandpremiere auf S. 54) Dass der Film nicht ganz missraten ist, verdankt er der Leistung der SchauspielerInnen. Vor allem Rolf Becker als Darsteller des „Deutschen“ gelingt es nur durch seine Mimik und Gestik, die ZuschauerInnen bis zum Schluss im Unklaren zu lassen, ob der Mann aus der Strandbar nicht vielleicht doch der „Professor“ ist. Während den LeserInnen des Romans sehr schnell klar ist, dass Kaplan einem Phantom hinterherläuft, können sich die ZuschauerInnen des Films dessen nie ganz sicher sein.
Ein Ärgernis soll allerdings erwähnt werden. Der uruguayische Regisseur und Produzent Álvaro Brechner hat offenbar versucht, möglichst unter den Tisch fallen zu lassen, dass sein Film bis in die Details auf dem Buch von Marco Schwartz basiert. Peter Schultze-Kraft, der „Kaplans Psalm“ zusammen mit Jan Weiz ins Deutsche übertragen hat, berichtet, in der spanischen, englischen und hebräischen Fassung des Films sei der Roman nicht vertragsgemäß im Vorspann neben dem Drehbuchautor erwähnt. In der deutschen Version wird, unter anderem auf Intervention von Schultze-Kraft, im Vor- und Nachspann immerhin auf die Romanvorlage hingewiesen. Das alles ist zweifellos eine Unverschämtheit eines eitlen Regisseurs. Andererseits bin ich mir nicht sicher, ob es dem Buch „Kaplans Psalm“ nutzen würde, wenn er zu stark mit dem Film „Señor Kaplan“ assoziiert würde. Hätte ich zuerst den Film gesehen, hätte ich kaum Interesse gehabt, dessen literarische Vorlage zu lesen. Ich hätte einen eher schlichten, mäßig lustigen Unterhaltungsroman erwartet. Aber der Roman von Marco Schwartz ist weitaus mehr. Es ist ein wunderschön humorvolles und hintersinniges Buch, dessen Lektüre ich nur empfehlen kann.