Dass MigrantInnen die Literatur ihres Einwanderungslandes bereichern, ist weithin anerkannt. Üblicherweise versteht man darunter, dass MigrantInnen literarische Texte verfassen, die sich aus einem besonderen Blickwinkel mit Gesellschaft, Kultur und Sprache ihrer neuen Heimat beschäftigen. Seltener wird daran gedacht, dass MigrantInnen als VerlegerInnen tätig sind. So haben türkische oder türkischstämmige VerlegerInnen seit den siebziger Jahren in Deutschland zahlreiche Titel von AutorInnen aus der Türkei, im Original, in deutscher Übersetzung oder in zweisprachigen Ausgaben vorgelegt. Oder deutsche Flüchtlinge haben in Verlagen wie El Libro Libre in Mexiko oder Editorial Cosmopolita in Buenos Aires in den vierziger Jahren Titel antifaschistischer AutorInnen in deutscher Sprache herausgebracht. In der Regel verstanden und verstehen sich diese VerlegerInnen als kulturelle MittlerInnen zwischen dem Land, in dem sie geboren wurden, und dem, in das sie eingewandert sind.
Die Motivation des 1919 in Breslau geborenen Werner Guttentag, in seinem Exilland Bolivien Anfang der sechziger Jahre als Verleger tätig zu werden, war indessen eine ganz andere: Er wollte keine deutschsprachigen Bücher für die deutsche und österreichische Exilgemeinde verlegen und auch nicht den BolivianerInnen Literatur aus dem deutschsprachigen Raum durch spanische Übersetzungen nahebringen. Sein Ansatz erscheint auf den ersten Blick vermessen: Werner Guttentag wollte die intellektuelle und künstlerische Produktion Boliviens zugänglich machen.
Dies war indessen nicht die verrückte Idee eines missionarischen Europäers, sondern entsprang seinen langjährigen Erfahrungen als Buchhändler seit 1945 in Bolivien. Die aus der Mittel- und Oberschicht kommenden BolivianerInnen, die sich in seiner Buchhandlung umsahen, interessierten sich für die Kultur Europas und Nordamerikas, aber wenig für Boliviens Traditionen und kannten die meisten LiteratInnen ihres Heimatlandes kaum beim Namen, geschweige denn ihre Texte.
Werner Guttentag interessierte sich dagegen sehr für die Geschichte und Kultur des Landes, in dem er und seine Eltern Zuflucht vor dem Naziterror gefunden hatten und als Juden überleben konnten. Als 14-Jähriger war er Anfang 1933 zur Freien Deutsch-Jüdischen Jugend (FDJJ) in Breslau gestoßen. In der linken Jugendgruppe, zu der auch die ila-Autoren Stefan Blas und Ernesto Kroch gehörten, fand Werner Guttentag, der in der Schule wegen seiner jüdischen Herkunft zunehmend gemieden und beschimpft wurde, eine Gruppe, in der er sich wohl fühlte. Ihm gefielen die Radtouren und Ausflüge, vor allem aber die lebhaften Diskussionen. Als ich ihn 2005 in Cochabamba besuchte, erzählte er mir: „Dort habe ich meine intellektuelle Erziehung bekommen, wir haben intensiv über Musik, Literatur und Kunst gesprochen. Das hat mich für mein ganzes Leben geprägt.“
Die FDJJ organisierte nicht nur Radtouren und Wochenendfreizeiten, sondern auch Widerstandsaktionen gegen die NS-Diktatur, aus der sie die ganz jungen Mitglieder wie Werner Guttentag aber raushielten. Er erfuhr davon erst, als eine ganze Reihe von Gruppenmitgliedern, darunter Ernesto Kroch und Stefan Blas, Ende 1934 verhaftet wurden. Verunsichert setzte er sich daraufhin mit einem Freund in die Tschechoslowakei ab. Dort meinten die politischen Exilgruppen, die beiden Jungs seien in Breslau nicht akut gefährdet und sollten erst einmal zurückkehren, was sie auch taten. 1937 verließ Werner Guttentag Deutschland endgültig und ging über Luxemburg in die Niederlande. Dass er kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Europa verließ und in letzter Minute nach Bolivien emigrierte, verdankte er letztlich den niederländischen Militärbehörden: „Wir, eine Gruppe von Jungen, wollten ins holländische Militär, um gegen Hitler zu kämpfen. Die wollten uns aber nicht als Soldaten, sondern schlugen uns vor, als Erntehelfer in der Landwirtschaft zu arbeiten.“ So hatten sich die jungen Antifaschis-ten den Kampf gegen die Nazis nicht vorgestellt. Werner Guttentag folgte daher lieber seinen Eltern, die ein Jahr zuvor nach Bolivien geflohen waren und ihm ein Einreisevisum besorgt hatten.
Wie viele EmigrantInnen hielt er sich zunächst mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Er arbeitete in Cochabamba bei einem Juwelier, dann als Angestellter bei einer Bergwerksgesellschaft in Oruro. Doch seine Leidenschaft waren Bücher. „Ich habe eine Zeitlang in Oruro gelebt. An den Sonntagen, wenn ich frei hatte, bin ich zu dem dortigen Buchhändler gegangen und habe ihm geholfen, die Pakete aufzumachen.“ 1945 konnte er dann in Cochabamba selbst eine Buchhandlung eröffnen, der später weitere in allen wichtigen Städten Boliviens folgen sollten. Seiner Buchhandelskette gab er den Namen Los Amigos del Libro (Die Freunde des Buches). Obwohl seine Geschäfte nicht schlecht liefen, war er nicht ganz zufrieden: „Als ich dann mit Büchern handelte und sah, dass ich nur das verkaufen konnte, was mir angeboten wurde, und mir davon vieles nicht gefiel, dachte ich mir, das wirklich Interessante, das Schöpferische wäre, Bücher zu verlegen. Mit einem Freund haben wir überlegt, was man für Bolivien machen könnte. Bolivien galt in seinen Nachbarländern und erst recht in Europa als rückständig. Auch viele gebildete BolivianerInnen teilten diese Sicht. Aber es gab auch in Bolivien Hunderte, Tausende von Leuten, die Bücher schrieben, über Musik, über Medizin, natürlich auch Literatur. Da sagten wir uns: ,Zeigen wir der Welt, was in Bolivien intellektuell geleistet wird.’“ 1962 gab Werner Guttentag die erste Bio Bibliografía Boliviana heraus, in der alle Bücher aufgeführt waren, die in Bolivien erschienen waren. Von da an publizierte er regelmäßig eine Bibliographie mit den Neuerscheinungen des jeweiligen Jahres. Später enthielten die Bände auch Kurzbiographien der AutorInnen und Inhaltsangaben aller aufgeführten Titel, die fünf MitarbeiterInnen verfassten.
In Bolivien gab es immer wieder Militärdiktaturen, unter denen es schwierig war, bestimmte kritische Titel zu veröffentlichen. „Während der Diktaturen habe ich nicht nur die offiziellen Bücher in die Bibliographie aufgenommen, sondern auch die im Untergrund publizierten illegalen Bücher. Da die Militärs nicht viel gelesen haben, haben sie das nicht mitbekommen.“ Dennoch landete er einmal für eine Woche im Knast. Bei einer Hausdurchsuchung bei jemandem, dem vorgeworfen wurde, mit der Guerilla zu tun zu haben, fanden die Militärs einen von Werner Guttentag ausgestellten Scheck. Dieser wurde daraufhin unter dem Vorwurf verhaftet, die Guerilla zu finanzieren. Dabei handelte es sich bei dem Scheck um das Autorenhonorar, das der Mann für ein Buchmanuskript erhalten hatte.
Vielleicht noch wichtiger als die Bio Bibliografía Boliviana war für das Land die ebenfalls von Guttentags Verlag Los Amigos del Libro herausgegebene Enciclopedia Boliviana, eine gigantische Edition zu allen Bereichen der Geschichte, Ökonomie, Politik, Wissenschaft und Kultur Boliviens: Insgesamt 80 Bände, die einzeln verkauft wurden. Darunter waren eine mehrbändige Geschichte Boliviens, eine ebenso umfangreiche Literaturgeschichte, eine Geschichte der bolivianischen Musik und der MusikerInnen, eine Geschichte des politischen Denkens in Bolivien, eine Geschichte seiner Folklore, eine Gesamtgeschichte der Bildenden Kunst Boliviens, ergänzt durch eine Darstellung seiner zeitgenössischen Kunst, eine Geschichte der Landwirtschaft, ein Wörterbuch der bolivianischen Spracheigentümlichkeiten, ein Buch zur Hexerei und traditionellen Medizin in der Kolonialzeit, ein Band zur Geographie des Landes, Anthologien bolivianischer Erzählungen, Frauenliteratur, Lyrik und eine mit Literatur der Indígenas. Im Rahmen der Enciclopedia erschien auch eine vierbändige Geschichte der bolivianischem Arbeiterbewegung, verfasst von Guillermo Lora, dem historischen Führer der „Revolutionären Arbeiterpartei“ (POR): „Lora war Vorstitzender der trotzkistischen Partei, ein sehr kluger und belesener Mann. Die Geschichte der Arbeiterbewegung sollte zuerst nur ein Band werden, aber da Lora immer mehr schreibt als geplant, wurden es vier Bände. Aber der vierte Band war nur noch Polemik gegen die anderen linken Parteien, da war von Geschichte nichts mehr drin. Da habe ich dann ,Halt’ gesagt. Vom vierten Band sind noch viele übrig, während die ersten beiden Bände schon lange vergriffen sind.“
Auch die Förderung der Literatur lag ihm am Herzen. Er publizierte nicht nur im großen Umfang bolivianische AutorInnen, sondern stiftete in den sechziger Jahren auch einen Literaturpreis, den Premio Erich Guttentag, benannt nach seinem verstorbenen Vater. Eine Jury aus hochrangigen SchriftstellerInnen und LiteraturwissenschaftlerInnen wählte jedes Jahr einen jungen Autor/eine junge Autorin aus, der/die mit dem Preis ausgezeichnet wurde. Für fast alle wichtigen SchriftstellerInnen Boliviens stand der Premio Erich Guttentag am Anfang ihrer literarischen Laufbahn.
In den sechziger Jahren liefen Guttentags Buchhandlungen und der Verlag gut. Wie überall in Lateinamerika wurden mehr ausgebildete Leute gebraucht und die Universitäten auch für Leute aus der unteren Mittelschicht und teilweise den Unterschichten geöffnet. Diese neuen StudentInnen und AkademikerInnen waren weit weniger nach Europa orientiert, interessierten sich stärker für ihre eigene Realität. Es war die Zeit des weltweiten politischen Aufbruchs, der auch Bolivien erfasste. Es war eine gute Zeit für Guttentags ambitioniertes Verlagsprogramm, die Titel seiner Enciclopedia und die belletristischen Bücher. Das änderte sich mit den neoliberalen Reformen in den Achtzigern. Die unteren Mittelschichten verarmten, der Kauf von Büchern wurde zum Luxus. Die Wohlhabenden interessierten sich mehr für internationale Bestseller, die Werner Guttentag wegen der hohen Kosten für die Lizenzen nicht herausbringen konnte und wohl auch nicht wollte. Er habe auch einige Entwicklungen verschlafen, meinte er. Er habe zu lange so weitergemacht wie in den siebziger Jahren und viel zu hohe Auflagen gedruckt. Auch habe er zu spät Computer angeschafft. So geriet sein Verlag zunehmend in die Krise und konnte in den letzten Jahren kaum mehr etwas publizieren. Die Bio Bibliografía wurde vor einigen Jahren eingestellt, auch der Premio Erich Guttentag konnte in den letzten Jahren nicht mehr verliehen werden. Seine Töchter führen die Buchhandlungen weiter, einige Filialen mussten aber geschlossen werden. Die Buchhandlungen sehen sich auch mit der Konkurrenz der informellen Überlebenswirtschaft konfrontiert: Erfolgreiche Bücher erscheinen als Raubdrucke und werden auf der Straße wesentlich günstiger angeboten als in den Buchhandlungen.
Während es geschäftlich für Werner Guttentag in den letzten Jahren nicht sehr gut lief und er sich um den Fortbestand seines Lebenswerks sorgte, wurden ihm zahlreiche Ehrungen zuteil: Er erhielt den Condor de los Andes, die höchste Auszeichnung Boliviens, die Stadt Cochabamba ernannte ihn zum Ehrenbürger, die bolivianische Post veröffentlichte 1998 eine Sondermarke mit seinem Konterfei. Diese Ehrungen bedeuteten für ihn eine große Genugtuung. Sie zeigten, dass Bolivien ihn, den jüdischen Flüchtling aus Breslau, anerkannte und seine großen Leistungen würdigte. Werner Guttentag starb am 2. Dezember 2008 in Cochabamba im Alter von 89 Jahren.
In der ila 244 (April 2001) ist ein langes Interview von Alix Arnold mit Werner Guttentag erschienen.