Andreas: Wo fangen wir an? Vielleicht am Anfang? Woher kommt ihr? Antonia: Und seit wann lebt ihr in Cali?

Anid: Das ist eine sehr persönliche Geschichte. Wir kommen aus einer Bauernfamilie aus der Gemeinde Suárez im Departement Cauca, südlich von Cali. Wir sind damals im Alter von neun und elf Jahren aus unserem Dorf nach Popayán gegangen. Wir gehören damit zu einer Generation junger Mädchen, von denen ein Großteil zur Hausarbeit bei wohlhabenderen Familien in den Städten angeworben wurde. Meine Eltern und andere Familien auf dem Land waren damals sehr ignorant und naiv. Sie glaubten, ihren Kindern damit ein besseres Leben zu ermöglichen. Die katholische Kirche überzeugte meine Eltern davon: „Sie würden der Familie einen Gefallen tun, wenn Sie Ihre Kinder in die Stadt schicken, wo sie eine gute Schule besuchen könnten.“ Die Bedingungen dafür waren hart. Wir mussten rund um die Uhr als Hausangestellte in Familien arbeiten. Wir lebten bei den Familien. Vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche, und arbeiteten den ganzen Tag im Haushalt. Zeit für die Schule blieb uns lediglich am Abend und in der Nacht. 

Oneida: Später sind wir dann nach Cali gegangen, weil wir gehört hatten, dass die Stadt aufregend und gastfreundlich sei. Cali klang nach einem besseren Leben in einer modernen Stadt. Dort würde viel besser bezahlt. So der Traum von Cali. Wir folgten diesem Traum und kamen hierher. Da wir nichts gelernt hatten, arbeiteten wir auch in den folgenden Jahren weiter als Hausangestellte. In der Zeit des florierenden Drogengeschäfts in Cali, also vor rund 30 Jahren, wurden tatsächlich ganz gute Gehälter bezahlt. Viele Familien konnten sich damals Hausangestellte leisten. Mit dem Ende des Drogenkartells und der Flüchtlingsströme durch interne Vertreibung nahm der Wettbewerb im informellen Sektor zu, sodass die Löhne in den Keller gingen. Konnte man früher 30 000 COP (ca. 11 Euro) pro Tag verdienen, so sind es heute manchmal nur noch 10 000 COP (ca. 4 Euro). Außerdem können sich viele Familien ihre Hausangestellten nur noch für ein paar Stunden am Tag leisten. Die Nachfrage ist im Vergleich zu vor 30 Jahren stark zurückgegangen.

Antonia: Wie müssen wir uns die Arbeit als Hausangestellte vorstellen? Was sind eure Aufgaben und Arbeitsbedingungen?

Anid: In Kolumbien ist es für Familien der Mittel- und Oberschicht gängig, den Angestellten die komplette Hausarbeit und sogar die Kindererziehung zu übertragen. Die Hausangestellten leben in einem absoluten Abhängigkeitsverhältnis von ihren ArbeitgeberInnen. Wir unterscheiden zwischen denen, die in den Familien leben, und denen, die nur stundenweise beschäftigt werden. Die internas verbringen ihre komplette Lebenszeit bei der Familie, in der sie arbeiten. Meist sind sie rund um die Uhr in Bereitschaft. Häufig haben sie nur alle sieben Tage ein paar Stunden frei und die meisten haben keine geregelten Arbeitszeiten. Dafür bekommen sie neben dem Lohn Mahlzeiten und Unterkunft – sie wohnen in einem winzigen Zimmer mit in der Wohnung.[fn]Zu diesem Zweck sind schon die Wohnungen der kolumbianischen Mittel- und Oberschicht architektonisch ausgerichtet. Hinter der Küche befinden sich meist eine Nische zum Wäschewaschen und daneben eine winzige Kammer mit eigener Toilette.[/fn] Die Anstellung ist fast immer informell, das heißt es gibt lediglich mündliche Verträge und Abmachungen. Die meisten trauen sich nicht, ihre Rechte einzufordern oder Verantwortungsbereiche zu klären, weil sie Angst haben, ihre Anstellung zu verlieren. Es gibt sogar Fälle, in denen die Hausangestellten nicht einmal das Haus verlassen dürfen. Deshalb kam es beispielsweise in Cali zu einem tragischen Unfall, als ein Mädchen aus dem Fenster geklettert und dabei abgestürzt ist. Tragisch ist auch, dass die meisten Hausangestellten selbst Kinder haben, die bei ihren Eltern beziehungsweise anderen Angehörigen oder sogar selbst in Kinderheimen leben müssen.

Antonia: Kommen wir zu eurer politischen Arbeit. Wie könnt ihr euch gegenseitig helfen? Und wie könnt ihr unter diesen Bedingungen Frauen und Mädchen unterstützen? 

Oneida: Das hat alles mit dem Zentrum zur Unterstützung von Frauen und Kindern (CAMIN) begonnen. Sie organisierten landesweit Aktionen zur Verbesserung der sozialen Arbeitsbedingungen im Bereich der Hausarbeit in Kolumbien. Dazu gehörten Fortbildungen für Frauen im Bereich Arbeitsrecht, also zu Bezahlung, Recht auf Urlaub etc. Wir haben dort gelernt, wie wir in der Stadtpolitik unser Recht auf Partizipation einfordern können, aber auch der Aufbau von Interessenorganisationen wurde gefördert. Daraufhin gründeten wir die Vereinigung der bezahlten Hausangestellten, die es uns erstmals ermöglichte, unsere Interessen in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Wir beteiligten uns beispielsweise an der Verfassunggebenden Versammlung, an der Ausarbeitung des Sozialgesetzes und vor allem machten wir unglaublich viel Pressearbeit, damit die Gesellschaft überhaupt von unserer Existenz als Menschen in krassen Notlagen Notiz nahm. 

Anid: Dabei geht es uns bis heute auch um die Verbesserung unseres Images. Wir folgen in der sozialen Hierarchie direkt den Prostituierten, wir stehen also auf der untersten Stufe. Gesellschaftlich ist unsere Arbeit extrem stigmatisiert. Der einsetzende Organisationsprozess war von enormer Bedeutung für uns. Mit der Arbeit im Team, mit dem Austausch mit Frauen mit dem gleichen Schicksal begann auch ein Prozess der eigenen Anerkennung und Selbstwertschätzung. Im Jahr 2003 gründeten wir dann im Rahmen eines Programms zur kommunitären Förderung und Zusammenarbeit das Movimiento de Mujeres Populares e Inmigrantes de Cali – MMPI (Bewegung der popularen Frauen und Immigrantinnen). Diese Organisation dient als Dachorganisation für zahlreiche Initiativen und Frauengruppen. 2008 sind wir als Verein rechtlich anerkannt worden.

Andreas: Was macht ihr als Basisorganisation?

Anid: In erster Linie sind wir eine lokale Frauenorganisation und begreifen uns in der MMPI als Teil einer größeren politischen Bewegung. Wir wollen Einfluss auf die Öffentlichkeit und die Politik in Cali nehmen und fordern unsere Mitspracherechte in der Stadtpolitik ein. Wir nehmen am städtischen Ausschuss der Frauenorganisationen teil. In diesem Ausschuss sitzen vor allem Frauen aus den zentralen Stadtteilen, Intellektuelle. Die haben mit unserer Lebensrealität und unseren Kämpfen als informelle und nicht ausgebildete Arbeiterinnen an der Basis wenig zu tun. Im Ausschuss bringen wir verschiedene Projekte ein, die finanzielle Mittel benötigen. Beispielsweise konnten wir Stipendien erkämpfen, um Mädchen das Studium an der öffentlichen Universidad del Valle zu ermöglichen. Als kommunale und kommunitäre Bewegung arbeiten wir direkt mit der Gemeinschaft zusammen und versuchen, alle Beteiligten in unsere Aufklärungskampagnen einzubeziehen. Es genügt uns nicht, am Frauentag oder Muttertag auf die Straße zu gehen. Es geht darum, den Machismo in der Gesellschaft zu bekämpfen. Deshalb veranstalten wir auch Workshops mit den Männern unserer Gemeinden, und das nicht nur in Cali, sondern auch in unseren Heimatdörfern. Ziel dieser Workshops ist es, die gesellschaftliche Arbeitsteilung im Haushalt zu thematisieren und die Männer in Sachen Frauenrechte und Geschlechtergleichheit fortzubilden.

Oneida: Schwerpunkt unserer lokalen Arbeit ist nach wie vor die Rechtsberatung für Hausangestellte, auch weil wir in diesem Bereich die meiste Erfahrung haben. Wir klären die Frauen über ihre gesetzlich festgeschriebenen Rechte auf, um die Formen der modernen Sklaverei zu verhindern. Bei Verstößen gegen grundlegende Rechte versuchen wir gegebenenfalls, zu intervenieren und die Betroffenen zu begleiten. In unseren Workshops und Fortbildungen klären wir aber nicht nur über Arbeitsrecht, sondern auch über häusliche Gewalt und Gewaltprävention auf.

Andreas: Wie können Frauen diese Unterstützung in Anspruch nehmen? Wir kommt ihr in Kontakt, besonders mit Frauen, die kaum das Haus verlassen können?

Anid: Die meisten erfahren von unserer Organisation durch Mund-zu-Mund-Propaganda oder durch unsere Informationszettel. Leider haben wir kein Büro und keine lokale Beratungsstelle. Kurzzeitig hatten wir mal Räumlichkeiten, konnten diese aber nicht finanzieren. Seit wir diese nicht mehr haben, versuchen wir dort zu sein, wo die betroffenen Frauen arbeiten oder ihre freien Stunden verbringen. Wir passen uns den Bedingungen des Lebens der Hausangestellten an, um sie zu erreichen. Aber die Arbeitszeiten sind ein großes Hindernis für die Teilnahme an Aktionen und Veranstaltungen. Also treffen wir uns meistens am Sonntag, wenn die Hausangestellten ihren Arbeitsort verlassen können. Wir treffen uns in Turnhallen, Sportanlagen oder Gemeindehäusern.

Andreas: Wir haben von eurem Projekt über Mikrokredite gehört. Was hat es damit auf sich?

Oneida: Auf dieses Projekt sind wir ehrlich gesagt sehr stolz, weil wir es selbst unseren Bedürfnissen gemäß entwickelt haben. Es hat nichts mit Mikrokrediten ausländischer NRO zu tun, sondern basiert auf der Idee solidarischer Ökonomie. Die meisten NRO, die in unser Viertel kommen und Projekte mit viel Geld durchführen, verschwinden danach wieder, ohne dass ihre Arbeit nachhaltige Wirkung zeigt. Wir halten nicht viel von dieser Form der sozialen Intervention, sondern vertrauen auf unsere Basisarbeit. Konkret begann alles damit, dass wir vor fünfzehn Jahren mit mehreren Hausangestellten eine „Sparkette“ (cadena de ahorro) gegründet haben, um wirtschaftliche Autonomie und Unabhängigkeit zu erlangen. Jede von uns zahlt monatlich ein. Auf diese Weise können wir uns so zum Beispiel gegenseitig auch größere Beträge zu den Bedingungen leihen, die wir selbst bestimmen. Wir wollten unser Geld selbst verwalten und für Dinge ausgeben, die wir für richtig halten.

Antonia: Wie funktioniert diese „Sparkette“?

Anid: Sie basiert auf dem Prinzip der Solidarität. Wir sprechen von einer „Sparkette“, weil mittlerweile zwischen 30 und 35 Frauen in den Fonds einzahlen und daran partizipieren. Wir sparen gemeinsam im Kollektiv und jede zahlt dementsprechend, wie viel Geld sie zur Verfügung hat. Wichtig ist nur, dass jede regelmäßig einen Teil ihres Lohnes beisteuert. Wenn jemand einen Betrag aus dem Fonds benötigt, entscheiden wir gemeinsam darüber und besprechen sowohl die Ausgaben als auch die möglichen Raten der Rückzahlung, natürlich ohne Zinsen. Das erfordert einen hohen Grad an gegenseitigem Respekt und vor allem Vertrauen zwischen den Frauen. Die Erfahrung der letzten fünfzehn Jahre zeigt uns, dass dieses Prinzip hervorragend funktioniert. Wir sind alle weniger von Banken abhängig und verwalten unser Sparguthaben gemeinsam im Kollektiv. Gleichzeitig können wir über Beträge für persönliche Investitionen verfügen, die wir allein nie ansparen könnten. Außerdem würde wohl keine Bank jemandem aus Aguablanca einen Kredit geben.

Antonia: Aguablanca. Erzählt uns bitte mehr von diesem Stadtteil, der für die meisten Caleños der Inbegriff der Gefahr ist!

Anid: In Aguablanca leben überwiegend intern Vertriebene, vor allem AfrokolumbianerInnen. Sie sind Opfer des Bürgerkrieges in Kolumbien und kommen aus den Konfliktregionen am Pazifik, aus dem Chocó, aus Nariño oder dem Cauca. Aguablanca gehört zu den ärmsten und prekärsten Regionen Calis. Ebenso fatal ist die Stigmatisierung, denn für die meisten Caleños gehört Aguablanca nicht zu Cali. Es gibt keine Jobs. Arbeit in anderen Vierteln zu finden ist schwierig, wenn du hierher kommst oder hier eine Adresse hast. Das bringt eine ganze Reihe sozialer Probleme mit sich. Der Drogenkonsum ist vor allem unter jungen Menschen verbreitet. Ihre sozioökonomische Reintegration ist schwierig und für viele scheint ihre Lage aussichtslos. Daraus entsteht eine Frustration über die eigenen Lebensbedingungen insgesamt, die wiederum zu einem hohen Gewaltpotenzial führt. All dies ist insbesondere für Kinder ein schwieriges Umfeld zum Aufwachsen. Eine besondere Aufgabe ist für uns deshalb die Gewaltprävention in den Familien. 

Oneida: Für viele Menschen aus Aguablanca ist aber auch Cali eine andere Welt. Auf dem Weg zur Arbeit sagen sie, dass sie nach Cali fahren. Obwohl Aguablanca ja ein Teil von Cali ist.

Anid: Für uns gibt es auch ein Leben außerhalb von Aguablanca. In Cali gibt es viele Orte zur Erholung, kulturelle Events, Freizeitmöglichkeiten – manche sind umsonst. Wir gehen beispielsweise gern in die Bibliothek, es gibt Filme und Theatervorführungen. Wir sind gern in den grünen Vierteln wie San Antonio, Ciudad Jardín und Santa Rita oder auf dem Loma de la Cruz. Leider können sich viele Menschen aus Aguablanca schon allein das Ticket für den Bus nicht leisten.[fn]In den genannten Stadtteilen leben vor allem Reiche, die Hausangestellte beschäftigen. Die Stadtteile Ciudad Jardín und Santa Rita werden von luxuriösen Wohnanlagen und Stadtvillen der Oberschicht dominiert. San Antonio und der Loma de la Cruz befinden sich gegenwärtig in einer starken Aufwertung.[/fn]

Andreas: Vielen Dank, dass ihr euch für das Interview Zeit genommen habt.
Antonia: Herzlichen
 Dank für den Einblick in eure beeindruckende Arbeit.

 

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