Camila Vallejo, seit fünf Monaten gehen chilenische StudentInnen auf die Straße, um gegen ein ungerechtes Bildungssystem zu protestieren. Die Bewegung wächst täglich. Was sind die Gründe für die Unzufriedenheit, die die Studiereden und zunehmend breite Sektoren der chilenischen Bevölkerung auf die Straße treibt?
Das in Chile vor dreißg Jahren eingeführte Bildungssystem befindet sich in einer tiefen Krise. Wir sind eines der ungleichsten Länder der Welt. Das Erziehungssystem hat diese Ungleichheit reproduziert, indem es das öffentliche System geschwächt und das private ohne jedwede Regulierung ausgeweitet hat. Das hat unter anderem zu ungleichem Bildungszugang, Chancenungleichheit, schlechten Schulen und Verschuldung geführt, weil die Finanzierung zum größten Teil von privater Seite kommt. Hinzu kommt eine sehr schwache Demokratie. Unsere Bewegung hat vor fünf Monaten begonnen. Seither war unsere Demokratie nicht in der Lage, auf die sehr klaren Forderungen einer ausdrücklichen gesellschaftlichen Mehrheit einzugehen, die dringend Antworten auf die strukturelle Krise im Bildungssystem fordert, und zwar über die Stärkung der Rolle des Staates als Garant bei der Bereitstellung öffentlicher kostenloser Bildung für alle ChilenInnen.
Wir sind hier, weil wir in Chile auch nach fünf Monaten massiver und historisch einmaliger Mobilisierungen kein Gehör gefunden haben. Deswegen müssen wir das, was in Chile passiert, nach außen tragen. Wir suchen Unterstützung und Mitarbeit von internationalen Organisationen, von denen wir wissen, dass sie unsere Diagnose teilen und überall in der Welt dafür eintreten, dass Bildungsrechte als Menschenrechte mit universeller Geltung geachtet werden.
Inwieweit ist der Funke übergesprungen? Es geht bei den derzeitigen Mobilisierungen offenbar nicht mehr allein um Forderungen im Bildungsbereich?
In der Bewegung sind inzwischen viele Sektoren vertreten. Denn das Bildungsproblem ist ein gesellschaftliches Problem, nicht nur ein Partikularinteresse von StudentInnen, ProfessorInnen, also von AkademikerInnen. Wir haben eine andere Vorstellung davon, wie unsere Gesellschaft aussehen soll, wir wollen eine andere Entwicklung über ein anderes Bildungssystem, die nicht nur Fachkräfte und TechnikerInnen hervorbringt, die sich den alltäglichen Herausforderungen unseres Landes stellen können, sondern die auch eine Ausbildung zum kritischen Staatsbürger/zur kritischen Staatsbürgerin haben. Das ist derzeit nicht garantiert. Deswegen ist eine Mehrheit der Bevölkerung auf unserer Seite. Hier sind vor allem die Familien zu erwähnen, die uns über all die Monate schon unterstützen.
Francisco Figueroa, warum war es nötig, mit euren Forderungen nach Europa zu kommen?
Tatsächlich haben uns unsere Regierung und unsere politische Klasse keine andere Alternative gelassen. Sie sind unfähig, ein anderes, mit breiten Kreisen der Gesellschaft ausgehandeltes Projekt für die Zukunft zu entwerfen. Uns blieb nichts anderes übrig, als herzukommen, um in Ländern, die ein hohes Entwicklungsniveau wie in Europa haben, etwas über Zustände, Modelle und auch Fehler zu erfahren: damit wir aus diesen Elementen Projekte aufbauen können, die unsere PolitikerInnen nicht zu Wege bringen.
Denn sie sind vernebelt von der Politik im Kleinen, schielen mit dem Taschenrechner in der Hand auf Umfrageergebnisse. Deswegen müssen wir als StudentInnen- und als soziale Bewegung konkrete Vorschläge – im Hinblick auf eine Bildungsreform –, aber auch ein politisches Projekt entwickeln. Schließlich versagt unsere Demokratie in diesem Punkt. Wir sind aber auch gekommen, weil ein 30 Jahre altes Projekt darauf baut, dass der Markt das Recht auf Bildung garantiert. Wir glauben, dass der Markt gescheitert ist. Das ist keine Überzeugung, die auf Ideologie gründet, sondern das hat sich deutlich gezeigt. Im Bildungsbereich hat der Markt ein fürchterlich ungleiches System hervorgebracht. Er hat die eigentliche Aufgabe der Universitäten beeinträchtigt. Er befördert kein Wissen, das das Land braucht, um sich zu entwickeln; er hat die Qualität der Bildungseinrichtungen geschmälert.
Darüber hinaus hat er mit dafür gesorgt, dass Chile ein extrem ungleiches Land ist. Wie Camila sagte, ist für uns die Rolle des Staates als Garant sehr wichtig. Das ist auch in Europa der Fall, auch wenn, wie wir gehört haben, in einigen Ländern Rückschritte zu verzeichnen sind – deswegen rufen wir auch dazu auf, dagegen Widerstand zu leisten, damit es überall in unseren Ländern qualitativ hochstehende kostenlose Bildungssysteme gibt, die die Entwicklung fördern. Bildung ist die Voraussetzung für Entwicklung, und nicht umgekehrt.
Giorgio Jackson, das bringt mich zu der Frage, ob es eine Übereinstimmung gibt mit den Indignados, den Empörten, oder handelt es sich doch um verschiedene Bewegungen?
Das ist eine interessante Frage. Ich glaube, die Unzufriedenheit weltweit mit einem System, das immer inhumaner wird, wo man immer mehr nach dem Motto „Rette sich, wer kann“ verfährt, hat eine ganze Reihe von gemeinsamen Zügen. Aber diese Empörung hat in Chile nicht nur die StudentInnen erfasst, sondern die gesamte Bevölkerung, mit dem Ziel eines ganz anderen Entwicklungsbegriffs. Ich glaube, da haben wir ein anderes Projekt vor Augen. Wir wollen mehr Organisation.
Wir überlegen, wie es mit dieser Bewegung weitergeht, wie wir einen besseren sozialen Zusammenhalt befördern können. Heute gibt es kein integratives Projekt, Chile ist völlig aufgespalten in Gruppen mit ihren Einzelinteressen. Die Befähigung der Bevölkerung zu einem gemeinsamen Projekt, in dessen Zentrum die öffentliche, über den Staat finanzierte Bildung steht, mit einer veränderten Rolle des Staates und mit einem funktionierendem Sozialsystem, wäre ein solches Projekt mit Zukunft. Das ist mehr als eine Reihe von studentischen Forderungen, die sicherlich sehr sinnvoll sind, wenn man sich den Entwicklungsstand unseres Landes und die vorhandenen Reichtümer ansieht. Aber erst durch das Zusammenbringen mit anderen Forderungen entstehen Synergien für einen weitergehenden Kampf um soziale und um Menschenrechte, die universell sind: in einem Staat, der nicht etwas Außenstehendes ist, sondern der wir alle sind.
Dieses Ziel, aus dem Individuellen etwas Kollektives zu machen, ist eine echte Herauforderung. Dazu brauchen wir viel Engagement, viel Bereitschaft und seitens unserer politischen Klasse viel Bescheidenheit. Sie müssen anerkennen, dass sie heute überrepräsentiert sind. Notwendigerweise müssen wir politische Reformen auf den Weg bringen, die die Zivilgesellschaft befähigen und ihr nicht nur die Rolle der Protestierenden zugestehen, sondern derjenigen, die in den nächsten Jahren ihren Part beim Aufbau eines anderen Chile haben.
Wie stellt ihr euch den Schritt von Forderungen zu konkreten Veränderungen vor? Es hat in der Vergangenheit, auch hier in Europa, immer wieder Bewegungen gegeben, die ein paar Monate aufflackerten, um dann wieder ganz zu verschwinden, weil immer weniger Menschen bereit waren, auf die Straße zu gehen, nachdem ihre Forderungen keinerlei Gehör fanden. Giorgio, hat die chilenische Bewegung einen längeren Atem?
Die Bewegung ist 2011 nicht einfach aus dem Nichts entstanden. Es gibt ein Vor- und ein Nach-2011, damit spreche ich sicher vielen ChilenInnen aus dem Herzen. Da war kein Erleuchteter, dem die Menschen nachgerannt sind. Es hat sich seit langem viel Unmut aufgestaut. Es gibt eine lange Erfahrung mit sozialen Mobilisierungen, die sich in diesem Jahr entladen haben, in dem die Ungleichheit in unserem Land wirklich beschämende Ausmaße angenommen hat. 2011 hat sich etwas geändert. Die Leute nehmen demokratische Prozesse ernster. Sie stellen der Demokratie keinen Blankoscheck mehr aus. Die Demokratie ist Sache jedes Einzelnen, alle müssen daran mit aufbauen, nicht nur eine kleine Führung.
Camila: Erstens ist die große Herausforderung überall auf der Welt, darauf zu bestehen, dass Menschenrechte universell sind und dass es die Pflicht jedes Staates ist, diese zu garantieren. Das ist in vielen Ländern hintangestellt. Um diese Garantie zurückzuerobern, müssen wir zusammenarbeiten, mit den verschiedenen Staaten, Gesellschaften und Bevölkerungsschichten. Wir sind gerade in diesem Prozess, aber das passiert auch anderswo immer mehr.
Grundrechte sind unabdingbare Voraussetzung für Entwicklung. Damit wird unsere Entwicklung gebremst, weil bei uns der Staat bei diesen Rechten keine zentrale Rolle spielt und diese stattdessen als Konsumgüter angesehen werden, die auf dem Markt zu kaufen sind. Aber das ist, wie gesagt, auch anderswo so. Unser Ansatz ist, über die Forderung nach Bildung ein größeres Projekt auf mittlere und lange Sicht zu entwerfen, wobei zunächst auch die Organisation intern gestärkt werden muss.
Francisco, welche Antworten habt ihr in Europa bisher auf eure Vorschläge bekommen?
Gestern waren wir bei der UN-Menschenrechtskommission in Genf. Dort haben wir Gespräche über die verschiedenen Menschenrechte geführt: Recht auf Bildung, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Demonstrationsrecht. Die Vereinten Nationen teilen unsere Sorge, dass der chilenische Staat der Pflicht, diese Rechte zu garantieren, nicht nachkommt. Bei der Bildung geht dort die Unternehmensfreiheit vor. 80 Prozent der Bildung wird von den Familien finanziert, das bedeutet, es existiert kein Recht auf Bildung.
Besorgnis herrschte auch wegen der aktuellen Verletzungen des Versammlungsrechts und des Rechts auf freie Meinungsäußerung. Kurz: Die UNO weiß, dass Chile Menschenrechte verletzt. Eine UNO-Mission wird deswegen nach Chile reisen und es wird vor dem Hintergrund der derzeitigen Mobilisierungen ein Bericht erstellt über Fälle brutaler Repression und Folter.
Zudem haben wir Instrumente und Mechanismen an die Hand bekommen, die wir von Chile aus aktivieren können, um die Geltung der Menschenrechte durchzusetzen. Deswegen sind wir mit der Begegnung in Genf sehr zufrieden.
Giorgio: Der Besuch bei der OECD in Paris war ebenfalls sehr interessant, um den in Chile verbreiteten Mythos zu entkräften, öffentliche kostenlose Bildung verstoße gegen das Recht auf Wahlfreiheit und die Bildungsqualität und sei daher ungerecht. Hier haben wir dann genau das Gegenteil von dem gehört, was uns in unserem Land gesagt wird. Die skandinavischen Länder, beispielsweise Finnland, haben Exzellenzuniversitäten, also höchste Qualität, die komplett vom Staat finanziert werden.
Wir hörten gestern in der OECD, wie viel der Staat gesellschaftlich davon hat, dass er in die Bildung investiert. Damit ist Bildung nicht nur ein Recht, sondern eine Notwendigkeit. Das wird in Chile noch nicht verstanden. Da hält man Bildung weiterhin für ein individuelles Merkmal. Das macht unsere Gesellschaft immer unmenschlicher, entfremdet uns voneinander. Der Weg ist meines Erachtens, als Kollektiv auf Entwicklung zu setzen, nicht als Individuen. Das war für mich eine wichtige Schlussfolgerung aus dem Gespräch mit der OECD.
Ihr wart dann noch in Paris bei der UNESCO und schließlich heute im Europaparlament in Brüssel, Camila, was nehmt ihr von hier mit nach Chile?
Wir haben gesehen, dass es hier viele Erfolge, aber auch viele Fehler gibt. Giorgio sprach von Beispielen, die in Skandinavien Entwicklung hervorgebracht haben. In anderen Ländern ist ein Teil der Bildung privat. Aber die große Mehrheit der Länder hat verstanden, dass Investitionen in die öffentliche Bildung ein wesentlicher Faktor für Entwicklung waren.
Bei der UNESCO, wo die Bildung ebenfalls als Recht und nicht als Konsumgut angesehen wird, hörten wir, dass die Teilnehmerländer auf dem Antidiskriminierungsgipfel unterschrieben haben, alle Formen der Diskriminierung zu bekämpfen. Zu den Unterzeichnern gehört auch Chile, das aber weder die Zusagen im Bereich Bildung noch im Bereich wirtschaftlicher, kultureller, sozialer, ethnischer und religiöser Nichtdiskriminierung erfüllt. Auch von der Seite haben wir viel Unterstützung erfahren.