Jede Bewegung hat ihre besonderen Bücher. Das sind keineswegs immer die besten und theoretisch fundiertesten Arbeiten zu ihren Themen, sondern Schriften, die Leute ansprechen, mitunter empören, in denen sie sich wiederfinden und die sie anregen, aufzustehen und sich zu engagieren. Für die historische Arbeiterbewegung wäre hier natürlich das „Manifest der Kommunistischen Partei“ von Karl Marx und Friedrich Engels zu nennen, für die neue Frauenbewegung etwa „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir und „Die Scham ist vorbei“ von Anja Meulenbelt, für die europäische Studierendenbewegung des Jahres 1968 vor allem „Der eindimensionale Mensch“ von Herbert Marcuse, für die Anti-AKW-Bewegung im deutschsprachigen Raum beispielsweise „Ein Planet wird geplündert“ von Herbert Gruhl oder „Der Atomstaat“ von Robert Jungk.
Für uns, die wir in den siebziger und achtziger Jahren in der Lateinamerika-Solidaritätsbewegung aktiv wurden, war ein solches Schlüsselbuch „Die Offenen Adern Lateinamerikas“ von Eduardo Galeano. In dem 1971 erstmals auf Spanisch veröffentlichten Werk beschreibt der in Uruguays Hauptstadt Montevideo geborene Autor, wie die europäischen Mächte und später auch die US-Eliten seit den Tagen der Kolonisierung die Ausplünderung Lateinamerikas organisierten, sich seine Rohstoffe und landwirtschaftlichen Erzeugnisse aneigneten bzw. sich daran bereicherten, während der Subkontinent und seine BewohnerInnen verarmten. Damit dies so blieb, sorgten die imperialen Kräfte dafür, dass in den Ländern Lateinamerikas alle politischen Bewegungen, die diese Verhältnisse verändern wollten, unterdrückt und von der Macht ferngehalten wurden.
„Die Offenen Adern Lateinamerikas“ wirkte zu allererst in Lateinamerika, wo es eine ganze Generation junger AktivistInnen prägte. Erst dann kam es nach Europa. In der Bundesrepublik wurde es zunächst kaum zur Kenntnis genommen. In einem ila-Interview im Oktober 1986 (ila-info Nr. 99) erzählte Hermann Schulz, der damalige Leiter des Peter Hammer Verlages, der das Buch 1973 in deutscher Übersetzung herausgebracht hatte (1974 war es dann auch im Verlag Neues Leben in der DDR erschienen), es sei zunächst überhaupt nicht gelaufen, in den ersten fünf Jahren seien gerade mal 300 Exemplare bestellt worden. Er habe schon überlegt, es zu verramschen, als plötzlich die internationalistische Szene das Buch entdeckte. Zwischen 1978 und 1986 wurde es dann 160 000-mal verkauft – eine Erfolgsgeschichte, die heute kaum noch vorstellbar ist, wird doch ein wenig nachgefragter Titel bei den meisten Verlagen inzwischen nach einem, bestenfalls zwei Jahren aus dem Programm genommen und verramscht.
Dass „Die Offenen Adern Lateinamerikas“ weltweit so viele LeserInnen fand, lag nicht nur an dem, was Eduardo Galeano geschrieben hat, sondern vor allem davon, wie er das tat. 1974 erschien im Berliner Wagenbach Verlag das Buch „Afrika – Die Geschichte einer Unterentwicklung“ des in Guyana geborenen Historikers und Aktivisten Walter Rodney. Obwohl es die gleiche aufklärerische Qualität besitzt wie „Offene Adern“, fand es nur vergleichsweise wenige LeserInnen. Der 1980 von Bütteln des guyanischen Burnham-Regimes ermordete Rodney schrieb engagiert und intellektuell brillant, aber bei Galeano spürte man in jeder Zeile seine Empörung. Und er fand für seine Ausführungen immer wieder wunderbare Bilder, eines der stärksten bereits im Titel.
Als die „Offenen Adern“ erschienen, war Eduardo Galeano gerade mal 31 Jahre alt. Er hatte sich zwar schon als kritischer Journalist und Publizist in Uruguay einen Namen gemacht, aber nun wurde er international bekannt. Als sich die Militärs 1973 in Uruguay und Chile an die Macht putschten, kamen die „Offenen Adern“ auf den Index. Ihr Autor floh 1973 zunächst von Uruguay nach Argentinien. Als auch dort die Militärs im März 1976 eine mörderische Diktatur errichteten, konnte er gerade noch nach Spanien entkommen.
Dort wurde aus dem engagierten Journalisten mit der bildhaften Sprache endgültig ein Schriftsteller. In der Nachfolge des salvadorianischen Autors Roque Dalton zerlegte er die große Geschichte in viele kurze und kürzeste Erzählungen, aus denen er dann literarische Mosaike schuf, die einen neuen Blick auf das große Ganze erschlossen. In seinem zwischen 1982 und 1985 entstandenen dreibändigen Werk „Erinnerungen an das Feuer“ erzählte er so auf ganz neue Weise die Historie Lateinamerikas. Lange bevor es in Mode kam, hatte er die offizielle Geschichtsschreibung dekonstruiert und aus den vielen Einzelteilen ein Bild rekonstruiert, in dem das Handeln und die Visionen indigener Gemeinschaften, afroamerikanischer SklavInnen, proletarischer und subproletarischer AkteurInnen oder von meist als Banditen abqualifizierten sozialrevolutionären Gruppen einen gebührenden Raum einnahmen. In späteren Werken wie „Das Buch der Umarmungen“, „Wandelnde Worte“, „Kinder der Tage“ oder seinem Fußballbuch „Der Ball ist rund“ führte er dieses Projekt in immer neuen Variationen fort.
Auch wenn seine literarischen Arbeiten durchaus internationale Erfolge wurden, blieb Galeano für viele Linke vor allem der Autor der „Offenen Adern“. Da ging es ihm wie so manchen MusikerInnen, die genervt sind, wenn das Publikum immer wieder die alten Lieder hören will, obwohl sie doch auch gerne Neues, also ihre künstlerische (Weiter-)Entwicklung, vorstellen möchten.
Seine große Popularität lag auch darin begründet, dass er nie nur Literat sein wollte. Er war ein Autor, der sich immer politisch eingemischt hat – und genau dafür haben ihn Menschen aus der ganzen Welt geliebt. Er brachte das zum Ausdruck, was auch sie fühlten, aber niemals so ausdrücken konnten.
Vor vielen Jahren las ich einmal, der US-amerikanische Sprachwissenschaftler, Anarchist und scharfzüngige Kritiker der US-Politik, Noam Chomsky, sei in jenen Tagen der meistgelesene Autor im Internet gewesen. Ich weiß nicht, wie das ermittelt wurde, fand es aber eine sehr erfreuliche Meldung. Hätte man damals untersucht, wer der meistgelesene Autor spanischer Sprache im Netz war, wäre es vielleicht Eduardo Galeano gewesen. Wenn auf der Welt etwas Schwerwiegendes passierte, wenn neue Kriege oder wirtschaftliche Eroberungszüge begonnen wurden, meldete sich der Autor aus Uruguay zu Wort und entlarvte – ähnlich wie Chomsky – in seinen Artikeln und Essays die herrschende Propaganda, indem er sie vom Kopf auf die Füße stellte. Das barg natürlich die Gefahr, sich zu wiederholen und in seinen Analysen voraussehbar zu werden, aber angesichts des medialen Trommelfeuers der Gegenseite ist es einfach notwendig, auf manche Dinge immer wieder hinzuweisen.
Kaum hatte Galeano einen neuen Artikel veröffentlicht, machten sich sofort überall fleißige ÜbersetzerInnen ans Werk, um seine Interventionen in die unterschiedlichsten Sprachen zu übersetzen. Ob er damit einverstanden sei, wurde der Autor in der Regel nicht gefragt, schließlich ging es doch um die „Sache“.
Eduardo Galeano war ein undogmatischer Linker. Dass er Mitglied der Sozialistischen Partei Uruguays (PSU) war, wussten die Wenigsten. Ähnlich wie ihre Schwesterpartei in Chile unter Salvador Allende war auch die uruguayische PS lange eine Partei, die für einen antiautoritären Sozialismus jenseits von Sozialdemokratie und Stalinismus stritt. Zeitweilig war sie die wichtigste Kraft der Frente Amplio, der linken Allianz, die in Uruguay heute an der Regierung ist. Wie die PS Chiles ist leider auch die PSU inzwischen auf den sozialdemokratischen Hund gekommen, eine Entwicklung, die Eduardo Galeano nicht behagte, nicht behagen konnte.
Neben seiner politischen und literarischen Aktivitäten, liebte Eduardo Galeano gutes Essen und guten Wein. Ein wenig eitel war er auch, aber wer kann ihm das verdenken, wenn er überall erlebte, dass ihn die Leute bewunderten und an seinen Lippen hingen. Am 13. April ist er in seiner Heimatstadt Montevideo im Alter von 75 Jahren an Lungenkrebs gestorben.
Siehe auch Artikel zu Galeanos Werken in ila 285 (Mai 2005) und ila 366 (Juni 2013).