Der Generalkonsul

Ein mexikanisches Visum war 1941/42 für die Antifaschisten im unbesetzten Frankreich ein heißbegehrtes Dokument, selbst wenn die InhaberInnen nicht nach Mexico wollten. Worin bestand die Bedeutung der Visa?

Die Visa für Mexico dienten als ein Schutzdokument, denn für die Behörden, für die Polizei von Vichy, die Gestapo, auch die Polizei Francos, die in Frankreich operierte, war der Paßinhaber auf dem Weg, das Land zu verlassen. Er stellte also kein Problem mehr dar. In gewisser Weise wurde er deswegen respektiert, wenn er natürlich auch nicht der Überwachung entging, ebensowenig wie all den anderen Problemen, die zu der Situation jedes einzelnen von ihnen gehörte. Diese Menschen blieben teilweise bewußt auf französischem Territorium, um die Résis­tance zu unterstützen, die damals aufgebaut wurde. Sie arbeiteten vor allem im Informationsdienst zwischen den verschiedenen Widerstandsfronten. Später dann kämpften sie mit, als die Alliierten ihre Invasion in der Normandie und dann in Italien durchführten. Sie stürzten sich in den Kampf und einige gaben dabei ihr Leben.

Waren auch Deutsche bei denen, die solch ein Visum hatten?

Ja, Österreicher und Deutsche kamen natürlich auch: Frauen und Männer, die der Verfolgung durch Hitlers Gestapo entkommen waren. Sehr mutige Menschen, die im Widerstand gegen Hitler gearbeitet hatten. In der Regel waren das nach Frankreich geflohene Leute aus der sozialistischen und kommunistischen Partei, entschiedene Feinde dieses Regimes. Unser Auftrag war es, Schutz und Beistand zu geben. In gewisser Weise gehörte auch dazu, Verständnis für ihre Situation aufzubringen. Wir sollten eine angemessene Antwort finden in dem Sinne, daß wir ihnen alle uns irgendwie möglichen Dienste anboten.

Selbstverständlich hatte die Gestapo ein weitverzweigtes Netz zur Sicherung ihrer Besatzung. Sie verfolgte vor allem solche Leute, die als Mitglieder der kommunistischen Parteien galten. Das war ganz allgemein so. Das gleiche geschah mit den Spaniern, die sich nach Frankreich geflüchtet hatten. Die Verfolgung betraf vorzugsweise sie. Ohne daß wir ein klares Auswahlkonzept gehabt hätten, kümmerten wir uns in ganz besonderer Weise um diese Leute, in jeder Hinsicht. Mit „in jeder Hinsicht“ will ich sagen, daß wir Schutz durch Ausstattung mit Ausweisdokumenten boten und auch Schutz und Hilfe bei der Flucht aus dem Land. Dabei halfen wir besonders den Internationalen Brigaden, die auf Seiten der Spanischen Republik gekämpft hatten. Später gab es dann eine Übereinkunft mit dem französischen Staat, die Angehörigen der Internationalen Brigaden in den Schutz einzubeziehen, der den Kämpfern der Spanischen Republik gewährt wurde. Dazu gehörten Italiener, Jugoslawen, Deutsche, Polen. Ein allgemeines Charakteristikum der Mitglieder dieser Gruppen war, daß sie nicht vor dem Kampf fliehen wollten, der zur Niederringung des Faschismus notwendig war. Vor dem Wunsch persönlicher Rettung stand für sie in jener Situation die Pflicht, für ihre Länder zu kämpfen, die der Herrschaft von Mussolini oder Hitler unterworfen waren. Die Ausgangsbedingungen dafür, daß sie sich bewegen konnten, waren denkbar schlecht. In dem Maße jedoch, wie wir ihnen Schutz bieten konnten, damit sie Frankreich verlassen und in ihre jeweiligen Länder gelangen konnten, um ihre Erfahrungen in die dortigen Befreiungskriege einzubringen, machten wir das auch. Dabei spielten humanitäre Aspekte eine Rolle, aber auch die allgemeinen Prinzipien, die der mexicanischen Außenpolitik unter der Regierung von Präsident Lázaro Cárdenas zugrundelagen. Diese Außenpolitik fühlte sich dem Völkerrecht und fortschrittlichem Denken verpflichtet, das auch auf die diplomatische Arbeit angewendet wurde. Dazu gehörte auch die Aufgabe, die uns anvertraut war, nämlich diesen Leuten zu helfen. Nicht nur innerhalb eines humanistischen Konzeptes, sondern in Ausübung allgemeiner Prinzipien der Regierungspolitik. Abgesehen davon waren wir uns auch bewußt, daß wir eine historische Epoche von besonderer Bedeutung erlebten und daß wir uns nicht lediglich auf eine offizielle oder eine humanitäre Pflicht zurückziehen konnten, daß wir nicht nur einfach amtlich handeln durften.

Ab wann waren Sie in Marseille bzw. in Frankreich?

Im Prinzip sollte ich am 1.1.39 in Paris sein, um dort das Generalkonsulat zu übernehmen. Als ich gerade dort war, ereignete sich die Niederlage der spanischen Republik. Damit begann die Arbeit des Konsulats, der Gesandtschaft. Außer der Gewährung konsularischen Schutzes und anderer Hilfestellungen mußten wir die Situation verstehen und nach draußen darüber informieren.

Sie hatten also einerseits den Auftrag Ihrer Regierung, all diese Leute zu schützen, andererseits stand Ihnen dazu in Marseille keine Infrastruktur zur Verfügung. Sie mußten alles erst aufbauen, um diesem Ansturm von Menschen gerecht zu werden?

Ich hatte die Befugnis, das Konsulat dorthin zu verlegen, wo ich es für sinnvoll erachtete. Als die Truppen Hitlers bis in die Nähe von Paris vordrangen, mußte ich weg von dort. Das Konsulat mußte in den Süden verlegt werden, denn damals teilte sich Frankreich in das besetzte und das sogenannte freie Frankreich auf. Um unsere Arbeit machen zu können, mußten wir uns innerhalb des Territoriums des freien Frankreichs aufhalten. Ich verlegte das Konsulat in den Süden nach Bayonne. Aber als sich die Linie zwischen den beiden Teilen Frankreichs verschob und Bayonne sich innerhalb des besetzten Frankreichs befand, verließ ich die Stadt und eröffnete kraft meiner Befugnisse das Konsulat in Marseille. Damit begann die Arbeit. Wir mußten uns um die Organisation des Personals und des Büros kümmern. Wir nahmen anfangs in kleinem Umfang Flüchtlinge aus Spanien auf.

Ist es richtig, daß Sie in einer Garage anfingen?

Ja, um fünf Uhr morgens standen wir in der Garage, um Essenskarten und Gutscheine für Hotels auszugeben. Die Leute erhielten die Kärtchen, damit sie unter diesen schwierigen Bedingungen etwas zu essen bekamen. Zwischenzeitlich gab es einen provisorischen, nicht ausreichenden Konsulatssitz, denn der Strom der ankommenden spanischen Flüchtlinge war sehr groß und die Behörden von Marseille konnten ihn nicht aufhalten. Das waren wirklich Massen, die in Marseille ankamen. Später hatten wir die Möglichkeit, in sehr große Räumlichkeiten umzuziehen, wo das Generalkonsulat seine Tätigkeiten aufnehmen und die Hilfsdienste in allen den Bereichen organisieren konnte, die wir für nötig befanden, wie Verpflegung, Unterkunft, Papiere usw.

Es heißt, Sie hätten zwei Schlösser gekauft?

Die wurden gemietet. Wir mußten finan­zielle Mittel dafür auftreiben, die Leute mußten irgendwo untergebracht werden. Medizinische Versorgung war vonnöten, wir hatten einen Dienst zum Ausstellen von Ausweispapieren, es gab eine Arbeitsvermittlung, um zu verhindern, daß Flüchtlinge zu Zwangsarbeitseinsätzen eingezogen und von dort nach Deutschland deportiert wurden, vor allem Techniker und qualifizierte Arbeiter. Es gab auch eine Rechtsabteilung und eine medizinische Station – auch eine Fotoabteilung. Weil so viele Menschen bei uns ankamen, mußten wir Sammelunterkünfte einrichten. Diese Unterkünfte erforderten viele Verhandlungen. Das war der Moment, wo die diplomatischen Verhandlungen nicht mehr nur nach den Vorschriften des internationalen Rechts geführt werden konnten, sondern unter Berufung auf die elementarsten Menschenrechte und das Recht auf Leben. Dabei beriefen wir uns auf die Geschichte Frankreichs, auf konkrete historische Präzedenzfälle, in denen Frankreich eine Antwort auf eine ähnliche Situation gegeben hatte. Denn die Regierung von Vichy war den spanischen „Roten“, den deutschen, italienischen, jugoslawischen usw. Kommunisten sehr feindlich gesinnt.

Diese anfängliche Hilfestellung mußte sich allmählich in eine psychische Behandlung, in eine Therapie verwandeln, da die Leute ja in einer Situation der Niederlage, der Niedergeschlagenheit, der Angst ankamen. Sie hatten die Niederlage Spaniens mit einigen fürchterlichen, dramatischen, tragischen, schrecklichen Erlebnissen hinter sich. Die Leute waren in der Seele verletzt. Aber als sie in Marseille zusammenfanden, entstand rund um die Organisation der Gemeinschaftsunterkünfte eine Atmosphäre von Zusammenarbeit, von gegenseitigem Verständnis, von Brüderlichkeit. Diese Leute reagierten mit menschlicher Wärme, mit der Erfahrung, die sie aus Spanien mitgebracht hatten. Sie hatten schrecklich unter der Niederlage gelitten, sie waren psychisch und geistig angegriffen. In dieser Situation organisierten sie sich selbst, sie nutzten gemeinsam alle vorhandenen Möglichkeiten. So bauten sie etwa ein Orchester auf. Andere machten Theater. Sie bauten eine Werkstatt auf, eine Krankenstation. Die gesamte Nahrung wurde selbst zubereitet, was sehr umsichtig geschehen mußte, weil die Rationierung damals sehr streng war. Alle Zutaten für die Küche oder Medikamente zu bekommen, war sehr schwierig. Aber wir schafften es. Und wir schafften es unter anderem, weil sogar die französischen Behörden – ich beziehe mich auf die von Marseille – verstanden, daß da eine breite und saubere Arbeit geleistet wurde, die in allen Aspekten gerechtfertigt war. Wir erreichten also, aus diesen Unterkünften wirkliche Zufluchtsstätten zu machen. Klar, unter den gegebenen schwierigen Umständen, in denen die französische Regierung im allgemeinen eine Haltung hatte, die sich total den Direktiven aus Berlin beugte.

Wir hatten für diese Arbeit natürlich ein Abkommen mit den Behörden von Vichy getroffen. Aber die Situation selbst schuf unvorhergesehene Hindernisse, die bei jeder einzelnen Aktion auftraten, etwa im Hinblick auf die Ausreise derjenigen, die in den Konzentrationslagern (gemeint sind nicht die Konzentrationslager in Deutschland, sondern die Lager in Südfrankreich, in denen die frz. Regierung die Flüchtlinge interniert hatte) waren oder bei der Einschiffung der Spanier nach Mexico. Und auch bei der Ausreise der antifaschistischen Flüchtlinge, d.h. der sogenannten Feinde, die Flüchtlinge aus den von Hitler besetzten Ländern und aus Italien waren. Für sie mußten ebenfalls Wege gesucht werden, um sie außer Landes zu bringen. Denn im allgemeinen gab ihnen die amerikanische Botschaft kein Transitvisum. Man mußte also versuchen, ihnen eine Ausreisemöglichkeit über Martinique oder andere Zwischenstationen zu ermöglichen. Für die spanischen Flüchtlinge mußte die Schiffspassage insbesondere über Portugal organisiert werden.

Wir schafften es, einige Internierte aus den Konzentrationslagern herauszubekommen. Sie wurden in ein Durchgangslager in der Nähe von Marseille gebracht. Die Gestapo selbst brachte sie zum Konsulat. Um ihnen einen Ausweis geben zu können, war jedoch eine Fotografie notwendig. Wenn sie kein Bild hatten, brachten sie die betreffende Person zum Durchgangslager und oft sogar ins Konzentrationslager zurück. Deswegen mußten wir ein Fotoatelier einrichten, damit von diesen Leuten, wenn sie kamen, an Ort und Stelle das Foto für den Ausweis gemacht werden konnte. Auch das Organisieren der Schiffe für die Überfahrt war sehr kompliziert. Um Marseille schließlich verlassen zu können, mußten drei weitere Hürden passiert werden. Erstens wurden die Ausreisenden auf ihre Vorgeschichte hin verhört, hinsichtlich möglicher Parteiangehörigkeiten usw.. Ein zweiter Teil bestand im Abgleich von Dokumenten, einem Vergleich mit Familienangehörigen usw. Schließlich gab es eine Schlußuntersuchung bis zur Prüfung der Echtheit der Haare, und das Schiff wurde bis auf den letzten Winkel untersucht. Oft blieben Leute bei einer dieser drei Hürden hängen, und wir mußten wieder von vorn anfangen.

Ich erzähle das alles, weil es eine Vorstellung von der Atmosphäre gibt, in der wir lebten, eine Atmosphäre strikter Kontrolle, Überwachung und Verfolgung.

Gab es in den Sammelunterkünften auch Deutsche? Ich habe gelesen, daß dort nur Spanier untergebracht waren?

Für die Mitglieder der Internationalen Brigaden bemühten wir uns in der Regel, Hotels zu finden. Manchmal taten sich auch einige zusammen, um ein paar Zimmer zu mieten. Andere mußten versteckt bleiben bei Sympathisanten, meistens Sozialisten. Manche Leute, die so versteckt lebten, konnten nur um zwei Uhr morgens zum Generalkonsulat kommen, um ihre Ausweise zu holen und um Fotos machen zu können. Einige mußten auch speziell geschminkt werden und bekamen einen anderen Namen, damit sie ausreisen konnten. Bei den Spaniern war das nicht der Fall, nur bei den Flüchtlingen aus Deutschland oder aus Italien.

Einige hatten noch zusätzliche Probleme bei der Ausreise wie beispielsweise Luigi Longo, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens. Der lebte auch versteckt. Wir halfen ihm, damit er einen einigermaßen sicheren Weg Richtung Nizza und italienische Grenze nehmen konnte. In Nizza nahmen sie ihn dann fest, ohne ihn allerdings zu identifizieren. Seine Frau Teresa suchte mich deswegen in Marseille auf. Wir regelten das, indem wir den Chef des Gefängnisses von Nizza bestachen, damit er ihn freiließe und Longo die Grenze überqueren und nach Italien einreisen konnte, wo er die Partei des Widerstands und später den Kampf organisierte.

Es gab auch jugoslawische Kommunisten, eine bedeutende Gruppe sehr guter Leute. Sie standen unter besonderer Beobachtung. Einer von ihnen, Eric, war im Lager Castres und sollte mit Franz Dahlem (Mitglied des Politbüros der KPD – die Red.) und all den anderen nach Deutschland überstellt werden. Er organisierte die Flucht von Castres. Jene Flucht, bei der der französische Widerstand half und sie rausholte. Eric war später eine große Persönlichkeit im Widerstand, er wurde General. Später war er als Minister in Norwegen und danach als Botschafter hier in Mexico. Diese Gruppe von Jugoslawen riskierte damals, nach Deutschland in die Vernichtungslager deportiert zu werden. Dieser mutige und intelligente Mann aber organisierte den Überfall auf die Wachen und die Flucht aus dem Gefängnis. Für uns war diese Situation sehr schwierig. Wir erfuhren von dieser Geschichte zu einem Zeitpunkt, als die Ausreise für sie schon organisiert war. Deswegen mußten wir bei dem Nuntius intervenieren, der für unsere Gesandtschaft zuständig war, und erreichen, daß andere diplomatische Missionen hinzukamen und das mexicanische Konsulat unterstützten. Wir erreichten, daß die Ausreise verschoben wurde. Dies waren Momente höchster Anspannung, in denen wir nicht einen Augenblick nachlassen durften.

Einige haben wir freibekommen, andere haben sie zurück ins Konzentrationslager gebracht. Und wieder begann alles von vorne, die einzelnen Schritte, der Druck. Einige wurden nach Afrika geschickt, in die Konzentrationslager in der Wüste, wie z. B. der Fotograf Walter Reuter.

Die Gestapo war damals schon in Marseille?

Ja, wir wurden von der Gestapo sehr stark überwacht. Auch von der französischen Polizei und der Francos. Sogar japanische Agenten waren da.

Und Sie selbst bekamen nie Drohungen? Gab es nie Attentatsversuche?

Nein, aber natürlich wurde ich sehr unter Druck gesetzt. Man befand sich ständig in Anspannung und war sich der Risiken bewußt. Es gab auch unter uns viel gegenseitigen Verdacht. Durch den dauernden Umgang mit all den Gegnern der totalitären Regimes waren wir natürlich einer besonderen Überwachung ausgesetzt. In einzelnen Fällen drang die Spionage bis zu uns persönlich vor. Das ging meistens über Leute, die sich bei uns vorstellten, die angeblich von der Grenze kamen.

Ich erinnere mich an einen bestimmten Typ, der sehr gut französisch sprach. Er stellte sich mit allen seinen Dokumenten vor, die ihm angeblich die russische Regierung gegeben hatte, damit wir ihn unter unseren Schutz stellten, in unsere Strukturen einschleusten und später zur Ausreise verhalfen. Aber wie das im Leben gottseidank immer so ist, hatten wir Verbindungen zu den militärischen Strukturen Vichy-Frankreichs über eine Französin. Diese Patriotin arbeitete mit uns zusammen und warnte uns, wenn wieder einmal eine solche Person mit guten Papieren und gutem Französisch aus der Grenzregion zu erwarten war. Es war ein Glück, daß uns keiner von diesen Leuten überraschte. Am Anfang kamen sie einzeln. Einige behaupteten, sie seien desertierte Offiziere des französischen Heeres, natürlich Gegner von Pétain. Andere behaupteten einfach, sie seien verfolgt. Später kamen sie immer paarweise an. Das war uns zuvor von Vichy aus angekündigt worden und war eine Vorsichtsmaßnahme: die beiden überwachten sich gegenseitig. Wenn wieder solch ein Paar ankam, wußten wir schon Bescheid.

Es gab verschiedene Wege, uns ihrer zu entledigen. Als sie noch einzeln beim Konsulat vorstellig wurden, hatten einige von ihnen Pech und überführten sich selbst. Einmal kam ein Mann mit einer umfangreichen Studie über Mexico unter dem Arm. Er wußte sehr gut Bescheid und sagte, er wolle nach Mexico reisen, weil er große Sympathien für das Land habe. Er wolle sich unserem Schutz unterstellen und hoffe auf die Aufnahmebereitschaft Mexicos. Ich war aufgrund einer Ankündigung der erwähnten Vichy-Französin von Anfang an mißtrauisch gewesen. Als ich mich von ihm verabschiedete, schlug er aus Versehen die Hacken zusammen, als ich noch seine Hand schüttelte. Er war natürlich vollkommen konsterniert und ist nicht wieder aufgetaucht. Wir paßten schon auf, daß wir nicht auf solche bösen Überraschungen hereinfielen. Das Konsulat nahm das gesamte Erdgeschoß ein, darüber war das japanische Konsulat. Die Japaner beschuldigten uns gegenüber dem Präfekten von Marseille, daß in einer unserer Unterkünfte, die für Männer bestimmt waren, englische Spitzel landeten – Fallschirmspringer, die Anweisungen für die Leute in den Lagern brächten. Der Präfekt von Marseille rief mich daraufhin an, um mir mitzuteilen, daß er von Vichy Anweisung erhalten habe, die Unterkünfte im Schloß von Reynarde zu besuchen. Ich bat ihn, sofort mit mir aufzubrechen, was wir auch taten. Ich war vollkommen überzeugt davon, daß alles gut gehen würde. Sie haben sich alles angeschaut, auch die Karteien, die wir über die Ausreisenden nach Mexico führten, in denen u.a. ihr Beruf verzeichnet war – Fischer, Bauern, Textilarbeiter aus Katalonien usw., damit es möglich war, sie in Mexico sinnvoll einzusetzen. Schließlich waren sie zufrieden.

Diese Begebenheit bedeutete für uns zweierlei. Erstens hatte der Präfekt von Marseille um Erlaubnis für seinen Besuch gebeten. Das hieß, daß er den schützenden Charakter unserer Flüchtlings-Unterkünfte respektierte. Der zweite Aspekt war, daß wir zeigen konnten, daß das, was dort geschah, von völlig anderer Qualität war, als man uns nachsagte, von wegen Spionage und so weiter. Die Leute dort arbeiteten, bestellten ihr Feld, hatten Werkstätten, ihre Freizeitbeschäftigungen, machten Musik, führten sportliche Wettbewerbe in einem olympischen Schwimmbecken durch, das zur Schloßanlage gehörte. Es gab Liederabende, eine Bibliothek, einen Ort, wo Kunstobjekte ausgestellt wurden, die in Modellierkursen entstanden waren. Die Krankenstation war perfekt organisiert. Alles war so einzigartig, daß der Tagesablauf nicht nur normal und ohne igendwelche feindseligen Aspekte gegenüber der neuen französischen Regierung ablief, sondern auch Anziehungskraft nach außen ausübte. Viele Leute aus der Umgebung baten sonntags um Erlaubnis, an den Festen in der Herberge teilzunehmen. Es gab Theater, Tänzer, Musiker, Dichter traten auf. Ganze Theaterstücke wurden aufgeführt, wie etwa von Lope de Vega „La zapatera prodigiosa“, „La malquerida“ und andere spanische Stücke. Mit Laienschauspielern zwar, aber sehr gut. Der Präfekt selbst kam manchmal zu den Theatervorstellungen. Es wurden Bühnenbilder dafür angefertigt. Das machten alles die Spanier, genau wie sie auch alles andere selbst bauten, die Schlafstätten zum Beispiel.

Wieviele Leute befanden sich damals dort?

In Reynarde waren es durchschnittlich 850, 900 Männer, manchmal vorübergehend auch tausend oder etwas mehr. Daneben gab es das Schloß Montgrand für die Frauen und Kinder, wo natürlich andere Aspekte wichtig waren. Die Kinder waren im großen und ganzen gut ernährt, gesund, guter Dinge. Es gab eine Schule, es gab kulturelle Aktivitäten. Kinderärzte standen zur Verfügung. Für diese armen Kinder bedeutete Montgrand eine große Veränderung, weil sie in einer freundlichen Atmosphäre wieder Hoffnung haben konnten. Für einige Kinder, die mit schwerer Unterernährung und Anämie aus den Konzentrationslagern gerettet worden waren, mieteten wir in den Pyrenäen ein Berghaus. Die Quäker stellten dafür das gesamte Personal wie Ärzte, Sozialarbeiter und Krankenschwestern zur Verfügung. Wir übernahmen die Kosten für Miete, Lebensmittel usw. Etwa 80 Kinder konnten dort aufgenommen werden und das Sonderprogramm zur physischen Wiederherstellung durchlaufen. Als wir später nach Deutschland deportiert wurden, konnten wir vorher immerhin noch Vorsorge treffen, daß dieses Programm ein weiteres halbes Jahr finanziell abgesichert war.

1942 erklärt Mexico Deutschland den Krieg. Welche Konsequenzen hatte dies für Ihre Arbeit?

Ich war damals der Handels-Attaché für Vichy. Die Kriegserklärung an Deutschland bedeutete auch den Abbruch der Beziehungen mit Frankreich, und ich mußte es übernehmen, dies gegenüber den französischen Behörden vorzutragen. Sie gewährten uns nicht die für solche Fälle geltenden Schutzbestimmungen, also Möglichkeit zur Ausreise mit Garantie für Leib und Leben. Stattdessen internierten sie uns in Amélie-les-Bains, einem alten Seebad in Südfrankreich. Von dort brachten sie uns nach Mont d’Or bei Clermont-Ferrand, und von da deportierten sie uns auf Befehl der Nazis nach Deutschland, nach Bad Godesberg.

Am Vorabend unserer Abreise aus Vichy überfiel die Gestapo das mexicanische Konsulat und besetzte es militärisch. Das war ein ziemlich unangenehmer Zwischenfall. Die Gruppe der Gestapo stand unter dem Befehl eines noch jungen deutschen Offiziers. Sie drangen ein und besetzten sofort die gesamten Räumlichkeiten der Gesandtschaft. Es war alles ziemlich brutal und gewaltsam. Wir hatten zuvor als Vorsichtsmaßnahme die Archive verbrannt. Aber der Tresor war noch da. Daher sagte der Offizier zu mir: „Öffnen Sie den Tresor.“ Ich sagte: „Da ist nur Geld drin.“ Er erwiderte: „Sie müssen trotzdem öffnen. Wenn nur Geld drin ist, ist es in Ordnung. Wir wollen den Tresorinhalt nur sehen.“ Also öffnete ich den Tresor, in dem tatsächlich nur die Geldmittel der Gesandtschaft waren, in verschiedenen Währungen. Auf Druck der anderen Gestapo-Leute und auf telefonische Befehle hin sollte dieser Offizier das Geld nun doch beschlagnahmen. Auf meine Bitte hin versprach er mir, eine Quittung und ein Protokoll darüber zu unterschreiben. Ich machte eine Aufstellung aller beschlagnahmten Beträge in den verschiedenen Währungen, und am Ende formulierte ich einen ziemlich energischen Protest über diese Vorgehensweise. Die anderen Gestapo-Leute drängten den Offizier, nichts zu unterschreiben, und schon gar nicht eine Empfangsbescheinigung über Geldmittel. Er dagegen bat mich, den Protest am Ende ein wenig abgeschwächter zu formulieren. Ich kam dem natürlich nach. Die Tatsache, daß ich überhaupt ein solches Dokument erhielt, hatte eine außergewöhnliche Bedeutung. Wir änderten die Formulierungen, ohne daß sich der Charakter als formaler Protest änderte, und auch die Auflistung der Geldbeträge blieb erhalten, wodurch der Diebstahl der Gestapo an diplomatischem Eigentum belegt wurde. Die anderen Gestapo-Offiziere protestierten. Sie kreisten den Offizier und mich in einer Ecke des Zimmers hinter meinem Schreibtisch ein und befahlen ihm wütend, nicht zu unterschreiben. Der Offizier sagte zu mir: „Sehen Sie, ich bin Mitglied des deutschen Heeres. So etwas wie hier wurde uns als Sonderaufgabe übertragen. Aus Disziplin gehorche ich. Aber die deutsche Wehrmacht entehrt sich durch solches Vorgehen. Weil ich Ihnen mein Wort als Offizier gegeben habe, werde ich unterschreiben.“ Und inmitten eines bedrohlichen Tumultes unterschrieb dieser Herr mein Protestschreiben. Danach zogen sie wieder ab. Es war am Nachmittag, gegen sechs Uhr. Ich entließ das Personal und wartete vorsorglich bis zum Abend, bevor ich mich im Dunkeln auf den Weg zu meinem Hotel machte.

Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Zeit als Gefangener in Bad Godesberg?

Als wir ankamen, rief der deutsche Regierungsvertreter uns Missionschefs zu einer Sitzung zusammen. Er behandelte uns als „Gruppenvertreter“, nicht als Missionschefs, da sie unseren diplomatischen Status nicht anerkannten. Er las uns das Reglement vor, das wir einzuhalten hatten – sehr enge Vorschriften, die uns keine Bewegungsfreiheit ließen. Nach der Verlesung bestand ich auf einem Gespräch mit diesem Herrn. Er lachte und sagte, er wüßte nicht, was es zu besprechen gebe. Ich erklärte ihm, daß die mexicanische Gruppe, wir waren 43 Personen, die Anordnungen einhalten werde, weil Mexico im Krieg mit Deutschland sei und wir deswegen Kriegsgefangene seien. Daß wir um keinerlei Ausnahmeregelung oder Vergünstigung bitten, aber genausowenig Demütigungen akzeptieren würden, für die sie im Umgang mit Gefangenen bekannt seien. Er fragte mich, was das denn sein könne. Ich antwortete, das wisse ich nicht, und als er nachfragte, führte ich aus: `Wenn es um geringfügigere Vorfälle gehen sollte, werden wir uns an das Land wenden, das hier unsere Interessen vertritt; wenn es um Schwerwiegenderes gehen sollte, kann ich es noch nicht sagen, denn wir Mexicaner können nie im voraus sagen, wie wir auf eine Beleidigung reagieren. Je schlimmer die Beleidigung, desto härter die Reaktion.’ Darauf sagte er nur, es werde nicht zu so etwas kommen.

Wir waren etwas mehr als ein Jahr in Godesberg. Die Umstände waren hart. Man konnte nicht raus, auch nicht zu ärztlicher Behandlung, ohne eine Soldateneskorte.

Wir hatten gute, große Zimmer, mit Terrasse und Bad. Meinem Sohn Gilberto hatten sie ein Zimmer in der Nachbarschaft der Suite angewiesen, die in diesem Hotel für Hitler für gelegentliche Aufenthalte reserviert war.

Das Essen war schlecht. Als eines der sensationellen Gerichte erinnere ich mich an Bratkartoffeln, denn Fett war sehr rar. Es gab immer nur einen Gang, ein winziges Stück Brot und eine halbe Wurst. Während unserer ganzen Gefangenschaft aßen wir ein einziges Mal ein Ei und eine Kaffeetasse Hühnerbrühe von unsichtbaren Hühnern.

Auch bei Tisch wurden wir überwacht. Wir wurden von einer jungen Frau bedient. Wir stellten sie auf die Probe, ob sie spanisch sprach und unsere Gespräche belauschte, indem wir unwiderstehlich zum Lachen reizende Witze erzählten. Einmal ist sie davongelaufen, um ihr Lachen zu verbergen. Also wußten wir, daß wir auch vor dem Bedienungspersonal auf der Hut sein mußten.

Wenn wir in den Speisesaal hinuntergingen, durchsuchte die Gestapo unsere Zimmer, ohne Spuren zu hinterlassen. Aus meinem Zimmer verschwand das Durchschlagpapier von dem, was ich schrieb.

Unser Gepäck war in einem Büro in Godesberg deponiert. Zum Wechsel der Jahreszeiten führten sie uns in Gruppen dorthin, damit wir die jeweilige Kleidung wechseln konnten. Auf diesen Wegen sahen wir russische Gefangene Gleisarbeiten ausführen.

Um uns etwas abzulenken, organisierten wir Vorträge. Mein erster Vortrag war über die Agrarfrage in Mexico. Ein anderes Mal sprach der Minister Eduardo Aviles Ramírez über Rubén Darío. Meine Tochter Laura übernahm es mal, Gedichte von Darío vorzutragen. Später gab es mal einen Vortrag über Simón Bolívar. Alles in einer offenen, schlichten Atmosphäre, und anschließend oft einen literarisch-musikalischen Abend. Meistens nahmen der deutsche Regierungsvertreter und andere der Bewacher teil, die Spanisch verstanden, das aber nicht zugaben.

Während der ganzen Zeit bewahrte die mexicanische Gruppe eine feste Haltung. Wir waren höflich distanziert und nichts mehr. Niemand bat jemals um einen Extra-Gefallen. Irgendwann haben das auch die Deutschen respektiert.

Haben Sie während Ihrer Gefangenschaft in Bad Godesberg etwas von der Situation in Deutschland mitbekommen?

Ja, wenn auch eher indirekt. In dem Hotel, in dem wir als Kriegsgefangene untergebracht waren, wurde alles total durch die Gestapo kontrolliert. In jedem Winkel standen militärische Wachen. Wir bekamen mit, daß in der Nähe russische Gefangene arbeiteten. Einige junge Russinnen mußten Reinigungsarbeiten und ähnliches ausführen. Es gab viele Deutsche, die nicht einverstanden waren. Für die Bevölkerung bedeutete das alles ein großes Opfer.

Damals herrschte allgemeine Mobilmachung. Alle Jugendlichen, alle Männer wurden eingezogen. Sie mußten weg von ihren Höfen und ihre Familien mit den Feldern zurücklassen. Das ganze Wirtschaftsleben konzentrierte sich auf die Kriegsproduktion, und dafür wurden natürlich Arbeiter gebraucht. Um die männlichen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft zu ersetzen, wurden in der Mittelklasse, teilweise sogar in der mehr oder weniger gutsituierten Mittelklasse, die ganz jungen Leute und die Frauen rekrutiert, um auf dem Land zu helfen. Dabei kamen sie mit einer anderen wirtschaftlichen Situation in Berührung und mußten harte, ungewohnte Arbeit leisten. Dieser Kontakt mit den arbeitenden Schichten und den Anstrengungen in der landwirtschaftlichen Produktion führte dazu, daß sie gewisse grundlegende soziale Probleme erkannten. Daraus entwickelten sich eine soziale Mentalität und eine andere Haltung, die sich natürlich oft gegen das Regime richtete, das diese wirtschaftliche Situation geschaffen hatte. So entwickelte sich in diesen Schichten allmählich eine tiefe Unzufriedenheit, die nicht direkt in Aktionen wie Boykott oder Protest zum Ausdruck kam, aber in einem latenten Gesinnungswandel. Das war auch dem Generalstab des Regimes bewußt, der Hitler zuarbeitete.

Offen wurde nicht darüber gesprochen, aber in den Kellern, wenn bombardiert wurde. Zum Beispiel war meine Frau eines Tages mit einer unserer Töchter in einem Krankenhaus, als ein nahegelegener Bahnhof bombardiert wurde. Ganz in der Nähe fiel eine Bombe mit starker Sprengkraft, und das ganze Krankenhaus wurde mit Erde und Gesteinsbrocken überschüttet. Die Aufzüge wurden in Mitleidenschaft gezogen. Die Verletzten, die nach der letzten Bombardierung in Köln eingeliefert worden waren, waren ebenfalls in dem Krankenhaus. Sie mußten sich über die Treppen retten, Verstümmelte, Versehrte, Verletzte, mit einer dramatischen Willenskraft. Dort sagten die Frauen immer wieder: „Das haben wir nicht gewollt, das haben wir nicht gewollt.“ Das war wie eine einzige Stimme, die umherlief.

Gewisse Informationen dieser Art drangen während der ganzen Gefangenschaft bis zu uns durch. Die Interessen Mexicos in Deutschland wurden von Schweden wahrgenommen. Schweden hatte einen Geschäftsträger in Berlin, Herr von Rosen, der ein sehr geschickter Diplomat war. Er übernahm unseren Schutz und kümmerte sich um uns. Er besuchte uns häufig, und natürlich war er gut informiert. Ich schätzte diese Gespräche sehr, denn er gab uns Hintergrundinformationen, die wir den offiziellen Verlautbarungen gegenüberstellen konnten, und vermittelte uns, was so „in der Luft lag“. Auch aus Köln erhielten wir eine Zeitlang Informationen von dem Schweizer Konsul dort. Er stand zwar auf seiten Hitlers, aber auch seine Versionen waren uns nützlich. Dieser Herr verlor bei der furchtbaren Bombardierung am 4. Juli, bei der es etwa zehntausend Opfer gab, sein Haus und wurde verletzt. Er wurde daraufhin verrückt. Denn bei der Bombardierung verlor er eine sehr, sehr wertvolle Kunstsammlung. Er selbst wurde am Bein verletzt, als ein Teil seines Hauses einstürzte. Auf seine Art war er sehr extrovertiert, sehr redegewandt, und versorgte viele der in Bad Godesberg internierten Botschafter mit Informationen.

Wir behalfen uns mit Informationen aus verschiedensten Quellen. Es kam zum Beispiel in unserem Hotel eine Zeitschrift des militärischen Generalstabs an, in der die Situation aus technischer Sicht analysiert wurde. Sie schätzte die tatsächliche militärische Situation anders ein als die Regierungsbulletins oder das Radio. Manchmal wurden uns auch Dinge zugespielt, deren Quelle wir nicht kannten. Kurz bevor wir aus Bad Godesberg im Rahmen eines Gefangenenaustauschs wegkonnten, erhielt ich, besser gesagt: tauchte in meinem Zimmer eine Karte mit dem gesamten militärischen Lageplan des Atlantikwalls auf, mit allen Einzelheiten über die Verteidigungsanlagen innerhalb dieses Atlantikwalls. Dieser stand unter dem Befehl General Rommels, des sogenannten Wüstenhelden. Diesen Plan, der für die höheren Offiziere bestimmt war, nahm ich natürlich mit, mir blieb gar nichts anderes übrig. Als es dann später möglich war, übergab ich ihn General Cárdenas, der damals Verteidigungsminister war.

All dies zeigt, welche Stimmung in Deutschland um sich griff. Ich erinnere mich, daß, als wir ausreisten, bereits der allgemeine Durchhalte-Befehl ausgegeben worden war mit dem Ziel, den Krieg zu verlängern. Die Hoffnung dabei richtete sich auf den Ausbruch interner Auseinandersetzungen, einer Krise bei den Alliierten, wegen der unvereinbaren Ideologien von Rußland und den Westmächten. Darauf setzten die Deutschen. Wie wir wissen, kam es ja anders.

Kehren wir nochmals in das Jahr 1939 zurück. Kurz nachdem Sie in Frankreich angekommen waren, erlitt die Spanische Republik ihre Niederlage im Bürgerkrieg. Wie war die Haltung Mexicos dazu?

Grundlage war die Haltung der Regierung des General Cárdenas gegenüber der Spanischen Republik. Ich hatte als Direktor der Zeitung „El Nacional“ gearbeitet. Diese Zeitung stand auf der Seite der Spanischen Republik, informierte ausführlich darüber und verteidigte sie, als es zu der Rebellion Francos kam. Ich selbst verfügte über eine ganze Reihe von Informationskanälen über ausländische Nachrichtenagenturen, abgesehen von all der Information, die wir über die spanische Botschaft erhielten, und über die direkte Verbindung mit Korrespondenten. Mit Hilfe all dieser Informationsquellen führten wir eine massive Kampagne zugunsten der Republik durch. Was in Spanien passierte, konnte man haargenau in „El Nacional“ nachlesen.

Ist „El Nacional“ von heute immer noch derselbe?

So ist es. Aber damals hatte er natürlich eine andere Ausrichtung. Dies entsprach auch der vorherrschenden Meinung und allgemeinen Stimmung in einem Land, das für revolutionäre Veränderungen war. Das war natürlich in der revolutionären Ära Cárdenas. Die Leute verstanden den Kampf der Republik sehr gut. Daneben gab es sicher auch eine Handvoll reaktionärer Gruppen, die über ihre Medien und Zeitungen die Wirklichkeit deformiert wiedergaben. Diese Presseorgane konnten nicht anders, denn sie waren abhängig von den Einkommensquellen der spanischen Kapitalistenschicht, die in Mexico ansässig war.

Darf ich unterbrechen? 1933 schon hatte Deutschland begonnen, über faschistische Gruppen auch in Mexico starken Druck auszuüben. Ich erinnere mich beispielsweise daran, daß die deutsche Botschaft 1933 begann, alle Anzeigen von Deutschen in mexicanischen Zeitungen zu kontrollieren. Weil die deutsche Botschaft die Anzeigen kontrollierte, die für einige Zeitungen sehr wichtig waren, Anzeigen von deutschen Geschäftsleuten und Unternehmen, nahm sie Einfluß auf die politische Linie einer Zeitung. Mit anderen Worten: Wenn du dem Faschismus nicht positiv gegenüberstehst, der Frankismus war ja in dem Moment dasselbe, schalten wir bei dir keine Anzeigen mehr. Das bedeutete doch seitens Deutschlands einen starken Druck.

Sicherlich. Aber trotzdem war die überwiegende Haltung in Mexico gegenüber Spanien positiv. Man empfand die gleiche Notwendigkeit einer Art sozialer Transformation. Das war dasselbe wie die mexicanische Revolution von 1910, die Konstitutionalismus-Bewegung in Verteidigung der Verfassung von Querétaro, in der wir auf allen Ebenen aktiv teilgenommen hatten. Auch wir hatten zu den Waffen greifen müssen.

Für uns, die wir an der Unterstützungsbewegung für die Spanische Republik beteiligt waren und davor bereits an der direkten revolutionären Aktion unseres Landes, war diese Sympathie ganz natürlich, und das Engagement für Spanien gab es innerhalb der Arbeiterklasse, der Studenten bis hin zu den Bauern. Das ganze Land wurde von der Sache der Spanischen Republik ergriffen, und zwar jene sozialen Sektoren, die hinter den revolutionären Veränderungen standen, an denen General Cárdenas arbeitete.

Auch das diplomatische Corps setzte sich damals aus Leuten zusammen, die in der Revolution an hervorragender Stelle aktiv gewesen waren. Das waren nicht irgendwelche Männer, sondern sehr fähige von intellektueller und moralischer Größe, wie Isidro Favela, Narciso Bassols, Adalberto Tejeda, um nur einige zu nennen. In einigen Botschaften hatten die Sekretäre und Räte gleiches Niveau. Bei der Zusammenarbeit mit den Missionschefs brachten sie sehr fundierte und wohlinformierte Standpunkte ein.

Haben Sie Anna Seghers kennengelernt?

Ja, ich kannte sie sehr gut. Anna Seghers kam oft zum Konsulat. Viel Zeit hatten wir meistens nicht, da im Konsulat immer viel zu arbeiten war. Manchmal begrüßte ich sie. Ich erinnere mich, daß ich ihr einmal eine persönliche Notiz zukommen ließ, in der ich schrieb, daß die menschlichen Dramen all der Flüchtlinge mit ihren persönlichen und materiellen Problemen, ihre allgemeine, familiäre, politische Situation usw. doch ein einmaliger und wertvoller Fundus seien, um darüber ein Buch zu schreiben. Anna Seghers schrieb ja dann tatsächlich so ein Buch, „Transit“.

Darüberhinaus kümmerte ich mich um ihre Ausreise, ebenso um die des Historikers Paul Westheim, von Franz Werfel, Alfred Döblin und anderen mehr. Wir übernahmen die Kosten für die Überfahrt und regelten auch sonst alles, damit sie nach Mexico ausreisen konnten. Als wir selbst nach Mexico zurückkehrten, bestand von Anfang an eine besondere Verbindung zwischen Anna Seghers und uns. Sie schenkte mir ihr Buch „Das siebte Kreuz“ mit einer persönlichen Widmung. Mehrmals besuchte sie uns ausführlich gemeinsam mit ihrem Mann. Wir redeten über die Situation in Europa und viele andere aktuelle Themen.

Später dann reiste ich nach Portugal, danach nach Stockholm. Anna Seghers kam ebenfalls nach Stockholm zu jener Friedenskonferenz, die die berühmte Erklärung von Stockholm verabschiedete. Sie suchte uns im Hotel auf, sprach mit meiner Frau und wollte noch einmal kommen. Sie schickte meiner Frau Blumen, und verschiedentlich telefonierten wir miteinander. Schließlich mußte sie abreisen, ohne daß wir Gelegenheit zum Abschied hatten. Sie schrieb mir einen Brief, in dem sie sich deswegen entschuldigte, ich antwortete. Danach blieben wir eher über Dritte, über gemeinsame Bekannte in Verbindung miteinander. Ja, es war eine ganz besondere persönliche Beziehung. Sie war eine große, starke Persönlichkeit mit sehr eigenem Profil. Ich glaube, sie war später ganz zufrieden. Sie kehrte nach Berlin zurück. Ihr Mann dagegen blieb in Mexico, wo er an der Universität einen Lehrstuhl und eine Gruppe von Wissenschaftlern organisiert hatte. Während ich in Portugal war, hat er mir mehrmals geschrieben.

Gehörten Sie in dieser Zeit, also in den 30er Jahren einer politischen Gruppe in Mexico an? Womit beschäftigten Sie sich damals konkret?

Nach meiner ziemlich aktiven Teilnahme an der Revolution hatte ich mich zunächst aus der politischen Arbeit zurückgezogen. Aber als die Präsidentschaftskandidatur von General Lázaro Cárdenas anstand, entschied ich mich wegen der politischen Übereinstimmungen mit ihm, mit meinen Freunden, zur Politik zurückzukehren. Ich kannte Cárdenas aus der kurzen Zeit, als er den militärischen Oberbefehl in Puebla innehatte.

Ich kehrte als Abgeordneter in die Politik zurück, als Cárdenas Präsident war. Wir gründeten eine linke Parlamentsfraktion, und bereiteten den später verabschiedeten Gesetzentwurf über die „Einführung der Sozialistischen Schule in Mexico“ vor.

Meine Berufung in den diplomatischen Dienst durch Cárdenas war nicht zufällig. Als Direktor der Zeitung „El Nacional“ hatte ich mich vor allem mit Themen internationaler Beziehungen beschäftigt. Außerdem gehörte ich dem „Mexicanischen Komitee zum wissenschaftlichen Studium internationaler Beziehungen an“, das von einem meiner Kampfgefährten vom Beginn der Revolution 1910, Luis Sánchez Pontón, geleitet wurde. Mein Wunsch war, diese ganze Thematik im Interesse einer guten Zeitungsarbeit kennenzulernen. All diese Faktoren führten jedoch dazu, daß verschiedene meiner Freunde den Wunsch in mir weckten, in den Auswärtigen Dienst zu gehen. Sie trugen es Präsident Cárdenas vor, der erst nicht damit einverstanden war. Wir sprachen lange darüber. Er wollte wissen, ob ich aus einem bestimmten Grund wegwollte. Ich verneinte das und erklärte, daß ich draußen viele neue Dinge zu lernen hoffte. Ich erzählte ihm von meinen Studien über die Vorkriegssituation in Europa und die verschiedenen Varianten einer Kriegsökonomie, die ich erarbeitet hatte. Schließlich wurde ich als Generalkonsul nach Frankreich entsandt.

Eine letzte Frage: Verfolgen Sie heute noch die mexicanische Politik, das aktuelle Geschehen?

Na, selbstverständlich. Das gehört einfach zu meinem ganzen langen Leben, das ich aktiv und mit steter Beteiligung am Geschehen meines Landes verbracht habe. Auch durch meine langjährige journalistische Arbeit habe ich eine ständige Aufmerksamkeit für das, was gerade geschieht. Man lebt doch seine Zeit, nicht wahr! Und dabei sollte man soweit wie möglich auch das weltweite Panorama im Blick haben und natürlich darüber nachdenken, reflektieren. Unsere Fähigkeit zur Reflexion müssen wir nutzen und üben, um in der Lage zu sein, zu Synthesen und Prognosen zu gelangen, wenn wir die großen Ereignisse von heute betrachten. Worauf läuft die heutige Situation hinaus? Sofern wir nicht einem absoluten Pessimismus verfallen, muß man doch erwarten, daß die Bestimmung der Völker und des Menschen ist, Klarheit zu gewinnen, Zukunftsentwürfe zu machen und im Maße des Möglichen ihr Leben verwirklichen zu können. Wir werden sehen. Auf alle Fälle werden wir uns bis zum letzten an dieser Hoffnung festhalten!