Der Giftgürtel ist nur ein Problem von vielen

In vielen Regionen Mexikos sind die Wassertarife für die Haushalte gestiegen. Und während die Wasserreserven sich noch vor anderthalb Jahrzehnten auf etwa 100 Millionen Mexikaner*innen verteilten, müssen sie heute für fast 125 Millionen Menschen reichen. Dabei konzentrieren sich im Landeszentrum und im Norden, wo weniger Regen fällt (circa 20 Prozent des Gesamtvolumens), etwa drei Viertel der Bevölkerung sowie 90 Prozent der Bewässerungswirtschaft und 70 Prozent der Industrie.

Der Wasserverbrauch der Haushalte macht jedoch nur etwa 13 Prozent des Gesamtkonsums aus. Gut zehn Prozent entfallen auf die Industrie, der Rest von fast 80 Prozent auf die Landwirtschaft. Interessanterweise richten sich die Kampagnen gegen die Wasserverschwendung fast ausschließlich an die (urbane) Bevölkerung. Ineffiziente Nutzung in der industriellen Bewässerungslandwirtschaft oder in anderen Industriezweigen wird kaum angeprangert. Die Wasservorkommen im Zentrum und Norden Mexikos leiden unter Überausbeutung. Zunehmend wird deswegen jahrtausendealtes Wasser aus der Tiefe geholt – mit hohem Gehalt an Arsen und Fluorsalz. Wissenschaftler*innen sprechen in diesem Zusammenhang von einem „Giftgürtel“, der vom Bundesstaat Hidalgo im Zentrum über die Bundesstaaten Querétaro, Guanajuato, San Luis Potosí bis in den Norden nach Durango und Coahuila führt. Dazu kommt die Kontaminierung von der Oberfläche aus: Einleitungen von Industrieabfällen und das Einsickern von Agrargiften. In den seltensten Fällen müssen die Verursacher Sanktionen befürchten. Die umstrittene nationale Wasserbehörde Conagua hat das Budget für Inspektionen und Wasserkontrollen in den vergangenen Jahren systematisch gekürzt. Als eine Konsequenz gelten heute 80 Prozent der Quellen für die Wasserversorgung als in unterschiedlichem Ausmaß kontaminiert. Die Conagua selbst gibt an, dass von den landesweit verzeichneten 653 Grundwasserspeichern über 100 stark kontaminiert sind. Ebenfalls mehr als 100 sind demnach übernutzt. 

Neben zwölf Millionen Mexikaner*innen, die über keinen Trinkwasseranschluss verfügen, bekommen weitere 13 Millionen Wasser mit schlechter Qualität. Ohnehin gilt das Wasser aus der Leitung in der Regel als nicht trinkbar – wobei dies nicht immer stimmen muss. Der weitverbreitete Glaube führt jedenfalls dazu, dass Mexiko einen hohen Verbrauch von abgefülltem Flaschenwasser hat. Dazu nimmt das Land weltweit eine Spitzenposition beim Konsum von Erfrischungsgetränken ein. In beiden Fällen lassen sich die Nutznießer im Wesentlichen auf zwei Namen reduzieren: Pepsi Cola und Coca Cola. Auch dies ist eine Form der Wasserprivatisierung.

Die skandalösesten Fälle im Umgang mit dem Wasser beziehungsweise diejenigen, die am bekanntesten sind, konzentrieren sich derzeit auf den Norden des Landes. So wird im Bundesstaat Baja California in großem Stil Wasser in Form von Beeren und Gemüse exportiert. Dort verbrauchen riesige Plantagen im Anbaugebiet von San Quintín enorme Mengen an Wasser. Die Tagelöhner*innen von San Quintín dagegen leben zu großen Teilen in „Galeeren“ genannten Unterkünften ohne Wasseranschluss. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als für Wasser in Fässern teuer zu bezahlen.

In der von Wüste umgebenen und unter Wasserknappheit leidenden Stadt Mexicali, ebenfalls in Baja California, will das Unternehmen „Constellation Brands“ eine Bierfabrik bauen. Der Gouverneur Francisco Vega hatte dem Konzern 20 Millionen Kubikmeter Wasser jährlich sowie einen etwa 70-prozentigen Preisnachlass zugesichert. Vega musste nach wütenden Protesten der Bevölkerung bereits ein Wasserprivatisierungsgesetz zurücknehmen; und nun geht mit der Bewegung „Mexicali Resiste“ ein breites Bündnis gegen das Vorhaben von „Constellation Brands“ vor. Die vorübergehende Festnahme des Aktivisten León Fierro mit anschließender Schikane im Gefängnis und einer anfänglichen Mordanklage – aufgrund einer Knöchelverletzung einer anderen Person, die er angeblich auf einer Demonstration verursacht habe! – hat die Bewegung weiter gestärkt.

Im Bundesstaat Sonora leidet die Bevölkerung in acht Landkreisen immer noch unter den Folgen der Verseuchung der Flüsse Bacanuchi und Sonora. Am 6. August 2014 waren dort 40 Millionen Liter giftiger Säuren aus einem Auffangbecken des Bergwerkes „Buena Vista del Cobre“ ins Flusswasser gelangt. Von ursprünglich 36 vereinbarten Aufbereitungsanlagen für Trinkwasser wurden nur drei installiert. Sie funktionieren aber nicht, weil der Bergbaukonzern „Grupo México“ sich weigert, die Betriebskosten zu bezahlen (Besitzer Germán Larrea, einer der reichsten Mexikaner, kann getrost als herausragender Vertreter des Raubtierkapitalismus bezeichnet werden). Eine Klinik zur Behandlung von 381 direkt gesundheitlich Betroffenen wurde im Juni 2016 geschlossen. Der gesamte Prozess der Sanierungsarbeiten ist von Unregelmäßigkeiten geprägt. Dennoch erklärte das Umweltministerium die Flüsse für „komplettsaniert“.

In Sonora erregte auch der Fall des Aquäduktes „Independencia“ Aufsehen. Über die Leitung werden dem Yaqui-Fluss große Mengen an Wasser entnommen, um es in die Landeshauptstadt Hermosillo zu transportieren. Angeblich zur Versorgung der Haushalte, laut Kritiker*innen aber, um den Wasserbedarf der Industrie in Hermosillo zu garantieren. Das Volk der Yaqui klagte wegen Verletzung seiner Wasserrechte und fehlender Konsultation vor Gericht mehrfach erfolgreich. Genutzt hat das am Ende nichts. Der Fall zeigt eine generelle und beabsichtigte Schwäche der mexikanischen Gesetzgebung. Damit wird vermieden, die kollektiven Rechte der indigenen Bevölkerung auf ihren Territorien anzuerkennen. Stattdessen wird von Rechten auf „Böden“ oder an bestimmten „Orten“ gesprochen. Das macht die juristische Verteidigung gegen Großprojekte, zum Beispiel gegen Stauwerke oder Bergbaukonzessionen samt ihren Auswirkungen auf den Zugang der lokalen Bevölkerung zu den Wasserreserven, wesentlich schwieriger und weniger erfolgversprechend.     

Bei anderen Flüssen wird seit Jahrzehnten hingenommen, dass sie eher Kloaken als Fließgewässern ähneln. Der Río Santiago, der durch die Bundesstaaten Jalisco und Nayarit führt, oder der Río Lerma im Bundesstaat Mexiko sind zum Himmel stinkende Beispiele dafür.
Der größte Süßwassersee Mexikos, der Lago Chapala, versorgt die Millionenstadt Guadalajara im Bundesstaat Jalisco. Wiederholt sind Rückstände von Pestiziden, Anabolika und Medikamenten im See nachgewiesen worden. Die Einleitung von Abwässern gefährdet permanent die Wasserqualität. Teile des Sees drohen zudem zu versanden. 

Die jüngste Wasserkontroverse löste der noch amtierende Präsident Enrique Peña Nieto aus. Anfang Juni 2018, kurz vor der sich abzeichnenden herben Wahlniederlage der Regierungspartei PRI bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vom 1. Juli, unterzeichnete er zehn Dekrete. Sie betreffen insgesamt 300 Wassereinzugsgebiete und 55 Prozent der Seen und Flüsse des Landes. Die Dekrete behalten einerseits einen Teil der Wasserreserven für die öffentlich-urbane Nutzung und den Umweltschutz vor. Andererseits geben sie durchschnittlich 70 Prozent der Wasserreserven in den 300 Einzugsgebieten zur Konzessionsvergabe frei. Unter dem vorher geltenden Schutzregime war das für diese Gebiete nicht möglich. Die Konzessionen für die Wassernutzung sollen über 30 Jahre mit Verlängerungsmöglichkeit laufen. Sie können auch transferiert werden. Theoretisch könnte ein Bauer seine Konzession an ein Bergbau-Unternehmen verkaufen. Bis zum 30. November, also einen Tag vor dem offiziellen Amtsantritt des neuen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador, kann die Wasserbehörde Conagua mit reichlich verteilten Konzessionen noch Fakten schaffen. Allerdings gibt es von Umweltorganisationen und indigenen Gemeinden aus zwölf Bundesstaaten bereits Anträge auf einstweilige Verfügung gegen die Dekrete. In den 57 Gemeinden der Diözese San Cristóbal im Bundesstaat Chiapas protestierten innerhalb weniger Wochen mehr als 40 000 Menschen mit einer Unterschriftenliste gegen das Vorpreschen Peña Nietos.