Ich hörte das erste Mal von Checo, als ich Ende 1998 als Menschenrechtsbeobachterin in Südmexiko unterwegs war.[fn]Damals schwelte ein „Krieg niederer Intensität“, seit sich die indigenen Zapatist*innen 1994 erhoben hatten, um gegen das Freihandelsabkommen NAFTA und den Plan Puebla Panamá zu protestieren, die ihre Lebensgrundlagen gefährdeten sowie Diskriminierung und Ausbeutung der indigenen Bevölkerung zu verschärfen drohten.[/fn]| Überall war die Rede von einem Wandbild, das in der indigenen Gemeinde Taniperla gemalt und bei seiner Einweihung durch einen militärischen Großeinsatz zerstört worden war. Außerdem hörte ich von einem Professor für Design und Kommunikation, von Menschenrechtsanwälten und Gemeindemitgliedern, die dabei inhaftiert wurden, sowie von internationalen Beobachter*innen, die nach diesem Einsatz abgeschoben wurden.
Zu der Zeit lernte ich Antonio, einen Linguistikprofessor, kennen, der mir die Feinheiten des Tzeltal, einer indigenen Mayasprache näher brachte. „Yich’el ta muk“, das tzeltalische Wort für Respekt, bedeutet nicht bloß, die andere Person zu tolerieren, sondern dass die Person, die Respekt bietet, das Herz der Person, die den Respekt erhält, öffnet, und ihr eigenes dazu. Antonios sonniges Gemüt war zu der Zeit allerdings betrübt, denn er hatte seinen guten Freund Checo dazu gebracht, die Einladung der Tzeltalgemeinde anzunehmen, mit ihnen ein Wandbild zu malen. Und nun saß Checo im lokalen Gefängnis von Cerro Hueco ein. Wie Checo mir später erzählte, ließ er sich dort nicht allzu sehr von den Sachzwängen beeindrucken, sondern plante mit seinen Mithäftlingen direkt das nächste Wandbild zum Thema Frieden und Menschenrechte. Abgesehen davon stellten die Insassen ein reichhaltiges Kulturprogramm auf die Beine, unter anderem mit Lucha Libre, der mexikanischen Spielart des Wrestlings.
Ein Jahr später hielt ich mich für meine Studienarbeit in Mexiko-Stadt auf. Dort traf ich Checo zum ersten Mal persönlich. Er erzählte begeistert von der Strahlkraft, die das vor einem Jahr zerstörte Wandbild in der Zwischenzeit entfaltet hatte. Dank einiger Fotos, die den Militäreinsatz überlebt hatten, prangte das Wandbild von Taniperla nun als Replik in seiner Universität, weitere Repliken waren in Planung. So entstand die Idee, gemeinsam ein Wandbild in Deutschland zu organisieren. Es sollte allerdings nicht bei dieser einen Replik bleiben.
Die gleiche partizipative Methode, die Checo im chiapanekischen Kontext entwickelt hatte, sollte im hiesigen Umfeld zum Tragen kommen und zentrale Themen aus unserem sozialen Kontext grafisch umsetzen. Angesteckt von seiner Begeisterung machte ich mich auf die Suche nach einer Wand und einer Gemeinschaft, die gewillt war, ein kommunales Wandbild gemeinsam zu gestalten. Ich stellte die Idee in der LC36, einem autonomen Wohnprojekt in der Kölner Innenstadt, vor, gewann Mitstreiter*innen und eine 12 x 24 Meter hohe Wand. Anträge an das Projekt Mural global von der UNESCO und den Asta der Fachhochschule Köln wurden geschrieben, um Reisen, Gerüst und Materialien zu finanzieren. Während Checo bereits in München mit dem Ökumenischen Büro für Frieden und Gerechtigkeit am nächsten Wandbild arbeitete, leisteten wir in Köln Vorarbeit. Die 250 Quadratmeter Wand wurden mit Drahtbürsten bearbeitet, versiegelt und geweißt. Wir quadrierten das Bild „Leben und Traum im Tal des Perla-Flusses“ und trugen es in der Mitte der Wand auf. Die Aktion schweißte Leute aus verschiedenen Gruppen zusammen, die sich in der LC trafen. Es wurde gemeinsam gekocht und über die Menschenrechtslage in Mexiko gesprochen. Als Checo mit seiner Assistentin Sara im Sommer 2000 am Bahnhof Köln-West einfuhr, strahlte ihnen eine riesengroße weiße Wand, in der Mitte davon das Wandbild von Taniperla, entgegen. Eine erwartungsfrohe Gruppe empfing sie mit veganer Volxküche. Im Verlauf des Aufenthaltes musste ich öfters mit Checo ins Brauhaus, denn er liebte Himmel un Ääd (Stampfkartoffeln mit Apfelstückchen) mit Flönz (kölsche Blutwurst) sowie frische Bratwurst über alles.
Zu Beginn des Workshops, in dem wir unser kommunales Wandbild entwerfen sollten, bekam jede*r von uns ein Blatt Papier und sollte zeichnen, was in seiner*ihrer Gemeinschaft wichtig ist. Hier hätte alles schon direkt enden können. Schließlich sagten die meisten: „Ich kann nicht zeichnen“. Aber ebenso wenig, wie sich Checo von sozialen Konventionen und Sachzwängen beeindrucken ließ, schenkte er diesen Einwänden Beachtung. Und die Leute fingen an zu zeichnen. Zaghaft mit Bleistift. Am ersten Tag erschienen Ketten, Gitter und Mauern auf den Blättern. Am nächsten Tag wurden die ersten Ketten gesprengt, Mauern eingerissen und Gitter durchbrochen. Von der Einzelarbeit ging es über zur Paararbeit, zu Dreier- und Vierergruppen. Die Zeichnungen gewannen an Kraft und Bewegung, wir diskutierten viel, berieten uns und feierten zusammen. Am Ende gab es drei Entwürfe, aus denen gemeinsam nach dem Konsensprinzip das Modell für unsere Wand ausgewählt wurde: ein bunter, solidarischer Wirbelwind sozialer Bewegungen, der vom Horizont her die Geschichte der sozialen Kämpfe aufrollt. Zunächst wurden Kronen und Grenzzäune, Symbole für Monarchie und Nationalstaaten, durchbrochen, Monopole zerstört – auch in Köln ansässige Medienmonopole –, politische Gefangene befreit, Nazis, Militär und Überwachungsstaat ins All geschossen. Der Antrieb des Wirbelwindes sind „Amor y Rabia“ – Liebe und Wut.
Der gelernte Grafiker Checo übernahm die Reinzeichnung. Er legte stets Wert darauf, dass nicht er, sondern die Gemeinschaft Autorin des Kunstwerkes ist. So wenig sich Checo von Konventionen beeindrucken ließ, so aufmerksam hörte er zu, wenn die Leute von ihren Lebensbedingungen und Träumen sprachen. Jedes Detail wurde aufgenommen. Was in Taniperla die den Männern vorbehaltene Uhr am Handgelenk der Frauen war, waren in Köln die Details bei der Zusammensetzung des Wirbelsturms: unterschiedliche Menschen, Tiere, Bauwagen… Der Entwurf wurde über eine Quadratur, wie bereits mit Taniperla geschehen, auf die Wand übertragen. Nach zwei Wochen Kletterei mit Blick auf den Dom, Kästchen für Kästchen übertragen, feiern, lachen, reden, waren wir mit einem gewissen Stolz auf unser Werk erfüllt. Am letzten Abend gaben wir das Gerüst für die Sprayer frei und konnten am nächsten Morgen unseren Augen kaum trauen. Durch das Graffiti hatte alles eine Dreidimensionalität und der Wirbelsturm eine ganz eigene Energie erhalten, Gesichter waren fotoähnlich zu erkennen. Zu Beginn des Workshops hätte niemand mit so einem Ergebnis gerechnet.
Gehorchend Malen
Ich hatte noch einmal die Gelegenheit mit Checo ein Wandbild mit Kunsthandwerkerkooperativen in El Salvador zu organisieren, und eines selbst mit salvadorianischen Grassrootsorganisationen durchzuführen. Die Magie des Momentes, wenn das „Ich kann nicht malen“ überwunden wird, ist jedes Mal unbeschreiblich. Danach kommt so viel Energie ins Fließen, alles ist möglich. „Jede Gemeinschaft ist in der Lage, mit der Methode des Pintar Obedeciendo[fn]„gehorchend malen“, angelehnt an den zapatistischen Wahlspruch „gehorchend regieren“[/fn] einen ästhetisch ansprechenden Ausdruck ihrer Lebensrealität und Träume zu erstellen“, so Checos Zusammenfassung der Methode.
Genau das hatte die mexikanische Regierung, der die Autonomiebewegung der Indigenen zu unbequem war, offenbar erkannt, so dass sie das Militär die Darstellung der gemeinschaftlichen Träume in Taniperla zerstören und ihre Autor*innen einsperren ließ. Dass sie damit zur weltweiten Verbreitung der Methode „Mural Comunitario Participativo“ (MPC) beitrug und letztlich die sozialen Bewegungen stärkte, hatte sie wohl nicht erwartet. Gemeinsam mit seinen Assistentinnen feilte Checo weiter an der Methode. In zertifizierten Kursen bildete er etliche kommunale Wandbildpromotor*innen aus, die nun ihrerseits in unterschiedlichen Kontexten die Menschen dazu bewegen, sich auszutauschen, zu organisieren und den Pinsel zu schwingen.
Dass Checos Herz nicht mehr unter uns schlägt, schmerzt. Die Farbe, die er in unser Leben brachte, erfüllt uns mit Dankbarkeit und Liebe.