Der lange Nachklang der Revolutionsmusik

Der corrido entwickelte sich aus der spanischen Romanze. Bis in das 19. Jahrhundert hatten die Romanzen einen anekdotischen Charakter. Der mexikanische Unabhängigkeitskrieg (1810-21) und der mexikanisch-amerikanische Krieg (1846-48) gaben ihnen einen nationalistisch-patriotischen Inhalt. Doch erst die mexikanische Revolution (1910-24) steuerte das reiche Volkselement bei, das die corridos bis heute prägt. Die Thematik wurde erweitert und erhielt realistischere und authentischere Akzente. Seit der mexikanischen Revolution ist der corrido im kollektiven Gedächtnis der MexikanerInnen eng mit dem Volkskampf verbunden. So wurde auch der Zapatistenaufstand der 90er Jahre in Chiapas von corridos begleitet.

Der corrido hat vor allem eine lokale, regionale Identität. Während die corridos norteños aus dem Norden Mexikos und die sogenannten städtischen corridos, corridos urbanos, einen stärkeren Einfluss der spanischen Romanze aufweisen, sind die corridos surianos der südlichen Bundesstaaten Morelos, Puebla und Guerrero mehr an die indigene, poetisch-musikalische Tradition dieser Region angelehnt. Ihr inhaltlicher Schwerpunkt sind Liebe und die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit. Die corridos norteños und urbanos besingen dagegen hauptsächlich Helden und andere mutige Zeitgenossen.

Der Mutige (el valiente) ist der mexikanische Volksheld in den corridos. Er kommt aus der Mitte des Volkes, ist Teil davon und verkörpert die Werte und Forderungen seiner lokalen Gemeinschaft. Diese erkennt ihn wiederum als Anführer an und bietet ihm offen oder versteckt Schutz. Bestimmte Merkmale machen aus einem Mann einen corrido-würdigen Helden: Er beweist vor allem Tapferkeit angesichts des Feindes, der Gefahr und des Todes, was ihm Bezeichnungen wie macho oder gallo fino (feiner Hahn) einbringt. Sein Gegenspieler ist die mexikanische Regierung als repressiver Apparat und bei den corridos norteños auch die US-amerikanische Regierung, oft in der Person des Grenzbeamten. Der Mutige hat ein tragisches Schicksal, weil er stets durch einen Verrat ums Leben kommt. Meistens stirbt er in einem Hinterhalt oder in einem ungleichen Kampf mit den Regierungstruppen. Nicht selten wird er aber auch von einem engen Freund, Verwandten oder einer Frau verraten. Durch den Tod wird er unsterblich.[fn]Héau Lambert, Catherine/ Gilberto Giménez, „La representación social de la violencia en la trova popular mexicana”, in: Revista Mexicana de Sociología (2004), Vol. 66, Nr. 4, S. 627-659[/fn] Die caudillos (Anführer) Francisco I. Madero, Emiliano Zapata, Francisco Villa, Venustiano Carranza und Álvaro Obregón sind die größten Volkshelden der mexikanischen Revolution:

Villa era un pollito muy fino
y no había otro en la nación,
como le tuvieron miedo
lo mataron a traición.

Siempre peleaba justicia,
no ambiciones de la silla,
y regocijaba el alma
el nombre de Pancho Villa
Villa war ein sehr feiner Hahn
und es gab keinen zweiten in der Nation,
weil sie ihn fürchteten
töteten sie ihn durch Verrat.

Er kämpfte stets für Gerechtigkeit
und nicht für irgendwelche Posten,
und die Seele erfreute sich
beim Namen Pancho Villa.

Der valiente hat auch eine romantische Seite. Er erobert die Frauenherzen und ist nicht zuletzt auch ein Held der Schlafzimmer. Gemäß dem Macho-Stereotyp, dass Frauen zu Undankbarkeit und Betrug neigen, sind es oft die Geliebten, die den Mutigen verraten. Die mexikanische Revolution erweiterte das Frauenbild der corridos um das der weiblichen Heldinnen, der soldaderas. Diese Soldatinnen kämpften an der Seite ihrer Männer oder begleiteten sie als Köchinnen und Geliebte in den Krieg. Ihre außerordentliche Rolle in der Revolution wird in zahlreichen corridos gewürdigt. Adelita ist der bekannteste von ihnen. Die Truppen unter den Generälen Domingo und Areta wurden als Adelitos bekannt, als sie diesen corrido bei ihrem Einzug in Mexiko-Stadt sangen, der sich daraufhin in ganz Mexiko verbreitete:[fn]Jaeck, Lois Marie, „,Viva México/Viva la Revolución’ One hundred years of popular/protest songs: the heartbeat of a collective identity”, in: Ciencia Ergo Sum (2001), Vol. 8, Nr. 1, S. 41-49[/fn]

Popular entre la tropa era Adelita,
la mujer que el sargento idolatraba;
porque a más de ser valiente, era bonita.
¡y hasta el mismo coronel, la respetaba! 

Y se oía, que decía aquel que tanto la quería:
¡Si Adelita, se fuera con otro,
la seguiría por tierra y por mar…!
Si por mar: en un buque de guerra
y si por tierra: ¡en un tren militar!

En lo alto de una abrupta serranía
acampado se encontraba un regimiento,
y una moza que valiente lo seguía,
¡locamente enamorada, de un Sargento!

Y se oía, que decía aquel que tanto la quería:
Y si acaso yo muero en campaña,
Y si mi cuerpo en la sierra se va a quedar, Adelita por Dios te lo ruego,
Que a mi tumba me vayas a llorar.
Adelita war populär in der Truppe,
die Frau, die der Feldwebel vergötterte;
denn sie war nicht nur mutig, sondern auch schön
und sogar der Oberst zollte ihr Respekt!

Und man hörte denjenigen, der sie so liebte, sagen:
Falls Adelita mit einem anderen fortginge,
würde ich ihr folgen über Land und Meer!
Auf dem Meer: in einem Kriegsschiff
und zu Lande: in einem Militärzug!

Auf der Höhe einer schroffen Bergkette
hatte das Regiment sein Lager aufgeschlagen,
und ein Mädchen folgte ihm sehr tapfer,
in Liebe entbrannt für einen Feldwebel!

Und man hörte denjenigen, der sie so liebte, sagen:
Falls ich im Krieg falle,
und mein Körper im Gebirge zurückbleibt,
bitte ich dich Adelita, um Gottes Willen,
dass du an meinem Grab um mich trauerst.

Bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts war der corrido ein wichtiges Kommunikations- und Informationsmittel für die breite Bevölkerung, die selten lesen und schreiben konnte. Mit der Modernisierung des Landes und der Verbreitung der Massenkultur drohte diese Ausdrucksform mexikanischer Volkskultur verloren zu gehen. Doch gerade die Massenmedien wie das Fernsehen, Plattenfirmen und in neuerer Zeit auch das Internet unterstützten das Aufleben des corrido seit den 70er Jahren in Form der narco-corrido aus dem Milieu des Drogengeschäfts.

In gewisser Weise sind die corridos über Tabak- und Alkoholschmuggel in die USA Vorreiter der narco-corridos. In einem ungleichen Kampf mit dem mächtigen amerikanischen Nachbarn beweist der Held Mut, Schlauheit und Gerissenheit, um seine Waren über die Grenze zu schmuggeln. Im Vergleich zu den narco-corridos liegt der inhaltliche Schwerpunkt jedoch nicht auf dem illegalen Handel, sondern auf dem Kampf mit den Grenzbeamten; es ist der Widerstand gegen die Staatsgewalt, der den Schmuggler zum Volkshelden macht. Im Laufe der 80er Jahre haben sich die narco-corridos zwar nicht in ihrer Form, aber inhaltlich stark vom traditionellen Mutigen entfernt. Die Gewalt, die beim illegalen Drogenhandel zum Einsatz kommt, erfüllt nicht mehr den Zweck, soziale und politische Gerechtigkeit herzustellen, sondern lediglich den der Bereicherung. Das Wohl der Gemeinschaft weicht dem exklusiven materiellen Wohl des Individuums. Im Mittelpunkt stehen die Abenteuer des Drogengeschäfts. Die Namen der DarstellerInnen werden verheimlicht oder durch Pseudonyme ersetzt: Jefe de jefes (Boss der Bosse), El Manos Verdes (Der Grüne-Hände), El amo (Der Herr) oder El León de la Sierra (Der Gebirgslöwe). Ausgangspunkt für ein Leben als Drogenhändler ist die Erfahrung der Armut:

Ya cansado de comer puros huevos y frijoles,
y que todos me humillaran tan sólo porque era pobre,
me dediqué al contrabando, buscando cosas mejores (…)

Erschöpft, weil ich nur Eier und Bohnen aß,
und jeder mich wegen meiner Armut erniedrigte,
stieg ich in das Schmugglergeschäft ein,
auf der Suche nach Besserem (…)

Viele narco-corridos kritisieren die Agrarpolitik der mexikanischen Regierung, die den Bauern/Bäuerinnen keine Überlebenschance lässt, weshalb sie zum Anbau illegaler Pflanzen übergehen:

Las dos hectáreas de tierra que me heredara mi padre;
Las sembraba con cariño para salir adelante,
mas la realidad es otra: me estaba muriendo de hambre (…)
Con aquellas dos hectáreas sembradas de hierba mala
inicié una nueva vida, pues con dólares pagaban (…)

Die zwei Hektar Land, die ich von meinem Vater erbte,
bebaute ich mit Liebe, um weiter zu kommen,
aber die Realität war eine andere: ich war im Begriff zu verhungern (…)
Mit den zwei Hektar, die ich mit Hanf bepflanzte,
habe ich ein neues Leben begonnen, weil ich mit Dollar bezahlt wurde (…)

Der subversive Charakter des narco-corrido liegt in der Darstellung und Kritik einer hierarchischen und klassenbezogenen mexikanischen Gesellschaft, die den sozialen Aufstieg der ärmsten Sektoren über legale Wege kaum zulässt. Anders als in den corridos der mexikanischen Revolution versuchen die Drogenhändler jedoch nicht, das soziale System umzuwälzen. Die Erfahrung der Armut und Ungerechtigkeit legitimiert in ihren Augen die illegalen Geschäfte sowie die Gewalt, die dabei ausgelöst wird. Absolutes Ziel ist der materielle Reichtum, der ihnen ursprünglich ein würdiges Leben ermöglichen sollte, jedoch meistens in verschwenderischem Luxus endet:[fn]Garza, María Luisa de la, Pero me gusta lo bueno. Una lectura ética de los corridos que hablan del narcotráfico y de los narcotraficantes, Chiapas 2008[/fn]

Para pasearme, un buen carro; para vivir, mis mansiones;
pa’ mis nervios un cigarro y el mar pa’ mis vacaciones (…)
Pa’ gastar es el dinero; pa’ trabajar, mi avioneta (…)

Ein gutes Auto, zum Herumfahren; meine Villen zum Leben;
Eine Zigarette für meine Nerven und das Meer für die Ferien (…)
Das Geld zum Ausgeben; mein Flugzeug für die Arbeit (…)

Der traditionelle Mutige handelte nach einem gesellschaftlichen Ehrenkodex. Er suchte nur die offene Auseinandersetzung mit dem Feind und tötete keine Menschen aus seiner lokalen Gemeinschaft oder Gruppe. Im Drogengeschäft sind Hinterhalt, Fallen oder Verrat an der Tagesordnung, und es wird keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung genommen. Das einzige, was der valiente und der Drogenhändler gemein haben, ist der tragische Fatalismus in Form eines gewalttätigen Todes, meistens durch Verrat. Jedoch auch der Tod hat hier eine unterschiedliche Bedeutung: der Tod eines Mutigen hat einen quasi religiösen Sinn als Opfer für das Wohl der Gemeinschaft und macht ihn zu einem unsterblichen Helden, der in das kollektive Gedächtnis der Menschen eingeht. Der Tod eines Drogenhändlers hingegen findet selten Erwähnung, höchstens in den Nachrichten oder in corridos, die post mortem in Auftrag gegeben werden. Das illegale Geschäft mit den Drogen führt den Beteiligten täglich vor, dass ihr Leben wertlos ist und sie jederzeit sterben könnten. In diesem Zusammenhang scheint der sichere Tod ihren ausschweifenden Lebensstil zu rechtfertigen.

Wie lässt sich der Erfolg der narco-corridos erklären, wenn sie so wenige Gemeinsamkeiten mit den corridos der mexikanischen Revolution haben? Auch nach der Revolution wurden corridos mit sozialen und politischen Inhalten geschrieben, viele konnten sich jedoch nie im Volksgedächtnis wie ihre Vorgänger etablieren. So sind die Kompositionen von César Chávez, Kämpfer für die Rechte der Chicanos (US-Amerikaner mexikanischer Herkunft), oder die Lieder über die gescheiterten Guerilla-Kämpfer Genaro Vázquez und Lucio Cabañas weniger bekannt als die narco-corridos der berühmten Band Los Tigres del Norte. Damit ein corrido Eingang in das kollektive Gedächtnis findet, muss der traditionelle Volksstil berücksichtigt werden. In der Volksliteratur spiegelt sich die Verbindung von historischen und modernen Ereignissen Mexikos wider. Deshalb thematisieren die corridos neben caudillos der mexikanischen Revolution, Schmugglern, Verliebten und Banditen auch SportlerInnen, KünstlerInnen und Drogenhändler. Erst die heroische, romanhafte Charakterisierung, der codierte Diskurs und die spezielle Thematik lassen sie zu unsterblichen Volkshelden werden.[fn]González, Aurelio, „Caracterización de los héroes en los corridos mexicanos“, in: Caravelle (1999), Bd. 72, S. 83-97[/fn]

Die narco-corridos weisen in ihrer Form viele der typischen Volkselemente auf: der illegale Drogenhandel wird als Protest gegen eine korrupte mexikanische Regierung dargestellt, und die Drogenhändler geben sich gerne ein Robin Hood ähnliches Image, indem sie darauf hinweisen, dass sie ihren Reichtum unter die Leute bringen und die mexikanische Wirtschaft von ihrem Geschäft profitiere. Was dem Revolutionshelden sein Pferd und seine Pistole, sind dem modernen „Volkshelden“ sein neuestes Auto und sein Maschinengewehr. Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass diesen formalen Elementen eine starke Rechtfertigungsfunktion des illegalen Handels zukommt.

Die große Popularität der narco-corridos liegt mitunter darin, dass sie einen bedeutenden Teil der mexikanischen Wirklichkeit wiedergeben, unabhängig davon, ob es sich dabei um eine heldenhafte Realität handelt oder nicht. Trotz des offiziellen Sendeverbots über Radio und des Versuches mehrerer Bundesstaaten, ihre Verbreitung zu unterbinden, werden die narco-corridos weiter konsumiert. Eine Regierung, die glaubt, auf diese Weise den Drogenhandel bekämpfen zu können, erreicht vermutlich den gegenteiligen Effekt, dass die Musik aus Protest weiter gehört wird. Die Beliebtheit der narco-corridos ist nicht zuletzt ein Zeichen dafür, dass sich die mexikanische Gesellschaft verändert hat, und solange sich die MexikanerInnen von der unangenehmen Realität, die in den narco-corridos thematisiert wird, betroffen fühlen, werden diese weiterleben.