Anders als in den übrigen Ländern des Cono Sur – Argentinien, Uruguay und Chile – wurde die Rückkehr von der Militärdiktatur zur Demokratie in Brasilien nicht von Untersuchungen einer wenn auch in allen Fällen höchst kontroversen Wahrheitskommission begleitet. Erst 2011 – 26 Jahre nach dem Ende des diktatorischen Regimes – begann eine von Präsidentin Dilma Rousseff eingesetzte Kommission mit der Aufarbeitung der zwischen 1964 und 1985 begangenen Menschenrechtsverbrechen. Bis dahin gab es die überlebenden Opfer mit all ihren Traumata offiziell überhaupt nicht.
Eines von ihnen ist Gustavo Ferreira, soeben pensionierter Schuldirektor. „Ich habe nicht geredet“ (Não falei) ist der Originaltitel des Romans, in dem sich der nunmehr 64-Jährige mehr als drei Jahrzehnte nach den Ereignissen darauf einlässt, Licht in seine Vergangenheit zu bringen. „Die Verdächtigung“ heißt das deutsche Buch und nimmt damit einen Perspektivenwechsel vor. Beide Blickrichtungen sind indessen richtig, am besten sogar zusammen. Denn darum geht es: Glauben die anderen, er habe Armando, den Freund, unter der Folter an die Militärs verraten, und kam der deshalb um, während er selbst, geschunden zwar, freigelassen wurde? Was macht das mit einem, der sich unschuldig schuldig fühlt? Wie schlägt sich die kollektive Technik des Verschweigens, Verdrängens und Vergessen bei einem Einzelnen nieder? Ist der Opfer oder doch Täter? Ein Thema, das deutsche LeserInnen ohne weiteres auf die hiesige Gesellschaft übertragen können.
„Wäre ein Gedanke ohne Worte und Bilder denkbar, vollkommen losgelöst von Zeit und Raum, aber durch mich entstanden, eine Offenbarung dessen, was sich zwar in mir und vor mir versteckt, aber da ist“ (S. 7), sagt Gustavo ganz zu Anfang, dann würde er gerne eine Geschichte erzählen. Eine also, die die Wahrheit entdeckt, ohne ihn bloßzustellen. Doch er hat bis dahin geschwiegen, ja seine eigenen Denkverbote nicht einmal bemerkt. Wäre da nicht nach der Pensionierung sein Umzug von der Metropole São Paulo ins Landesinnere nach São Carlos und die damit verbundene Auflösung seines Haushaltes, bei dem etliche und sehr unterschiedliche Schriftstücke seiner selbst und seiner näheren Umgebung zum Vorschein kommen; wäre da nicht eine neugierige Studentin, Cecilia, die für ihre Arbeit einen O-Ton aus der damaligen Zeit sucht und ihn aufspürt, er wäre vielleicht immer der fleißige, auf seine Arbeit konzentrierte Mensch geblieben, der kaum merkte, wie viel an Emotionalität er sich nicht mehr zugestand, wie viel nur noch gutes Funktionieren war.
Nach seiner Verhaftung durch die Sicherheitskräfte der Diktatur – er war politisch aktiv gewesen, aber nicht sonderlich – war seine Frau Eliana nach Paris ins Exil gegangen und bald darauf an Lungenentzündung gestorben. Armando, der im bewaffneten Kampf sehr aktive Bruder Elianas, verschwand. José, Gustavos Bruder, ging zeitweilig ins Exil nach London, Dona Esther, Armandos Mutter, brachte sich um. Zurück bleiben zerstückelte Familien. Gustavo wird freigelassen und wirft sich erfolgreich in die Arbeit als Pädagoge – Beatriz Bracher bringt hier indirekt auch viel Kritik am brasilianischen Bildungswesen unter. Mit der eigenen und Armandos Tochter kann er dagegen nicht wirklich viel anfangen. Was seine Geschwister über ihn denken, merkt er erst anhand einiger von ihnen hinterlassener Schriftstücke, die ihm beim Umzug in die Hände fallen.
Gustavo macht lange Umwege zu sich. Zeitsprünge, Beschreibungen der Personen seiner Umgebung vor der Verhaftung, philosophische Betrachtungen, Reflexionen über die Sprache oder über die wie willkürlich eingestreuten Textfragmente seiner Geschwister und seiner selbst, dazu Gedichte oder Auszüge aus Werken anderer, verstellen lange die klare Sicht und bieten Verstecke vor der Auseinandersetzung mit sich selbst. Und ebnen dann doch ganz allmählich den Weg zu dem, was in der Haft geschah, Folter, Gewalt, Scham. Die Gedankensprünge führen schließlich in die Zeit nach der Entlassung. Die war 1970, als, so der Erzähler, zehn Jahre lang in kultureller Hinsicht nichts in Brasilien geschah. Aber es stand die Fußballweltmeisterschaft bevor, welche, so beschreibt es Gustavo, ein großartiges Ablenkungsmanöver war: „Wenn wir gewinnen, ist die Katastrophe von Brasilien abgewendet.“ Recht oder Unrecht zählt nicht, nur mit dem Titel bleibt die Freude in Brasilien.
Und erst mit dem Aufblitzen dieses Gedankens, fast am Ende des Romans, als der Besuch der Interviewerin Cecilia bevorsteht, brechen die Dämme, die die Erinnerung stauten. Vielleicht glaubte nur er selbst, die anderen hielten ihn für einen Verräter, vielleicht war es nur ein eingebildetes Problem, das die „Lebenskanäle verstopfte“. Und er wird nicht mehr sagen können, wenn Cecilia kommt: „Jetzt ist Schluss.“ (S. 58)
Beatriz Bracher (geb. 1961) war noch ein Kind, als die Romanfigur, hätte es sie gegeben, verhaftet wurde. Der Roman erschien im Original 2004, genau vierzig Jahre nach dem Militärputsch. Es ist nicht ihre Geschichte, die damals geschah, aber sie hat Fragen an sie, wie die Studentin Cecilia. Sie fordert sie heraus, wie Gustavos Tochter Lígia, die als kleines Mädchen auf den Friedhöfen tanzt. Oder wie die Lehrerin Helena, die nicht zaudert. Sicher nicht zufällig sind die Erzählstimme, die sich zunächst hinter dem offiziellen Schweigen verschanzt, aus der Scham heraus, für einen Täter gehalten zu werden, oder auch sein Bruder, der Zyniker José, männlich, und sind die Figuren, die sich dem Fortgang der Diktatur aktiv entziehen – Eliana, Esther – oder die Verhältnisse zum Tanzen bringen – Lígia, Cecilia – weiblich.
Nicht verschwiegen werden sollte am Schluss noch etwas ganz anderes: die Herausforderung, die die Übertragung dieses Romans ins Deutsche bedeutete. Ein Lob an die Übersetzerin Maria Hummitzsch.
Siehe auch eine Besprechung ihres Romans „Antonio» in ila 365.