Der Macri-Effekt

Durch die Dollarisierung der Strom-, Gas- und Wassertarife sowie ständige Benzinpreiserhöhungen wurde in Argentinien in der Regierungszeit Mauricio Macris (seit Ende 2015) eine galoppierende Inflation in Gang gesetzt, die die Preise für medizinische Behandlungen und Medikamente explodieren ließ. Das hatte zur Folge, dass die verschiedenen Krankenversicherungen ihre Leistungen kürzten, manches ganz aus dem Katalog strichen. Hinzu kam, dass es aufgrund von Massenentlassungen weniger Beitragszahler*innen gibt und der Sektor der nicht registrierten und damit auch nicht sozialversicherten Beschäftigungsverhältnisse stark gewachsen ist. Die Betroffenen gehen im Krankheitsfall zur kostenlosen Behandlung in die überlasteten öffentlichen Krankenhäuser oder schlicht gar nicht zu einem Arzt oder einer Ärztin.

Im Rahmen der vom Internationalen Währungsfonds verordneten Strukturanpassungsmaßnahmen wurde das nationale Gesundheitsministerium zu einer Abteilung im Ministerium für Soziale Entwicklung degradiert, heute Ministerium für Gesundheit und Soziale Entwicklung, geleitet von Carolina Stanley. Gesundheit hat seitdem am Kabinettstisch von Macri keine eigene Stimme, was im übrigen in jeder Militärdiktatur und auch nach der Staatspleite 2001 so war. Im geplanten Kabinett der neuen, im Dezember 2019 ihr Amt antretenden Regierung unter Alberto Fernandez ist wieder ein Gesundheitsminister benannt worden.

Stanley wird in einem gemeinsamen Bericht mehrerer UNO-Organisationen zur sozialen Lage in Argentinien im August 2019 vorgeworfen, dass während ihrer Amtszeit in nur zwei Jahren zwischen 2016 und Ende 2018 die Anzahl der Personen, die unter mittlerer bis schwerer Ernährungsunsicherheit, also Hunger, leiden, um fast sechs Millionen auf 14,2 Millionen angestiegen ist. Der sprunghafte Anstieg um 71 Prozent befördert Argentinien neben Afghanistan, Nigeria, Sierra Leone und anderen in die Gruppe mit der weltweit höchsten Zunahme von Mangelernährung in diesem Zeitraum (Wikipedia spanisch).

Mit der Runterstufung des Ministeriums auf eine Direktion wurde ein wichtiger Teil der medizinischen Infrastruktur geschwächt. Das Ministerium war für die Zulassung von Medikamenten und Verträge mit den Pharmafirmen zuständig, für die Regulierung des stark fragmentierten Gesundheitssektors, für Maßnahmen im Fall von Epidemien, landesweite Gesundheitskampagnen und anderes mehr. Das heißt, durch die Runterstufung verzögern sich alle Abläufe, Programme werden eingedampft und eine Zukunftsplanung zur Verbesserung oder gar Ausweitung der Gesundheitsversorgung geht gegen null.

Das argentinische Gesundheitssystem basiert auf drei Säulen, dem öffentlichen Sektor mit der nationalen und 23 provinzialen Krankenversicherungen sowie den öffentlichen Kranken-häusern, den über 200 nach Berufsgruppen organisierten Krankenversicherungen und den privaten ganz auf Profit orientierten Krankenversicherungsfirmen mit angeschlossenen Privatkliniken.

Die Kritiken an den Leistungen des PAMI (Programa de Asistencia Médica Integral), der großen staatlichen Krankenversicherung, aber auch allen anderen Versicherungen, sind zahllos. Die Versorgung habe sich in den letzten Jahren insgesamt verschlechtert, unter anderem weil eine Reihe von Fachärzten, Laboratorien und Radiologischen Zentren nicht mehr für PAMI arbeiten, mit der Folge, dass die Patienten viel weniger Auswahl haben, weiter reisen und oft monatelang auf einen Termin warten müssen.

Kritisiert wird auch die eingeschränkte Versorgung von chronisch Kranken, die Limitierung von Kostenübernahmen bei Medikamenten zur Behandlung von Alltagskrankheiten, gestrichene Präventionsmaßnahmen und eine unerträgliche Bürokratie. Für viele Behandlungen und spezielle Untersuchungen muss vorab die Erlaubnis der Krankenkasse eingeholt werden. Immer wieder wird gesagt, das Schlimmste seien die Wartezeiten in den PAMI-Büros, wo es häufig keine Stühle gibt. Oft werde man auch von der Versicherung für Rückfragen einbestellt, die sich dann als überflüssig erweisen.

Doch in einem sind sich die PAMI-Patient*innen einig: Wenn es um gravierende Erkrankungen wie eine Dengueepidemie, AIDS oder um plötzlich notwendige Operationen geht, klappt die Versorgung nach wie vor gut bis hervorragend. Das PAMI übernimmt die kompletten Kosten bis hin zum Transport und der Unterbringung eines Angehörigen, sofern die Behandlung nicht vor Ort erfolgen kann, sondern in der Kreisstadt, in der Provinzhauptstadt und manchmal auch in der Hauptstadt vorgenommen werden muss. Auch werden weiterhin in den öffentlichen Krankenhäusern neben den Versicherten alle Patienten, die keine Krankenversicherung haben, kostenlos behandelt.

Nicht nur im nordargentinischen Salta unweit der Grenze zu Bolivien lautet ein weit verbreiteter Vorwurf, dass Migrant*innen, insbesondere Bolivianer*innen, die kostenlosen argentinischen Gesundheitsprogramme und Behandlungen in den öffentlichen Krankenhäusern ausnutzten. Eine Biochemikerin mit langjähriger Erfahrung im Labor eines öffentlichen Krankenhauses in Salta berichtet, sie habe immer wieder erlebt, dass bolivianische Einwanderer samt Familie im eigenen Wagen kämen und sich als unversichert und mittellos vorstellten. Auch habe sie einen AIDS-Patienten aus Santa Cruz de la Sierra (Bolivien) gehabt, der jeden Monat zur kostenlosen Kontrolle und Versorgung mit Medikamenten anreiste. Doch die mit diesen Aussagen stets verbundenen Generalisierungen und Stereotypen verweisen auf tiefsitzende Vorurteile. Unbestreitbar gibt es solche Fälle und wahrscheinlich häufen sie sich auch in den grenznahen Provinzen. Immerhin kam es 2018 in der Nachbarprovinz Jujuy zu Streitigkeiten mit Bolivien, da durch die kostenlose Behandlung bolivianischer Migrant*innen erhebliche Kosten entstehen, doch umgekehrt Argentinier*innen in Bolivien nicht den gleichen kostenlosen Zugang zur medizinischen Versorgung hätten (was im Juli 2019 durch ein zwischenstaatliches Abkommen auf Gegenseitigkeit geregelt wurde).

Die Kluft in der Gesundheitsversorgung zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen und zwischen den urbanen Zentren und dem Innern der Provinzen ist eklatant, sowohl was den Zugang dazu als auch die Qualität angeht.

Besonders ist davon der Norden Argentiniens mit den Provinzen Jujuy und Salta betroffen, die neben der Hauptstadt und der Provinz Buenos Aires den größten Anteil Indigener in der Bevölkerung haben.

In einem Teil der subtropischen Ebene des Chaco von Salta siedeln sieben der mehr als zehn in Salta ansässigen indigenen Völker bzw. deren Nachfahren. Die comunidades der Chané, Guaraní und Wichí leben entlang der Ruta Nacional 34 von Salta über die Kreisstadt Tartagal nach Bolivien und an der Landstraße 86 nach Paraguay.

Abseits der zweispurigen Ruta 34, über die sich die Petroleumlaster von YPF schleppen und der gesamte Warenverkehr von und nach Boliven abgewickelt wird, sind die Straßen nicht asphaltiert, die Ruta 86 durch den Chaco ist im Sommer eine Staubpiste, in der Regenzeit eine Schlammrallye. Der Bus endet an „KM 6“, wenn er denn überhaupt fährt. Der letzte Gesundheitsposten der Fundación Fortín befindet sich am „KM 27“.

Mariel Santillán, Koordinatorin am Sitz des Ministeriums für die Frühe Kindheit (Ministerio de la Primera Infancia, MPI) in Tartagal bezeichnet das Territorium hinter „KM 27“ als „vergessenes Gebiet“. Die Mitarbeitenden des MPI und die Gesundheitsbegleiter *innen bewegen sich mit dem privaten Moto (Leichtmotorrad), anders geht es nicht, die Mittel reichen nicht. Da die vielfältigen Herausforderungen im Gesundheitssektor nicht von einer Institution allein bewältigt werden können, arbeiten alle eng zusammen.

Das MPI ist vor Ort eine wesentliche Referenz für alle Aspekte, die die Gesundheit betreffen. Hauptaufgabe des Ministeriums und seiner lokalen Sekretariate ist die Erhebung des gesundheitlichen Bedarfs sowie die Koordinierung aller anderen Politikbereiche hinsichtlich Kinderrechten, Gesundheit von werdenden Müttern und Kindern bis zum 5. Lebensjahr – eine Querschnittsaufgabe. Die MPIs sind Einrichtungen der Provinzen, welche von den nationalen Programmen zur Reduzierung der Mütter- und Kindersterblichkeit abhängen.

Durch den integralen Ansatz der Arbeit, welcher die gesamte Familiensituation in den Blick nimmt, in der sich die Schwangere oder das Kleinkind befindet, sowie durch den ständigen Kontakt haben die Mitarbeitenden einen tiefen Einblick in die Gesamtsituation der comunidades der indigenen Bevölkerung. Der geografische Zuständigkeitsbereich des MPI-Sekretariats in Tartagal reicht bis Santa Victoria Oeste im Chaco an der Grenze zu Paraguay, ein enormes Gebiet mit stark defizitärer Infrastruktur.

Mariel Santillán berichtet, dass sie die Arbeit personell nur mit einem Netz von lokalen Gesundheitsbegleiter*innen (Acompañantes Educativos) bewältigen können, bei denen es sich um Ortsansässige handelt, die einen Schnellkurs in Grundlagen unter anderem der psychosozialen Gesundheit, Ernährung von Schwangeren und Kleinstkindern, Hygiene und Sicherheit im Haushalt erhalten. Sie bewegen sich immer zu zweit, ein Mann und eine Frau. Häufig handelt es sich um Student*innen oder Auszubildende wie Marilú Aguilera, angehende Krankenschwester, und Maximiliano Moya, der an der Fachhochschule „Sicherheit und Hygiene am Arbeitsplatz“ studiert.

Den Bewohner*innen der comunidades fehlt häufig schon das Geld für die Busfahrt zum öffentlichen Krankenhaus in der Kreisstadt Tartagal und erst recht für Medikamente, falls das Krankenhaus sie nicht gratis vorrätig hat. Die Älteren unter ihnen setzen ohnehin bei einfacheren Erkrankungen auf traditionelle Heilmethoden mit Kräutern und gehen nur im äußersten Notfall in ein Krankenhaus. Die Jüngeren ziehen schulmedizinische Behandlungen vor.

Teresa Torre, 63 Jahre, aus der comunidad KM 6 der Wichí berichtet, dass einmal in der Woche ein Arzt kommt, auch eine Gynäkologin, sie behandeln im Gemeindezentrum. Sie reklamiert, dass der Arzt oft nur fünf Patient*innen behandelt. Laut Claudia Sánchez, der Leiterin des Büros für Kultur und Tourismus in Tartagal, versorgt der Allgemeinmediziner nur die allerdringendsten Fälle und düst dann zur nächsten comunidad. Die Behandlungen und Medikamente sind kostenlos.

Weiter erzählt Teresa Torre, dass manchmal auch ein als Behandlungszimmer ausgestatteter Ambulanzbus aus Tartagal vorbeikommt, das sei aber mehr Prävention. Tatsächlich klappert das mobile Untersuchungszimmer des öffentlichen Krankenhauses die comunidades ab und stellt das Gewicht der Kleinkinder fest, misst den Blutdruck und nimmt Impfungen vor. Für die Behandlung kranker Erwachsener ist es nicht ausgestattet. Schwere Erkrankungen werden dem Krankenhaus gemeldet, welches ggf. eine Ambulanz schickt.

Einen Zahnarzt hat Teresa Torre noch nie gesehen: „Deshalb haben wir ja alle keine Zähne.“ Und tatsächlich ist die zahnärztliche Versorgung stark defizitär. Als ich Hilda Rojas, 70 Jahre, aus Campo Duran auf ihre scheinbar komplett vorhandenen Zähne anspreche, sagt sie, dass alle Vorarbeiten für eine Zahnprothese der Zahnarzt in Campo Duran gemacht hat. Die Anfertigung von Zahnersatz ist vor Ort nicht möglich und die Kosten dafür zum Beispiel in Tartagal seien unerschwinglich. So haben alle Verwandten zusammengelegt und sie sei in das nahegelegene Bolivien gefahren. Das habe nur halb soviel gekostet. Ohnehin sind solche Behandlungen mit oft importierten Materialien bei einem in das Fantastische steigenden Dollarkurs auch für andere Argentinier*innen ein finanzieller Kraftakt.

Auch in Campo Duran gibt es wöchentliche Arztbesuche. Die comunidad hat das Glück, dass der Zahnarzt ein Gemeindemitglied ist. Er ist nach der Ausbildung in seine comunidad zurückgekehrt.

Carola Rojas aus der comunidad Chiripá der Wichí berichtet, dass sie im Krankheitsfall in die benachbarte comunidad Misión Wichí gehen, wo wöchentlich ein Arzt vorbeikommt oder die mobile Praxis. In der erst seit drei Jahren bestehenden prekären Siedlung comunidad Chiripá gibt es keinen Ort, an dem ein Arzt eine Sprechstunde abhalten könnte. Auch die Bewohner des benachbarten Tres Paraísos gehen in die Misión Wichí. Den meisten Einwohner*innen der comunidades der Wichí ist der Verlust ihres Territoriums anzumerken, eine tiefgehende Entwurzelung, die oft einfach in der Hinnahme des Gegebenen mündet. Es fehlt an allem. Carola Rojas möchte sich deshalb nicht gerade über Schwierigkeiten in der Gesundheitsversorgung beklagen.

Eine weitere Herausforderung in der Region, von der Mariel Santillán und Teresa Torre berichten, ist, dass es im Krankenhaus keine Übersetzer*in für die indigene Bevölkerung gibt. In diesen Fällen werden sie von einer MPI-Mitarbeiterin oder einer/m der lokalen Gesundheitsbegleiter*innen begleitet.

Zum Arbeitsfeld von Claudia Sánchez gehört unter anderem die Förderung der regionalen Kulturen und des traditionellen Handwerks, weshalb sie ebenfalls viel in den comunidades unterwegs ist. Da eine mangelhafte Gesundheitsversorgung direkte Auswirkung auf die Ausübung des Handwerks hat, ist sie ebenfalls gut über die allgemeine Situation vor Ort informiert.

Sie sagt, dass es trotz aller Hürden eine Basisversorgung gibt, allerdings gebe es keinerlei Fachärzte in Tartagal. Das heißt, es gibt durchaus Fachärzte, die an privaten Kliniken tätig sind, aber keine, die bereit sind, unter den Arbeitsbedingungen und mit der schlechteren Bezahlung im öffentlichen Sektor zu arbeiten. Das vor dem Kollaps stehende öffentliche Krankenhaus in Tartagal organisiert je nach Notwendigkeit die wöchentliche oder monatliche Anreise und Unterbringung von Fachärzten aus Salta Stadt, was natürlich enorme Zusatzkosten verursacht.

Im Jahr 2008 wurde die durchschnittliche Lebenserwartung der indigenen Bevölkerung des Landes mit 69 Jahren angegeben, der Durchschnitt für Argentinier*innen insgesamt lag im selben Jahr bei 75,27 Jahren. Diese Zahl koinzidiert mit allen weiteren sozioökonomischen Faktoren, welche die Lebenserwartung beeinflussen. In den Nordprovinzen, insbesondere der Chaco-Region, liegt, unabhängig von einigen erreichten Verbesserungen, der Prozentsatz von Armut, Kindersterblichkeit, Analphabetismus, Arbeitslosigkeit bis hin zu fehlender Infrastruktur zur Befriedigung von Grundbedürfnissen weiterhin in allen Bereichen über dem Landesdurchschnitt.

Immerhin ist es dem MPI gelungen, die Kindersterblichkeit von elf auf neun pro Tausend Neugeborenen zu senken. Doch immer wieder gibt es Fälle von Kindestod durch Unterernährung oder durch eine fehlende medizinische Versorgung.

Doch die größte Crux für das argentinische Gesundheitssystem ist neben allen geografischen, strukturellen und ökonomischen Herausforderungen die politische Diskontinuität. Zum Stichtag der Regierungsübernahme durch Alberto Fernandez am 10. Dezember 2019 enden alle Programme und viele Arbeitsverträge, denn auch auf provinzialer und kommunaler Ebene wurden neue Gouverneure und Bürgermeister*innen gewählt.

Jede neue Regierung, sei es auf der Ebene des Bundes, der Provinz oder der Kommune, nimmt tiefgehende personelle Veränderungen vor, die weit über politische Spitzenämter hinausgehen, was immer einen Verlust an Wissen und eingespielten Arbeitsabläufen zur Folge hat. So wissen auch Mariel und Claudia im Moment nicht, ob sie danach noch auf ihren Posten sind. Die große Frage ist gegenwärtig: Wie geht es weiter?  Eines steht allerdings schon fest: Die Regierung unter Fernandez kann keinesfalls dort weitermachen, wo im Dezember 2015 die Regierung von Cristina Kirchner aufgehört hat. Es wird lange brauchen, bis die Folgen des Efecto Macri überwunden sind. Erst dann kann wieder über Verbesserungen im Gesundheitssektor nachgedacht werden, sofern die Mittel dafür vorhanden sind.