Der multilinguale Planet

Das Thema „Aufwertung und Revitalisierung indigener Sprachen“ ist seit Beginn der ersten Amtszeit von Evo Morales im Jahr 2006 ein zentraler Punkt seiner Politik. Der indigene Präsident hat zum ersten Mal kulturelle und linguistische Vielfalt in der bolivianischen Verfassung verankert und eine neue Sprachpolitik verfolgt. Wie steht es heute in Bolivien um die indigenen Sprachen in Schule und Beruf?

Ich sehe zurzeit nur Gesetze, aber die Inhalte und der Wille zur Umsetzung fehlen. Nehmen wir das Beispiel der Lernpflicht einer indigenen Sprache. Es wird ein Gesetz erlassen, das besagt, dass jeder Angestellte im öffentlichen Dienst eine indigene Sprache können muss. Der „indigene“ Präsident – wie er sich bezeichnet –, der dieses Gesetz durchgeboxt hat, kann aber selbst kein Wort Quechua, Aymara oder Guaraní. In 15 Jahren hat er kein einziges Wort gelernt! Dieses Gesetz war für ihn keine Herzensangelegenheit, sondern nur eine politische, strategische Entscheidung. Auch was die interkulturelle Bildung betrifft, sieht es heutzutage sehr mager aus. Als ich in der Lehrerinnenausbildung war, also lange vor Evo, hatten wir sogar eine interkulturelle Abteilung an der Uni. Es war eine sehr hochwertige, fortschrittliche Ausbildung, auf einem konstruktivistischen Ansatz basierend. Solche Errungenschaften wurden von dieser Regierung zunichtegemacht. In der Schule wird wieder nach behavioristischem Modell gelehrt.

Was die Sprachnutzung angeht, weiß ich nicht, wie die Lehrer*innen heutzutage in den Dorfschulen vorgehen, ob sie wieder alles auf Spanisch unterrichten. Viele fortschrittliche Maßnahmen in der bilingualen Erziehung wurden aber im letzten Jahrzehnt wieder abgeschafft, inklusive vieler Bücher in indigener Sprache, die nicht mehr benutzt werden. Wir haben diesbezüglich große Rückschritte gemacht. Allerdings sind alle Fächerbezeichnungen auf den Buchdeckeln der Schulbücher in Quechua geschrieben, die Bezeichnung auf Spanisch steht ganz klein in der Ecke. Diese Bücher sind standardisiert, egal ob Stadt oder Land, egal ob die Muttersprache der Schüler*innen Quechua, Aymara oder Spanisch ist. Die Kinder verstehen oft gar nicht, was da steht. Eine Sprache kann man nicht wie jedes andere Schulfach lernen, es braucht einen reellen Bedarf. Evo hat in diesem Bereich eine sehr theoretische Reform gemacht, der jedoch komplett der Bezug zum konkreten Lebensalltag der Schüler*innen fehlt.

Ein weiteres Beispiel hierfür sind die Überschriften in Quechua in den Krankenhäusern. Das ist interessant, bringt aber nichts für das Erlernen einer Sprache. Wenn kein verbreiteter und grundsätzlicher Sprachunterricht stattfindet, ist das alles sinnfrei. Dies zeigt, wie viel Sinn es hat, eine Sprache durch die Anordnung von oben zu lernen! Es ist so oberflächlich und dumm.

Der Präsident ist das beste Beispiel für das Scheitern seiner Politik. Das letzte Mal bei einer Ansprache hat er die Bevölkerung auf Aymara, Quechua und Guaraní begrüßt und dabei von seinem Blatt abgelesen. Der Rest der Ansprache war natürlich auf Spanisch. Er ist ein Verräter, er hat Elemente unserer indigenen Kulturen instrumentalisiert, um sein Image als „indigener“ Präsident aufzubauen und weiter an der Macht zu bleiben.

Evo Morales scheint also einige Fortschritte im Aufwertungsprozess und in der Lehre indigener Sprachen zunichtegemacht zu haben. Wann in der bolivianischen Geschichte lassen sich die größten Erfolge diesbezüglich beobachten? Welche Maßnahmen standen hier im Vordergrund?

Hier muss auf jeden Fall die Bildungsreform aus dem Jahr 1994 erwähnt werden. Meiner Meinung nach war das die einzige Bildungsreform in der bolivianischen Geschichte, die ihrem Namen gerecht wird. Die drei zentralen Säulen dieser Reform waren eine hohe öffentliche Beteiligung, welche die Reform zu einer der sozialsten Maßnahme aller Zeiten gemacht hat, das Prinzip der Zweisprachigkeit sowie der Ansatz der Interkulturalität. Mit dieser Reform wurden zwei Dinge realisiert. Die Regierung hat gute Leute und viel Wissen in den technischen Fächern ins Land geholt (z.B. Psychologen) und hat das Programa de Educación Intercultural Bilingüe (EIB) gestartet, das ein Alphabetisierungsprogramm in der eigenen Muttersprache enthält. Diese Reform war gut durchdacht und basierte auf der Theorie von Emilia Ferreiro. Diese besagt, dass Kinder primär in ihrer Muttersprache Lesen und Schreiben lernen sollten, da dies der natürlichste Zugang zum Lernprozess ist. In den Dorfgemeinschaften soll also die jeweilige indigene Sprache Ausgangspunkt im Sprachunterricht sein. So können Kinder ihre Wurzeln kennenlernen und sich aus dieser Perspektive heraus der Welt öffnen. Anschließend sollten die Kinder natürlich auch Spanisch und Englisch lernen, aber ausgehend von der linguistischen Struktur der eigenen Sprache.

Dementsprechend wurde das Lehrmaterial angepasst. Hierfür wurden Zeichner in die 36 Gemeinden mit indigener Sprache geschickt, um Lehrbücher in deren Muttersprache zu produzieren. Auch Linguist*innen haben einen großen Beitrag geleistet, da es sich um orale Sprachen handelte. So entstanden Bücher mit Bildern und der Verschriftlichung der jeweiligen Sprache, welche die kulturellen Objekte und Praktiken einbezogen und indigene Weltanschauungen widerspiegelten. Hinter diesem Projekt lag ein tiefer Respekt gegenüber der Interkulturalität unseres Landes. Diese Reform war wunderbar, weil eben sehr konkret.

Eine weitere Anpassung betraf die Lehrer*innen und deren Ausbildung. Vor der Reform wurden Lehrer*innen aus den Städten in die Dorfschulen geschickt und mussten dort, ohne den lokalen sprachlichen und kulturellen Hintergrund zu kennen, unterrichten. Damals entschied dann die Regierung, dass Lehrer*innen in den Gemeinschaften selbst ausgebildet werden sollten, bilinguale Personen, welche die Sprache und Kultur der Dorfgemeinschaft kannten. Damit die angehenden Lehrer*innen ihre Herkunftsgemeinde nicht verlassen mussten, wurden Module zu relevanten Themen erarbeitet und vor Ort zur Verfügung gestellt, wie eine Art Fernstudium. Somit konnten sich die Lehrer*innen in ihrem Dorf ausbilden und vor Ort ihrer Arbeit in der Schule nachgehen. Sie besaßen die nötigen sprachlichen Kenntnisse (lokale indigene Sprachen und Spanisch) und ein tiefes Verständnis für die lokale Kultur. Diese Praxis war „gewaltfreier“: Die Kinder lernten Lesen und Schreiben in ihrer indigenen Muttersprache und nahmen später Spanisch als Zweitsprache in den Unterricht auf. So waren die neuen Generationen für das Leben in der bolivianischen Gesellschaft vorbereitet, ohne ihre sprachlichen und kulturellen Wurzeln verleugnen zu müssen.

Revolutionäre Maßnahmen zur Aufwertung der indigenen Sprachen fanden also eher in der Vergangenheit statt. Werden die indigenen Sprachen momentan komplett vernachlässigt oder gibt es andere Instanzen, die sich dieser Aufgabe widmen? Die Universität San Simón in Cochabamba zum Beispiel ist ja sehr renommiert.

Es gibt auf jeden Fall noch einzelne Institutionen, die an dieses Vorhaben glauben, die Universidad Mayor San Simón (UMSS) nimmt hier eine führende Position ein. Der Kampf für den Erhalt der indigenen Sprachen hat in Bolivien eine uralte Tradition, unabhängig von der Regierungspolitik. An der Universität San Simón ist ein renommiertes Forschungszentrum, das PROEIB Andes (siehe Kasten), angesiedelt, welches das „Bildungsprogramm für interkulturelle bilinguale Erziehung für die Andenregion“ anbietet. Ziel des PROEIB ist es, kulturelle Werte durch Sprache zu erforschen und zu revitalisieren. Schließlich benennt der Mensch mit der Sprache die Welt, in der Sprache liegt die ganze Weltanschauung einer Bevölkerung verborgen.

Das PROEIB hat eine Reihe von Forschungen über die bolivianische und lateinamerikanische Kultur durchgeführt. Dorthin kommen Studierende und Forschende aus ganz Lateinamerika, aus der ganzen Welt und bringen ihr Wissen mit. Es ist ein sehr interkultureller Kontext. Das Schöne an deren Arbeit ist ihre tiefgreifende Überzeugung, dass durch das Erforschen und Dokumentieren von Sprache auch eine Revitalisierung der dahinterliegenden Weltanschauungen und der kulturellen Praktiken möglich ist.

Es gibt weitere schöne Aktivitäten, die in Zusammenarbeit mit dem PROEIB stattfinden, beispielsweise vom Pen Club organisiert, der weltweit aktiven Schriftsteller- und Intellektuellenvereinigung, in der ich auch Mitglied bin. Jedes Jahr zum „Welttag der Poesie“ organisieren wir eine Veranstaltung in den Räumlichkeiten der Universität, wohin Leute aus ganz Südamerika kommen. Zu Beginn lesen alle Teilnehmer*innen ein Gedicht in ihrer Muttersprache. Es ist bezaubernd! Man wird von der Sprache als solcher, ihrem Klang und ihrem Rhythmus gefesselt. Obwohl man die Worte nicht versteht, kann man die Essenz der jeweiligen Sprache spüren. Im Anschluss übersetzen die Leser*innen die Gedichte auf Spanisch. Daran nehmen auch viele Schriftsteller*innen teil, die auf Quechua oder Aymara schreiben. Wir laden diese Personen gezielt ein, weil es auch ein Ziel des Pens Clubs ist, Sprachen zu erhalten und den Respekt gegenüber den indigenen Kulturen zu fördern. Der Welttag der Poesie wird so zu einem Fest der Sprachen und bringt Völker und Kulturen zusammen!

Nach dem Gespräch möchte mir Rosalba etwas zeigen und holt eins ihrer Lieblingskinderbücher aus dem Nebenraum. Es ist nicht in einer indigenen Sprache geschrieben, aber es befasst sich mit der sprachlichen und kulturellen Vielfalt Boliviens: El planeta multilenguado – „Der multilinguale Planet“.

Die Geschichte erzählt von einem Planeten in Herzform. Dieser Planet ist in verschiedene Länder aufgeteilt, in denen unterschiedliche Bevölkerungsgruppen leben, die jeweils eine andere Farbe, Form, Größe, Weltanschauung und Sprache besitzen, eben ein „multilingualer Planet“. Ganz im Zentrum befinden sich die cuadradacios (die „Quadratischen“), welche die Macht ergriffen haben und ihre Sprache, das bienhablado (die „gute Sprache“), den restlichen Bevölkerungsgruppen im Namen der Demokratie aufgedrückt haben. Schon die Wahlen, die zur Machtübernahme der cuadradacios geführt hatten, wurden auf bienhablado durchgeführt. An dieser Stelle beginnt die Verunsicherung der anderen Bevölkerungsgruppen über den Wert und die Nützlichkeit ihrer eigenen Sprache und Kultur.

Das Buch ist sehr lustig geschrieben und illustriert: Es soll eine Satire über Demokratie für Kinder sein. Wenn man auf die Weltkarte schaut, realisiert man, dass Südamerika die Form eines Herzens besitzt; im Zentrum von Südamerika, im Herzen sozusagen, befindet sich Bolivien. „Das Buch habe ich in den 90er-Jahren geschrieben und dabei Bezug auf die Sprachpolitik von 1952 genommen. Ich musste erschüttert feststellen, dass das Buch heute wieder sehr aktuell ist. Hör zu, ich lese dir was vor“, erklärt Rosalba:

Kapitel 6: „Bildung für alle“

Seine Exzellenz, der Herr Präsident Don cuadradacios mayúsculo („Herr quadratisches Problem“) glaubte, dass all diejenigen, die nicht silberfarbig waren, keine Bildung genossen hatten. Also fand er es dringend notwendig, eine Hochschule zu gründen. Er rief das Volk auf dem quadratischen Hauptplatz zusammen und verkündete: „Mitbewohnerinnen und Mitbewohner dieses Planeten, wir werden uns nie langfristig entwickeln können, wenn wir nicht die Bildung fördern. Ab heute gibt es eine Universität in der Hauptstadt und jeder, absolut jeder Multilingüense (Mitbewohner dieses Planeten) kann sich dort einschreiben.“

Nach diesen Worten weihte er die Universität Mayúscula Cuadradasea (UMCU) ein. An der UMCU dürfen sich Bewohner*innen einschreiben, die folgende Voraussetzungen erfüllen:

1. Es wird keine Diskriminierung wegen Farbe, Form, Größe, Geruch, Sprache, Geschlecht und Nummer stattfinden.

2. Jeder, der an der Uni studiert, muss das bienhablado korrekt beherrschen.

3. Die Universität wird folgende Studiengänge anbieten:

Grundstudium in Quadratigkeit

Hauptstudium in quadratischer Wissenschaft

Promotionsstudium in Quadratologie

Eine Bewohnerin erhob die Hand und sagte: „Bitte entschuldigen Sie, aber es scheint mir so, als hätten die verdecios, lilisenses und all die kleineren Bevölkerungsgruppen keine Chance, sich an der UMCU einzuschreiben, richtig?“ „Richtig, richtig“, antwortete der Herr Präsident, „wir müssen unsere Planeten-Mitbewohner vorher von Grund auf ausbilden. Ich habe schon darüber nachgedacht. Ich werde Lehrer dort hinschicken, die ihnen unsere Sprache, unsere Art zu denken, zu fühlen und zu leben beibringen. Ich glaube, dass das Gesetz allein bis heute hierfür nicht gereicht hat. Wir müssen sie aus der Ignoranz, dem Analphabetismus und der Mittelmäßigkeit herausholen. Sonst werden sie niemals die Möglichkeit haben an der Uni zu studieren.“ „Brrrrrrrrraaaaaaaaavo!!“ jubelten die Bewohner*innen des Planeten und ein weiteres Mal bekam der Präsident die klare Bestätigung für seine Beliebtheit und seinen Gleichheits- und Gerechtigkeitssinn.

Im Lauf der Erzählung werden die anderen Sprachen und Kulturen zunehmend von der dominanten Gruppe, den Quadratischen, abgewertet. Das Buch endet schließlich mit einer Revolte, die von einem Paar angeführt wird. Hierbei wird der Präsident Don quadradacios mayúsculo seines Amtes enthoben und neue Wahlen werden ausgerufen. Jeder darf wieder seine oder ihre Sprache sprechen und sich zur Wahl stellen.

„Dieses Kinderbuch ist unerwartet aktuell“, seufzt Rosalba. „Heutzutage instrumentalisiert Evo Morales die Multilingüenses, er überzeugt die indigenen Bevölkerungsgruppen, dass ihren Sprachen und Kulturen mehr Wert zugesprochen wird. Gleichzeitig beutet er sie aus, manipuliert sie, möchte sie in eine unkritische Masse verwandeln. Im Namen der Anerkennung aller Kulturen unterwirft er sie seiner Person und seiner Politik“.

 

Das Interview mit Rosalba Guzmán Soriano führte Simona Böckler im Oktober 2019 in Cochabamba. Das Kapitel aus „El Planeta Multilenguado“ hat ebenfalls Simona Böckler übersetzt.