Wie bewertest du das Regierungsprojekt der vergangenen zwölf Jahre?
Dafür müssen politische, wirtschaftliche und kulturelle Elemente berücksichtigt werden. Der Kirchnerismus hat durchaus einige Maßnahmen ergriffen, die für sozialen Ausgleich sorgen sollten. Dabei hat er sich einer national-popularen Rhetorik bedient und ist eine klare Allianz mit den großen transnationalen Unternehmen eingegangen, was die Ausbreitung des Extraktivismus in all seinen Formen begünstigt hat. Die Anzahl extraktiver Projekte hat sich vervielfältigt. Im Hinblick auf die institutionelle Dimension sind bestimmte Korruptionsfälle wichtig, vor allem in der letzten Phase des Kirchnerismus, etwa der Skandal um die Bereicherung des Vizepräsidenten Amado Boudou oder der skandalöse Vermögenszuwachs der Familie Kirchner, eine Steigerung von etwa 700 Prozent in den letzten zwölf Jahren.
Der Kirchnerismus versteht sich selbst als gemäßigt linkes Projekt einer neuen Politik, inklusive der Politisierung der argentinischen Jugend, vor allem seit dem Tod von Néstor Kirchner im Jahr 2010. Die Korruptionsfälle der letzten vier, fünf Jahre kratzen an diesem (Selbst-)Bild. So gibt es Unternehmer, die der Regierungsfamilie sehr nahe stehen, wie etwa Lázaro Báez, der vor Regierungsantritt der Kirchners ein einfacher Staatsangestellter im Bereich des Baugewerbes war. Heute ist er ein Multimillionär, der für fast alle öffentlichen Baumaßnahmen in Patagonien verantwortlich und wegen Geldwäsche angeklagt ist. Es gibt auch andere Fälle von Beamten, Cristóbal López etwa, die heute Multimillionäre sind. Das ist das Ergebnis einer politischen Regierungsstrategie. Néstor Kirchner ging stets davon aus, dass es einer soliden ökonomischen Basis bedarf, um Politik zu betreiben und Macht aufzubauen, weshalb er seit 2003 ein dichtes Netz aus verschiedenen sozialen und politischen Akteuren knüpfte. Öffentlich bekannt wurde dies aber erst 2009/2010 im Zuge diverser Skandale, die gleichzeitig in die Zeit der Krise und der Wirtschaftsanpassung fielen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Kriminalisierung von Bewegungen und Protest, vor allem der sozialökologischen Proteste.
Was wird vom Klima der kirchneristischen Epoche in Erinnerung bleiben?
Das werden wohl eher diese institutionellen Verfehlungen und Korruptionsfälle sein, zusammen mit den ökonomischen Anpassungsmaßnahmen der letzten zwei Jahre, die wiederum eng mit dem Anstieg der Inflation zusammenhängen. Diese Undurchsichtigkeit der Kirchner-Regierung spiegelt sich auch in dem Fall des toten Staatsanwalts Nisman wider. Für eine ausgewogene Bilanz müssen aber auch andere Fragen berücksichtigt werden.
Ein anderer wichtiger Punkt, der eher politisch-ideologischer Natur ist, hat mit einer Charakterisierung zu tun, die ich in verschiedenen Artikeln und Aufsätzen vertrete: Welchen Platz nimmt der Kirchnerismus innerhalb des populistischen Spektrums Lateinamerikas ein? Regierungen wie die von Evo Morales oder die ehemalige venezolanische unter Hugo Chávez repräsentieren eher eine typische Art von Populismus lateinamerikanischer Prägung, bei der es um eine autoritäre Demokratisierung der popularen Sektoren geht. Meiner Meinung nach sind wir in Argentinien von dieser populistischen Spielart weit entfernt; wir verorten sie eher in der Epoche des frühen Peronismus von 1945 bis 1956. Ich stimme darin überein, dass die argentinische Gesellschaft demokratisiert werden muss. In Argentinien zeigte sich aber vor allem ab 2007/2008 eine Art Populismus der Mittelschicht, der sich auf die Fahne schreibt, die popularen Klassen (also die Unter- und Mittelschicht, Anm. d. Üb.) zu vertreten und sie mit einzubeziehen, indem bestimmte sozialpolitische und wirtschaftliche Maßnahmen ergriffen werden. Doch die popularen Sektoren selbst haben dabei unter den Kirchner-Regierungen keine wichtige Rolle gespielt. Sie verblieben in ihrer subalternen Position, sind zum Teil durch sozialpolitische Kompensationsmaßnamen eingebunden worden. Auch die Asignación Universal por Hijo, das 2009 eingeführte Kindergeld für Familien, die ein Einkommen unter dem offiziellen Mindestlohn haben, ist eine eindeutige Kompensationsmaßnahme. Das hat diesen Sektoren aber keinesfalls zu mehr Autonomie verholfen. Die Regierung von Cristina Fernández de Kirchner und ihr Umfeld, ihre Minister, die politische Organisation La Cámpora spiegeln diesen Populismus der Mittelschicht wider.
Gleichzeitig gibt es andere Teile der (oberen) Mittelschicht, die CFK inbrünstig hassen, gegen sie auf die Straße gehen und ihr den Tod wünschen.
Exakt. Es gibt eine Art Tauziehen innerhalb der Mittelschicht: zum einen der Teil, der die progressiven Kräfte und das Mitte-links-Feld zu repräsentieren vorgibt und sich als Stimme der popularen Sektoren ausgibt, zum anderen die Teile der Mittelschicht, die beispielsweise mit dem Sojanbau zu tun haben, oder auch aus den städtischen Zentren – Buenos Aires oder Córdoba – stammen, die den Schwerpunkt eher auf die institutionellen Fragen legen und den Autoritarismus der Kirchner-Regierungen anklagen. Da gab es aber unterschiedliche Momente. Als CFK 2007 ihre erste Amtszeit angetreten hatte, brach kurz darauf die Auseinandersetzung zwischen Regierung und Agrarverbänden aus. Dieser Konflikt im Herzen der Mittelschicht wurde aber einige Zeit später mit relativer Gleichgültigkeit aufgenommen, breite Teile der Mittelschicht standen hinter der Regierung, zumal sie mit einigen Maßnahmen die politische und wirtschaftliche Situation verbessern konnte. Seit 2012/2013 lassen sich jedoch Teile der Mittelschicht mit Hilfe eines Diskurses gegen die Korruption mobilisieren, eine wichtige Stimme ist hier etwa Elisa Carrió von der heterogenen Wahlplattform UNEN. Das ist folglich als dynamisches Kräfteverhältnis zu verstehen. Teilweise hat es Umstrukturierungen gegeben, denn einige hatten ja ursprünglich auch CFK gewählt. Ab 2012 aber vollzieht sich der Bruch, ein endgültiger, wie ich zu wagen behaupte, zwischen diesen verschiedenen Sektoren, der über politisch-ideologische Fragestellungen hinausgeht und sich eher auf die Art der Präsidentschaft von CFK bezieht.
Wenn wir von Korruption sprechen, fällt mir unweigerlich der Manipulationsversuch im Provinzparlament von Chubut Ende letzten Jahres ein, wo Vertreter eines Bergbauunternehmens nachweislich direkten Einfluss auf Provinzpalamentarier ausübten.
Das Modell der Megatagebauprojekte breitet sich in Argentinien aus, allerdings gibt es auch viel Widerstand dagegen. Zwi- schen den Jahren 2003 und 2010 haben sieben Provinzen Gesetze verabschiedet, die die Megatagebauprojekte auf ihrem Territorium einschränken oder gar verbieten, weil die Naturressourcen Eigentum der Provinzen und nicht des Nationalstaats sind, dank der Verfassungsänderung 1994. Die Problematik wird jedoch hauptsächlich auf Provinz-, weniger auf der nationaler Ebene wahrgenommen. Die Provinz Chubut hat in dem Zusammenhang eine Pionierstellung. Bereits 2002/2003 haben die Kämpfe erreicht, dass ein Gesetz verabschiedet wurde, das den Megatagebau auf dem Gebiet der Provinz verbietet, das erste dieser Art in Argentinien. Da es nicht ganz ausgereift war, bot es Angriffsfläche für die Regierungspartei und die Bergbauunternehmen, um dieses Gesetz zu verändern und den Tagebau weiter voranzutreiben. Die Bergbauunternehmen lassen sich nie komplett vertreiben, selbst in den Provinzen, wo die Gesetze ihre Tätigkeiten untersagen. Sie warten immer auf eine politische Gelegenheit, um das Thema wieder auf die Tagesordnung zu setzen, mit dem Argument, dass die Gesellschaft das Thema gar nicht richtig diskutiert habe, um schließlich ihre Interessen durchzusetzen. In Chubut gibt es eines der wichtigsten Silber- und Bleivorkommen weltweit. In den letzten Jahren hat es von Seiten der Unternehmen immer wieder Vorstöße gegeben, um in eine Gesetzeslücke zu stoßen und dem Megatagebau den Weg zu ebnen, trotz des starken Widerstandes, den es vor allem im Hochland und an der Küste dieser riesigen Provinz gibt. Einen solchen Vorstoß mittels einer Gesetzesänderung konnten die Kämpfe im Jahr 2012 abwehren.
Letztes Jahr haben die sozialen Organisationen dann eine Volksinitiative gestartet, um ein neues Bergbaugesetz zu verabschieden, das umfassender als das alte sein und jeglichen Bergbau mit jeglichen chemischen Substanzen verbieten sollte. Sie bekamen die erforderlichen Unterschriften zusammen, um den Gesetzesvorschlag im Provinzparlament einzu- reichen. Das war im Mai 2014, doch das Provinzparlament behandelte ihn erst sechs Monate später, Ende November. Da sich der Gesetzesvorschlag der Initiative breiter Unterstützung erfreute – es gab eine Reihe Provinzabgeordneter, die auch dahinter standen – vollführten die Abgeordneten aus dem Regierungslager eine Art doppelten Betrug im Provinzparlament. Zum einen wurde das eingereichte Gesetzesprojekt gar nicht behandelt, sondern ein anderes unter demselben Namen, das den ursprünglichen Vorschlag in sein Gegenteil verkehrte und den Tagebau ermöglichen soll, und zwar im Gebiet der Hochebene, wo es ein Silbervorkommen mit dem emblematischen Namen Navidad („Weihnachten“) gibt. Außerdem konnte bei dieser Sitzung eine Fotografin das Handydisplay eines Abgeordneten fotografieren. Dort war eine SMS zu sehen, die von einem Manager des wichtigsten Bergbauunternehmens, das in der Region tätig ist, stammte. Darin forderte der Bergbauvertreter bestimmte Veränderungen in dem geplanten Gesetz. Das war ein Riesenskandal! Der Beweis war so eindeutig, dass es dafür gar keine entschuldigende Erklärung geben konnte. Dieser Vorfall erlangte auch landesweite Aufmerksamkeit, was normalerweise nicht geschieht, denn die Bergbauunternehmen sorgen dafür, dass diese Themen nicht an die Presse gelangen. Die Nationalregierung hat auch wenig Interesse daran, dass diese Themen diskutiert werden. Nun gab es eine Anklage und viele öffentliche (Medien-)Aktionen gegen diesen empörenden Vorfall. Wir haben zusammen mit anderen zum Beispiel ein Video dazu gedreht, es gab eine Postkartenaktion, die Nachbarschaftsversammlungen organisierten eine Menge Kundgebun- gen. Und obwohl dieser Betrug so offensichtlich ist, gibt es keinerlei offizielle Reaktionen, am allerwenigsten von der Nationalregierung, um diesen Vorfall aufzuklären und um solcherlei Art von Korruption den Riegel vorzuschieben. Insgesamt hat der Vorfall die sozialen Organisationen mit einem Gefühl der Ohnmacht zurückgelassen, denn sie hatten ja einen demokratischen, institutionellen Weg gewählt. Doch dieses Instrument war nichts mehr wert, weil es von der Politik verfälscht und verraten wurde. Die Organisationen fragen sich nun zu Recht: Wozu haben wir dann überhaupt diese institutionellen Instrumente?
Das ist ein ganz großes Thema. Zusammen mit anderen Kollegen habe ich zum Beispiel auf den Versammlungen über die parlamentarische Debatte zum Gletscherschutzgesetz diskutiert, das war 2010. Auf den Versammlungen herrscht häufig eine gewisse Skepsis, der zufolge der institutionelle Weg nichts bringt, da die verfassungsmäßig vorgesehenen Instrumente nicht respektiert beziehungsweise verdreht würden. Wie wir sehen, hat diese Skepsis auch ihre Berechtigung. So war es sehr mühsam, dieses nationale Gesetz zum Gletscherschutz durchzubringen, was Ergebnis einer Allianz unterschiedlicher Akteure war, Nachbarschaftsversammlungen, Umweltorganisationen, Abgeordnete verschiedener Parteien aus unterschiedlichen Provinzen, und momentan sind wir weit davon entfernt, dass es auch zur Anwendung kommt! Es steht zum Beispiel noch eine Untersuchung zu den Gletschern aus, die es in den verschiedenen Provinzen gibt. Vor allem aber sind die Unternehmen in den gletschernahen Gebieten Catamarca und San Juan nach wie vor tätig, ohne überhaupt dafür belangt zu werden!
In deinem neuesten Buch Maldesarrollo untersuchst du den Neoextraktivismus in Argentinien, den Tagebau, das Sojamodell, die Frackingprojekte, und sprichst in dem Zusammenhang von „Umweltrassismus“. Was ist damit gemeint?
In dem Buch stellen Enrique Viale und ich unsere Untersuchungsergebnisse der letzten fünf Jahre aus Argentinien und anderen lateinamerikanischen Ländern vor. Dabei stellen wir das Konzept der „Umweltgerechtigkeit“ vor, auf das sich die Nachbarschaftsversammlungen und Umweltorganisationen beziehen. Die Gerechtigkeit, die angestrebt wird, ist umfassender und bezieht ökologische und Umweltaspekte ein, aber auch Fragen ethnischer Ungerechtigkeit. Die indigenen Bevölkerungsgruppen Argentiniens leiden besonders unter der Ausdehnung des Sojaanbaus, dem Tagebau und der Förderung fossiler Brennstoffe durch Fracking, aber auch durch die herkömmliche Förderung, da sie Ende des 19. Jahrhunderts in abgelegene Gebiete abgedrängt wurden, in die jetzt die extraktiven Projekte vordringen. Die indigenen Bevölkerungsgruppen Argentiniens sind derart marginalisiert und tauchen in der nationalen Politik überhaupt nicht auf, sodass sie die perfekten Opfer des extraktivistischen Modells sind. Deshalb ist der Rassismus nicht nur ein ethnischer, sondern auch ein Umweltrassismus, schließlich treffen sie die pasivos ambientales, wie wir es nennen, die Umweltverbindlichkeiten, viel stärker als andere: Krankheiten, Umweltverschmutzung, Zerstörung sozialer Strukturen und gemeinschaftlicher Lebensformen.
Ihr behandelt auch den sogenannten urbanen Extraktivismus und bezieht euch auf Prozesse, die in den großen städtischen Ballungsgebieten stattfinden – Immobilienspekulation, Privatisierung von öffentlichem Raum, Megabauprojekte. Überfrachtet ihr da nicht ein bisschen das Konzept des Extraktivismus?
Ich bevorzuge in dem erwähnten Zusammenhang eher das Konzept des „neoliberalen Urbanismus“, wozu ich schon verschiedentlich veröffentlicht habe. Eine Form der neoliberalen Urbanisierung ist ja die Ausbreitung der sogenannten Countries. Beim Bau dieser Privatviertel wird in vorher unbebaute Gebiete, etwa in Küstennähe, vorgedrungen, was natürlich Folgen für die Umwelt hat. Es gibt noch eine andere Dimension. Das Eigentum von Immobilien wird zu einer weiteren Form von Waren im Rahmen eines neoliberalen Spekulationsmodells, das öffentlichen Raum und nicht bebaute, naturnahe Flächen in Wert setzt. Die Akteure sind große Unternehmensgruppen, die riesige Flächen aufkaufen und somit eine extreme Vermögenskonzentration vorantreiben.
Welche alternativen Wege schlagt ihr vor, um einen Postextraktivismus zu erreichen?
Damit die Alternativen Aussicht auf Erfolg haben, braucht es starke Widerstandsbewegungen, die die Gesellschaft aufrütteln, aber auch den politischen Willen auf Seiten der Parteien und Regierungen, die einen wirklichen sozialen Wandel anstreben. Die Widerstandsbewegungen in Argentinien sind durchaus stärker geworden, allerdings haben sie noch nicht genügend Rückhalt, etwa aus den großen Städten, wo sich die Gewerkschaftsbewegungen und die politischen Parteien kaum für den Extraktivismus interessieren oder sich nicht trauen, das Produktions- und Konsummodell radikal in Frage zu stellen. Außerdem ist in Argentinien, anders als vielleicht eine Zeit lang in Ecuador oder Bolivien, auch nicht der politische Wille von Seiten der (Regierungs-)Parteien zu erkennen. Der Kirchnerismus hat sich nie für diese Debatten interessiert. Dabei sind in den letzten fünf Jahren eine Menge Alternativkonzepte erarbeitet worden, die Arbeiten von Eduardo Gudynas sind nur ein Beispiel. Solche Ausstiegsszenarien müssten zudem mindestens auf lateinamerikanischer Ebene entwickelt werden. Ein konkretes Beispiel, wie der Transformationsprozess ablaufen könnte: Alle weiteren Megatagebauprojekte müssten unterbunden und gleichzeitig eine Steuerpolitik betrieben werden, die während des Übergangs hohe Steuern von den bereits aktiven Bergbauprojekten abschöpft, damit der Staat auch Mittel für den Übergang hat. Man kann den Extraktivismus nun mal nicht von heute auf morgen stoppen. Deshalb muss ein Konzept entworfen werden, wie die nötigen Projekte zum Wohle aller mittelfristig fortbestehen und die Folgeschäden reduziert werden können. Der Ausblick dabei muss aber klar sein. Am Horizont sollte der Postextraktivismus stehen.