Die Suche nach literarischen Verarbeitungen des komplexen Themas Evangelikale in Lateinamerika für die vorliegende ila-Ausgabe erwies sich als mühseliger denn erwartet. Niemand hatte auf Anhieb einen Tipp. Es schien, als wäre eine Strömung, die immer weitere Teile der Gesellschaften Lateinamerikas bewegt und inzwischen Wahlausgänge mit entscheidet, kein Thema für Schriftsteller*innen. Zu weit weg von der eigenen Lebensrealität? Dann kam doch noch ein Hinweis: Selva Almada, „Sengender Wind“, im Original (El viento que arrasa) 2012 erschienen und 2016 ins Deutsche übersetzt.
Ausgerechnet ein Werk aus Argentinien, das auf der Landkarte der Evangelikalen eher nicht zu den Hotspots zählt. Der Erstlingsroman der Autorin aus der argentinischen Provinz Entre Ríos wurde gleich nach Erscheinen hoch gelobt und in verschiedene Sprachen übertragen. „Vorzüglich entworfen… ein statisches Roadmovie“, befand die Jury des Edinburgh First Book Award in ihrer Preisbegründung. Will sagen, gewürdigt wird die gelungene Verdichtung eines bekannten Filmgenres in einem schmalen Werk von gerade einmal 124 Seiten, nicht linear, mit einem ganz eigenen Ton.
Selva Almada, Jahrgang 1973, war keine 40, als sie den Roman schrieb, den ersten einer Trilogie, den sie mit Ladrilleros (2013, Ziegelbrenner) und No es un río (2020, Es ist kein Fluss) fortsetzte. Ihre „Männertrilogie“ nannte sie die drei Romane, weil immer Männer im Mittelpunkt stehen. Sie wolle wissen, wie Männer ticken, begründete sie ihre Herangehensweise in einem Interview. Das vierte Buch machte sie vielleicht noch bekannter. Chicas muertas (2014, Tote Mädchen) dokumentiert drei Frauenmorde (Feminicidios) in Argentinien in den 80er-Jahren.
Im Kontext der Evangelikalen taucht nicht selten die Frage auf, wieso – und sogar immer mehr – Menschen im 21. Jahrhundert nach Glaubenssätzen leben, die besser in die Welt des 19. Jahrhunderts passen, und auch, wie das Geschäft mit den Kirchen funktioniert. Selma Almada konzentriert sich auf die andere Seite: Wie tickt so ein Pastor?
In „Sengender Wind“ rollt das Auto, in dem solch ein Pastor mit seiner Tochter sitzt, auf dem Weg nach Rosario aus und steht, Panne, irgendwo mitten im drückend heißen Nichts. Sie werden zu einer Werkstatt, immer noch mitten im Nichts, abgeschleppt. Dort spielt sich dann ein „statisches Roadmovie“ ab, ein maximal 24-stündiges Kammerspiel mit vier Personen. Rundherum nur Natur; Selva Almada beschreibt sie übrigens wunderbar: knapp und eindringlich. Der Roman ist nie Studie über soziale Einflüsse, städtische Milieus, evangelikale Seilschaften, stattdessen Kopfkino pur als Blick in die Köpfe.
Zwei Erwachsene, zwei Jugendliche. Auf der einen Seite Reverend Pearson, ein Mann, der Seelen repariert, wie entsprungen aus einem nordamerikanischen Film. Er ist Argentinier, der Name stammt vom Vater, einem „Hallodri“ aus den USA, wie er sagt, der seine Mutter schwängerte, um gleich danach abzuhauen. Auf der anderen der Werkstattbesitzer Gringo Brauer, eher mit europäischen Wurzeln, ein gern trinkender Kettenraucher, der Autos repariert. Zwei alleinerziehende Väter: Pearson hat seine Frau aus unbekanntem Grund und gegen ihren Willen eines Tages aus dem Auto befördert und ist abgedüst, die verzweifelte kleine Leni blieb auf dem Rücksitz. Er sei Witwer, behauptet er seither Mitleid heischend, eine wohlfeile Lüge, ganz im Gegensatz zu seinen in den Roman eingefügten drei frommen Predigten. Zu Brauer kam eines Tages eine Frau, stellte ihm beider unehelichen Sohn Tapioca vor und sagte, ab jetzt sei er dran mit den Elternpflichten, sie habe kein Geld. Brauer nickte und hat seither einen Gehilfen.
Frauen sind im Roman die Abwesenden. Ausnahme ist Pearsons Tochter, die blass bleibt und in ihren Gefühlen dem Vater gegenüber zwischen Bewunderung und Hass schwankt. Frauen gegenüber ist die Stimmung, im besten Falle latent, verächtlich. Es geht um Männer, männliche Lebensentwürfe, um ihre Art, Kaputtes zu reparieren (!), und ihr Scheitern daran. Im Mittelpunkt steht Pearson, das einst von einer Frau verstoßene Kind. Seine Mutter hatte ihn als kleinen Jungen einem evangelikalen Täufer in einem Fluss in die Hand gedrückt. Der zieht ihn auf und lehrt ihn das Predigen. Pearson beherrscht dies bald theatralisch und mit finanziellem Erfolg. Eine eigene Kirche eröffnet er aber nicht, als der Täufer ihn verlässt. Er wird Wander- (oder Fahr-)prediger, immer unterwegs, um Gelobt-sei-Jesus-Christus zu verkünden. Auf der Kirchenbühne inszeniert er sich gleichsam als Geburtshelfer, als er eine Frau mit dickem Bauch heilt. Er schafft neues Leben, statt begabten Männern das Predigen beizubringen, eine Männerphantasie. In Tapioca, der noch nie etwas vom Lieben Herrn Jesus und dem Himmelreich gehört hat, sieht er plötzlich die Gelegenheit, einen groben Klotz zum Werkzeug Christi zu formen, „der zu sein, der er nicht zu sein vermocht hatte“ (S. 83). Nota bene, den fremden Jungen, nicht seine Tochter wählt er! Brauer ist schon das erbauliche Getuschel Pearsons mit dem anfangs ob der Rede von Himmel und Hölle verdatterten Tapioca zuwider. Dessen Bitte, Tapioca für angeblich „nur zwei Tage“ nach Castelli mitzunehmen, schlägt er dann aus gutem Verdacht rundheraus ab.
Endlich ist das Auto repariert. Ein heftiges Gewitter zwingt die vier auf engsten Raum zusammen und verzögert die Weiterreise. Der Rückgriff auf den Theaterdonner erinnert nochmals daran: Hier wird keine realistische Geschichte erzählt. Der Konflikt um Tapiocas Zukunft, christlicher Prediger oder Automechaniker, entlädt sich archetypisch in brutaler Gewalt: Die beiden alternden Männer wälzen sich kämpfend im Schlamm, bis zur Erschöpfung, ringen um ihren Nachfolger. Am Ende entscheidet Tapioca selbst und steigt ins Auto.
Pearson wähnt sich am Ziel. Brauer gesteht sich seine Niederlage nicht ein. Doch gewonnen hat kein Mann. Auch keine Frau, Leni bleibt Mitläuferin ihres fanatischen Vaters. Brauer ist seinen Sohn los. Pearson sitzt am Steuer, so von seinem Glauben an Jesu Liebe geblendet, dass er wie die Jugendlichen im Auto, und wie Brauer vor seiner Werkstatt, „ihn nicht sieht“ (S.123). Wer ist „ihn“?
In einem Film wäre an dieser Stelle die Leinwand plötzlich schwarz gewesen. Im Roman bereiten Rückblenden vor, was in dem ungeschriebenen nächsten Kapitel gestanden hätte: Erinnerungen an Männer. Da ist ein ehemaliger Seemann, den der kleine Pearson erhängt fand. Selbstmord. Da sind zwei befreundete Eisenbahningenieure, die sich im Suff in die Haare kriegen. Brauer, noch Kind, sieht zu, wie der eine den anderen erschießt und mit Mühe davon abgehalten wird, sich selbst zu erschießen.
Selva Almadas Männer bleiben auf der Strecke, Opfer ihrer selbst, auch der, der sich für den Auserwählten hält, der evangelikale Reverend. „Sengender Wind“ ist eine Parabel scheiternder männlicher Konzepte. Die evangelikale Verbohrtheit Pearsons gehört dazu, weil er Frauen verachtet, aus seinem Leben wirft und denkt, er könne seine eigene Nachkommenschaft selbst erschaffen und formen.
Nirgendwo wird das explizit. Selma Almadas Prosa ist lakonisch, knapp, „wunderbar unverputzt“, wie auf dem Buchcover steht. Man blickt direkt auf die Art und Weise, wie es um einen verbissenen evangelikalen Prediger psychisch steht. Und muss sich denken, wie es für ihn – und seine Mitfahrer*innen, sprich Gemeinde – ausgeht. „Nicht sah ihn der Reverend“ (S. 123) am Steuer. Es wird wohl knallen.