In der Nacht zum 16. November 1989 wurde der Theologe und Philosoph Pater Ignacio Ellacuría, Rektor der Katholischen Universität in San Salvador (UCA), zusammen mit den Padres Ignacio Martín Baró, Segundo Montes, Amando López, Juan Ramón Moreno, Joaquín López y López, der Köchin Elba Julia Ramos und deren sechszehnjähriger Tochter Celina von einem Armeekommando grausam ermordet. Ellacuría war einer der wichtigsten Vertreter der Befreiungstheologie in Zentralamerika und ein enger Mitarbeiter des 1980 während einer Messfeier erschossenen Erzbischofs Oscar Romero. Ellacurías ganzer Einsatz galt den Armen und Unterdrückten und er übte immer wieder offene Kritik am System und den Besitzverhältnissen. Jon Sobrino, ein langjähriger Freund und Mitarbeiter an der UCA, entkam dem Mordanschlag nur, weil er gerade auf einer Auslandsreise war. Zum ersten Todestag wurde Sobrino gebeten im Gottesdienst die Predigt zu halten. Er kam auf die Idee einen Brief an seinen ermordeten Freund zu schreiben. „An den genauen Grund erinnere ich mich nicht mehr; vielleicht dachte ich, ein persönlicher Brief sei der beste Weg über ihn – nicht nur über sein Denken und sein Werk – zu sprechen…
Die briefliche Form bedeutet auch, uns zu verpflichten, ihm zu sagen, dass wir seinen Spuren folgen würden.“ Seitdem schreibt Sobrino jedes Jahr einen Brief an seinen Freund und setzt so das „Gespräch“ fort. 15 Briefe finden sich in dem jetzt ins Deutsche übersetzten Buch „Briefe an einen ermordeten Freund“. Sobrinos Anliegen ist, das amtliche Schweigen über die Märtyrer zu brechen, „um Millionen unschuldig und wehrlos gestorbene Menschen aus dem Schweigen und aus der Würdelosigkeit zu befreien“. Die Herrschenden wussten sehr wohl, warum sie Ellacuría umbrachten. Seine Ermordung war von langer Hand geplant worden.
Aus den Briefen wird die Bedeutung des großen Verlustes Ellacurías erkennbar. Indem Sobrino immer wieder Zitate aus Ellacurías Schriften und Reden einfügt – leider sind nur wenige ins Deutsche übersetzt worden – bekommt die Leserin eine erste Ahnung von der Brillanz seines befreiungstheologischen Ansatzes. Die Gedanken des gekreuzigten Volkes und der Zivilisation der Armut beeinflussen maßgeblich seine Theologie. Gedanken, die nach wie vor hochaktuell sind. „Was hier hervorgehoben werden soll, ist die dialektische Beziehung zwischen Armut und Reichtum, nicht die Armut an sich.(…) Zivilisation der Armut verwirft die Kapitalanhäufung als Motor der Geschichte und das Besitzen und Genießen von Reichtum als Humanisierungsprinzip.“
Neben religiösen und kirchlichen Fragen geht Sobrino in den Briefen stets auch auf die aktuelle Situation El Salvadors und weltpolitische Fragen ein, wodurch ein skizzenhafter Ausschnitt über 17 Jahre entsteht. In jeder Seite dieses kleinen Buches lebt die Befreiungstheologie. Sein Brief 2005, der letzte des vorliegenden Buches, endet: „Ellacu, mit einer Überzeugung und mit einem Wunsch möchte ich schließen: Sie haben Dich umgebracht, weil Du der Zivilisation des Reichtums die Stirn geboten hast. Lass uns Dich lebendig halten.“
Jon Sobrino: Der Preis der Gerechtigkeit, Briefe an einen ermordeten Freund, Echter Verlag, Würzburg 2007, 111 Seiten, 8,90 Euro
Die Option für die Armen, ein Engagement für die Benachteiligten und die gelebte Botschaft von einem Gott, der bei den Armen und Ausgestoßenen zu finden ist, verbinden wir oft nur mit der Befreiungstheologie in Lateinamerika. In seinem Buch „Auf nackten Sohlen“ erzählt Christian Herwartz, Jesuit und Arbeiterpriester aus Berlin-Kreuzberg, seinen persönlichen Weg und seine Entdeckungsreise an der Seite der Armen. Er entfaltet die langsame Entwicklung des Experimentes „Exerzitien auf der Straße“ und vermittelt dem Leser so seine Erfahrungen daraus. „Immer noch sind wir dabei, den Inhalt dieses Geschenkes auszupacken, ihn weiterzuschenken und zu staunen über die Vielfalt und Fülle, die es enthält.“
„Exerzitien auf der Straße“ sind keine Wellnesswoche für die gestresste Seele, sondern Unterbringung in einer Notunterkunft und die Einladung, aus der gewohnten Umgebung mit ihren Rollenmustern auszusteigen, um mit einem neuen Blickwinkel Gott in den Ausgestoßenen zu entdecken: in einem Unterkunftsschiff für Asylbewerber, vor den Mauern eines Abschiebeknasts, bei bettelnden Obdachlosen auf den Bahnhofstreppen, im Ausländeramt, beim Drogennotdienst, in einer Suppenküche…
Sich von innen heraus an die Orte führen lassen, die einen neuen Zugang zu den verdrängten Seiten des eigenen Lebens und des gesellschaftlichen Umfelds eröffnen. „Auf nackten Sohlen“ sollen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf die Suche machen. Die „Schuhe der Überheblichkeit“, „die Schuhe der eingefleischten Vorurteile“, „die Schuhe der Distanz zur Wirklichkeit“ ausziehen, um „mitten auf den Straßen des Lebens“ plötzlich auf heiligem Boden zu stehen, „auf dem die eigenen Aktivitäten zweitrangig werden. Sehen, Hören, Wertschätzen des Anderen sind an solchen Orten die vorrangigen Tätigkeiten.“
Dieses Buch ist ein Zeugnis gelebter Befreiungstheologie mit vielen Anregungen und Impulsen für die LeserInnen. Es atmet den Hunger nach Gerechtigkeit und lädt ein, sich selbst auf einen Weg zu den Ausgegrenzten zu machen.
Christian Herwartz: Auf nackten Sohlen, Exerzitien auf der Straße, Echter Verlag, Würzburg 2007, 79 Seiten, 7,90 Euro