Vor genau 40 Jahren putschte sich Augusto Pinochet Urgate in Chile an die Macht. Mit „Pinochet. Eine Täterbiografie in Chile“ ist ein Buch erschienen, das den Fokus vor allem auf die politische Funktion Pinochets legt. Es ist die erste Biographie seit dem Tode Pinochets, die die nun freigegebenen Akten des Auswärtigen Amtes berücksichtigt. Biograf Friedrich Paul Heller liefert eine detaillierte Analyse seiner Herrschaft, die allerdings viele Kenntnisse über die chilenische Geschichte voraussetzt.
Heller klärt gleich zu Beginn seiner Biographie, worum es ihm geht: „Zu Pinochet als Person fällt mir nichts ein.“ Es ist eine politische Biographie, eine „Täterbiografie“ wie es im Untertitel des Buches heißt. Heller versteht Pinochet als „Konstrukt der herrschenden Klasse Chiles“ und legt dar, dass er, der in den 70er-Jahren als Mitarbeiter von Amnesty International gefolterte ChilenInnen betreute, auch persönlich kein gänzlich Außenstehender ist: „Diese Schlagseite hat meine Pinochet-Biografie und sie soll sie haben.“
So handelt der Autor die Kinder- und Jugendzeit recht kurz ab, um alsbald die Konturen des politischen Pinochet zu zeichnen. Schon während er Karriere im Heer machte – Heller charakterisiert ihn als mäßig begabten Militär – , verfasste Pinochet geopolitische Schriften, in denen sich Anzeichen seiner späteren Politik erkennen lassen. Er bekannte sich zur „realen Demokratie“, in der er nur „Toleranz“ zeigt, wenn die „MarxistInnen“ nicht an der Macht sind. In seinem rassistischen Weltbild war der Marxismus der chilenische Volksfeind, der die moralisch verstandene Volksgemeinschaft bedrohte. Deswegen – so schrieb es Pinochet im Nachhinein – habe er intervenieren müssen.
Detailliert weist Heller allerdings nach, dass Pinochet vor dem Putsch keine politischen Ambitionen hegte. Als er sich nach einem gescheiterten Umsturzversuch im Juni 1973 zum loyalen Verteidiger der Verfassung aufspielte, ernannte ihn Allende zum Oberbefehlshaber des Heeres. Beim Putsch am 11. September desselben Jahres sprang er erst in letzter Minute auf den Zug auf. „Pinochet war Putschist der zweiten Stunde“, schlussfolgert Heller. Leider gerät das Kapitel über den Putsch (15 von 250 Seiten) etwas kurz, was Heller mit dem Fehlen einer Studie, die den „harten Kriterien der historischen Wissenschaft genügt“, begründet. Dennoch verzichtet er auch darauf, den genauen Ablauf und die Hintergründe des Putsches wiederzugeben. Dieses Wissen setzt der Chile-Experte anscheinend voraus. LeserInnen, die mit der chilenischen Geschichte nicht so eng vertraut sind, müssen selbst nachrecherchieren, beispielsweise anhand des breiten Anmerkungs- und Literaturverzeichnisses. Ohne dieses Wissen wird das Buch eine chaotische Allende-Zeit suggerieren, in dem die Destabilisierung und Sabotage gegen die Regierung ausgelassen wird.
Heller bewegt sich mit großem Detailwissen und Quellenkenntnissen durch die ersten Monate und Jahre der Diktatur. Er hat bereits mehrere Beiträge zu Chile und den Verflechtungen chilenisch-deutscher Geschichte publiziert (beipiels-weise über den nach Chile geflohenen SS-Mann Walther Rauff oder das von Paul Schäfer gegründete Sektenlager Colonia Dignidad). Dabei profitiert Heller von seiner intensiven Aktenarbeit im politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, die ihm nach 30jähriger Sperrfrist zugänglich waren. Fassungslos kann der Leser anhand von Zitaten der Originalquellen nachvollziehen, wie sehr die bundesdeutsche Botschaft mit den Putschisten sympathisierte und wie genau sie über die Aktivitäten der chilenischen Geheimpolizei DINA (Direción de Inteligencia Nacional) Bescheid wusste. Hier zeigt sich die große Stärke der Biografie: Heller kann die systematische Folter und Barbarei genauestens nachzeichnen, überfordert aber auch nicht mit endlosen Aneinanderreihungen von blutrünstigen Geschichten. Vielmehr beschränkt er sich auf einige wenige, die symbolisch für den menschenverachtenden Charakter der Diktatur stehen, und ergänzt sie mit zynischen Aussagen Pinochets über die Menschrechte, die nur für diejenigen gelten würden, die sie nicht für ihre Zwecke ausnutzen.
Nach und nach arbeitet sich der Biograf an den einzelnen Facetten der Diktatur ab, befasst sich beispielsweise im Unterkapitel „Frauen und Jugend“ mit der Frauenpolitik Pinochets und kommt zu dem Ergebnis, dass sie „nichts an den objektiven Lebensbedingungen der Frauen [änderte], aber er stilisierte sie zu Subjekten der Geschichte und sprach ihnen eine eigene ‚Mystik’ zu“.
Als Oberbefehlshaber des Heeres, bei einem Staatsstreich die wichtigste Funktion, und ältester der vier Putschgeneräle war Pinochet zum Präsidenten der Junta gewählt worden. Statt wie angekündigt alle zwei Jahre turnusgemäß zu wechseln, blieb Pinochet bis zum Schluss an der Macht und drängte allein bis 1977 20 von 24 Generälen aus dem aktiven Dienst. Dabei ließ Pinochet nicht nur verfassungstreue Militärs wie Carlos Prats, der in Argentinien das Opfer einer Autobombe wurde, liquidieren, sondern auch eigene Rivalen unter den Verschwörern. Pinochets ärgsten Konkurrenten, den Oberbefehlshaber der Luftwaffe Gustavo Leigh, der Pinochet überhaupt erst zur Teilnahme am Putsch gedrängt hatte, schloss die Junta 1978 aus. In diesem Jahr hatte Pinochet gleich drei schwere Krisen zu meistern (neben dem Machtkampf mit Leigh diplomatische Krisen mit den engsten Verbündeten USA und Argentinien).
Pinochet war auf dem Höhepunkt seiner Macht angekommen. Innere Rivalen waren ausgeschaltet, eine linke Alternative zur Diktatur war nach der Zerschlagung der Opposition und der außenpolitischen Konstellation (Wahl Ronald Reagans zum US-Präsidenten und erneute Zuspitzung im Kalten Krieg) nicht denkbar. Um die Macht jedoch längerfristig zu festigen, bedurfte es mehr als des von Pinochet gerne propagierten nationalistischen und antikommunistischen Diskurses. Mittelfristig musste die mit dem Putsch sympathisierende Bevölkerung bei der Stange gehalten werden, ohne zu viel Pluralismus zuzulassen. Mit der Verfassungsdiskussion begann 1980 ein Prozess, der der „geglückte Versuch“ war – so die These von Heller – „die Gewaltsamkeit des Putsches funktional einzuhegen“.
Im Hinblick darauf, dass Pinochet nie für die Menschenrechtsverletzungen rechtskräftig verurteilt wurde und Chile nicht den „unkalkulierbaren Risiken“ eines revolutionären Bruchs ausgesetzt war, trifft diese These sicherlich zu. Gleichzeitig führte das mit der Verfassung eingeführte Plebiszit dazu, die Pinochet-Herrschaft früher als gedacht zu beenden. Als zu Beginn der 80er-Jahre die neoliberale Blase geplatzt war und Teile der Wirtschaft verstaatlicht wurden, wendeten sich einige Personen des Bürgertums von der Diktatur ab. Im Oktober 1988 verlor Pinochet sein zweites Referendum und trat die Macht an einen Zivilisten ab, blieb aber noch bis 1998 Oberbefehlshaber der Streitkräfte, bis er auf Betreiben des mittlerweile suspendierten spanischen Ermittlungsrichters Baltasar Garzón in London festgesetzt wurde. Anderthalb Jahre später konnte er London verlassen und verstarb 2006 in Santiago.
Hellers Biografie, die trotz aller Voreingenommenheit des Autors sehr ausgewogen ist, endet allerdings nicht mit Pinochets Tod, sondern schließt mit allgemeinen „Überlegungen zur gewaltlosen Beendigung eines Gewaltregimes“ und den Chancen, die er dem „Kampf der Schreibmaschinen gegen die Maschinenpistolen“ ausrechnet. In Chile, so ergaben die Archivrecherchen Hellers in den USA und der Bundesrepublik, waren die Schreibmaschinen erstaunlich wirkungsvoll.
Friedrich Paul Heller: Pinochet: Eine Täterbiografie in Chile, Schmetterling Verlag; Stuttgart 2012, 352 Seiten, 24,80 Euro