Gleich mehrere Delegationen europäischer Abgeordneter fuhren im Februar 2017 nach Mexiko. Allen ging es um Fortschritte. Ein halbes Dutzend Abgeordnete des Ausschusses für Internationalen Handel (INTA) wollte für einen schnellen Abschluss von Verhandlungen zur Modernisierung des anderthalb Jahrzehnte alten so genannten Globalabkommens EU-Mexiko noch in diesem Jahr werben. Die zweite Delegation vor Ort bestand aus mehreren Abgeordneten aus der Europäischen Parlamentariergruppe für Mexiko, deren Aufgabe die Überwachung besagten Globalabkommens ist. Die dritte und kleinste, bestehend aus der Vorsitzenden der grünen Europaparlamentsfraktion, Ska Keller, und der Vorsitzenden des Umweltausschusses im finnischen Parlament, Satu Hassi, fuhr nach Mexiko, um wie bereits seit sieben Jahren auf die Aufklärung der Morde an den MenschrechtsverteidigerInnen Bety Cariño und Jyri Jaakkola zu insistieren.
Die unsäglichen Pläne von US-Präsident Trump zu Mauerbau, Außenzöllen und Neuverhandlung des NAFTA-Vertrags bildeten eine Steilvorlage für die Befürworter bedingungslosen Freihandels. Nun kann man den beabsichtigten Zugriff auf Mexikos gerade geöffnete Wirtschaftssektoren, insbesondere Energie und Rohstoffe, als Rettung vor dem bösen protektionistischen Bruder im Norden verkaufen und dessen Stück vom Kuchen mit einheimsen. Der Regierung Peña Nieto ist nach der Abfuhr aus den USA jede nach Ausweg klingende Aussage wie die der Europäer recht, um aus ihrem derzeitigen historischen Umfragetief zu kriechen. Um so besser, wenn damit auch die Kritik an Korruption, organisierter Kriminalität und schwersten Menschenrechtsverletzungen in den Hintergrund gedrängt wird.
Doch ganz so einfach funktionierte das dann doch nicht. Die sachlich Interessierteren aus dem INTA-Ausschuss waren zu Beginn des Besuchs durch Aussagen verschiedener Gesprächspartner zu mangelnden gewerkschaftlichen Rechten, absoluten Niedriglöhnen oder dem dritten Platz Mexikos weltweit bei illegalen Finanzströmen verunsichert. Nachdenklich machten die Aussagen einiger europäischer Diplomaten, für Unternehmen müssten verbindliche menschenrechtliche Regelungen her. Unvereinbar mit dem hochgehaltenen Mexikobild vom „Partner mit gemeinsamen Werten“ waren für einige bei einem gemeinsamen Treffen von INTA-Ausschuss und Mexiko-Delegation am ersten Aufenthaltstag die Ausführungen von VertreterInnen sozialer Bewegungen und NRO. Europäische Unternehmen sollen ihnen zufolge Teil des Problems sein? Die Justiz funktioniert nicht? Die Gewalt eskaliert und die Mordraten sind laut offiziellen Statistiken Anfang 2017 höher als je zuvor? Schwer zu schlucken. Stirnrunzeln auch bei der Information, dass sogar im weltweit bekannt gewordenen Fall der 43 verschwundenen Lehramtsstudenten und sechs Toten von Ayotzinapa[fn]Bei dem Angriff auf die Studierenden waren auch G-36-Gewehre des deutschen Waffenherstellers Heckler & Koch im Einsatz, vgl. dazu den Beitrag von Wolf-Dieter Vogel in der ila 400.[/fn] die Untersuchungen leerlaufen oder inexistent sind und der Staat zur These von einer Abrechnung zwischen verschiedenen Drogengangs und Verbrennen der 43 in der Abfallhalde von Cocula zurückkehrt, als wäre diese Version nicht hanebüchen und längst widerlegt.
Die Zweifel mehrten sich. Wo Menschenrechtsverletzungen zu 98 Prozent straflos bleiben, kann es auch keine Investorensicherheit geben. Während die INTA-Delegation die Verhandlungsgeschwindigkeit für das EU-Mexiko-Abkommen im Laufe der Gespräche eher zu drosseln, Menschenrechtsklauseln zu stärken und Antikorruptionskapitel einzubauen vorschlug, drängten mexikanische Regierungsvertreter auf Tempo, um vor Jahresende und damit vor Beginn des Wahljahres 2018 einen internationalen Vertragsabschluss öffentlichkeitswirksam als Erfolg der schwächelnden PRI-Regierung verkaufen zu können.
Als am folgenden Tag die INTA-Delegierten sich europäische Bier- und Autoproduzenten in Puebla ansahen und die Abgeordneten der Mexiko-Delegation Mérida kennen lernten, schob sich die dritte Delegation ins Bild.
Was konnten die mexikanischen Regierungsstellen Ska Keller und Satu Hassi Neues von den Ermittlungen im Doppelmordfall berichten, hatten sich diese doch seit der letzten Unterredung vor einem Jahr um nichts gekümmert? Man muss die Geschichte des Falles als wohlinszeniertes Theaterstück lesen, bei dem das Publikum irgendwann einschläft.
Im Außenministerium wusste man nichts Besseres als: „Die wichtigste Nachricht ist: Wir bleiben dran.“ Dabei hat die Staatsanwaltschaft den Fall vor einem guten Jahr stillgelegt. Bis dahin waren von den 14 im Jahre 2012 in dem Mordfall ergangenen Haftbefehlen vier ausgeführt, ein fünfter im Herbst 2016. Ein Verdächtiger war inzwischen bei einer bandeninternen Abrechnung erschossen worden, bleiben acht Flüchtige, die besser Nichtfestgenommene zu nennen sind, da die Anwälte im Fall Jyri und Bety deren Aufenthaltsorte, ja sogar deren Facebookseiten der Staatsanwaltschaft mitgeteilt haben. Bleibt es beim derzeitigen Elan der Ordnungskräfte, dauert es noch mehr als zehn Jahre bis zur Festsetzung aller mit Haftbefehl Gesuchten.
Die Lage in dem für das Gerichtsverfahren zuständigen Bundesstaat Oaxaca hat sich inzwischen verändert. Nachdem die Morde noch unter Gouverneur Ulises Ruiz (PRI), dem Financier der UBISORT-Paramilitärs, geschehen waren, versprach sein Nachfolger Gabino Cue (Mehrparteienallianz „Alle außer PRI“) Aufklärung. Diese ging leidlich voran, bis klar wurde, dass Gabino Cue das politische Heft aus der Hand verlor. In den letzten neun Monaten seiner Amtsführung sortierten sich die Machtgruppen und deren paramilitärische Kräfte neu. Es wurde klar, die PRI, die mit Peña Nieto auch die Regierung auf nationaler Ebene zurückgewonnen hat, kommt mit dem Sohn des UBISORT-Gründers Murat wohl wieder an die Macht Oaxacas.
Dies geschah tatsächlich. Alejandro Murat ist seit Dezember 2016 Gouverneur und empfing die europäischen Abgeordneten genauso offen wie Gabino Cue zu Beginn von dessen Amtszeit. Versprechungen noch und nöcher. Er werde sich dafür einsetzen, alle Steine auf dem Weg zur Gerechtigkeit aus dem Weg zu räumen. Sein gesamtes Team werde im Einsatz sein. Er werde mit dem Gerichtspräsidenten sprechen, damit der Sitz des Gerichts von Huajuapán, wo Zeugen von Täterkreisen bedroht werden, nach Oaxaca-Stadt verlegt werde, um deren Schutz zu gewährleisten. Die Prozesse sollen zusammengelegt und nicht auf am Ende 13 Einzelprozesse der Verdächtigen verteilt werden, damit sich Zeugen nicht bei der dritten Aussage irgendwie widersprüchlich ausdrücken und damit ausgeschlossen werden oder erst gar nicht mehr erscheinen.
Die Aussage der zwei einzigen Augenzeuginnen, vom Richter ausgeschlossen, solle anerkannt werden. Der offizielle Gerichtsübersetzer Triqui-Spanisch, gleichzeitig Anwalt der paramilitärischen Gruppe MULT, solle ausgetauscht werden. Gouverneur Murat verspricht, sich um all das zu kümmern, was aus Perspektive der EP-Abgeordneten Selbstverständlichkeiten in einem Rechtsstaat wären. Aber das ist viel hier. Oder auch nicht.
Sechs Wochen nach deren Abreise ist nichts passiert. Nur der Gerichtspräsident in Oaxaca ist abberufen und somit sind alle Absprachen erst einmal wieder hinfällig.
Mexiko versagt als Rechtsstaat. Keine Frage, der Mordfall muss auf die internationale Ebene, exemplarisch. Ende Mai werden die Anwälte Micheel Salas und David Peña eine Studie zu sieben Jahren Straflosigkeit im Falle Bety/Jyri auf einem Festival in in Helsinki vorstellen (www.maailmakylassa.fi/english/home). Dort werden auch die Mutter Jyris und ein finnischer Staatsanwalt sprechen. Zudem wird ein Dokumentarfilm des finnischen Fernsehens zum Fall vorgeführt. Danach fahren die Anwälte nach Brüssel und Genf. Der Fall der Mexikanerin Bety wird sicher nicht ohne Schuldspruch zum Fall des Finnen Jyri gesühnt. Jyris Fall indessen kann nur zu Verurteilungen führen, wenn Mexiko selbst international verurteilt wird.
Solange stellt sich Mexiko hartleibig. Und solange kann niemand in Mexiko sicher sein. Auch kein Unternehmen.