Der Tagesablauf war musikalisch geformt

Bis zur Herausbildung eines bürgerlichen Konzertbetriebs in einigen Metropolen Europas Ende des 18. Jahrhunderts gab es eigentlich keine Musik, die nur für den musikalischen Genuss geschrieben wurde. Für die Kirchenmusik galt schon immer, dass sie der Erbauung der Gläubigen und dem Lob Gottes dienen sollte, womit die kirchlichen Auftraggeber bekanntlich immer wieder in Konflikt mit den Komponisten gerieten, die eigene, der Kunst des Komponierens selbst verpflichtete Vorstellungen von ihrer Musik hatten, selbst wenn diese Komponisten oft genug selbst Kleriker waren. Erst recht kam der Musik diese dienende Rolle da zu, wo die Kirche gewissermaßen an der Front stand, eben in den Missionen in Übersee. Wenn vor allem für die Jesuiten Musik eine ganz entscheidende Rolle in ihrer Missionsarbeit spielte, dann deswegen, weil sie der Musik wesentliche Funktionen für die Missionierung zusprachen, die man grob mit den Begriffen „Zivilisierung“ und „Disziplinierung“ umreißen kann. 

Die vielleicht aufschlussreichste Quelle über das Leben in den südamerikanischen Jesuitenmissionen und die von den Jesuiten verfolgten Ziele verdanken wir dem aus Olmütz stammenden Pater Florian Paucke, der nach seiner wegen der Auflösung des Jesuitenordens erzwungenen Heimkehr ab 1769 im niederösterreichischen Kloster Zwettl eine ausführliche bebilderte Chronik verfasste.[fn]Zwettler Codex 420, von Pater Florian Paucke S.J., Hg. von Etta Becker-Donner, Wien 1959/66 (2 Bde.)[/fn] Sehr anschaulich und mit viel Sinn auch für Komik beschreibt Paucke darin die Schwierigkeiten der kulturellen Begegnung zwischen Missionaren und „Indianern“.

Seine Schilderungen verraten einen Mann voller Vitalität und mit viel Humor, der zwar eurozentristisch unbefangen über vieles lacht, was ihm an den Gebräuchen der Indianer seltsam vorkommt, der sich aber durchaus auch selbst komisch finden kann. An seiner patriarchalen Einstellung lässt er dennoch keinen Zweifel, durchgängig spricht er von „meinen Indianern“, oder auch von „meinen Musikern“. Dass „seine Indianer“ musikalisch begabt seien und vor allem große Lust an er Ausübung von Musik hatten, erkannten Paucke und seine Kollegen gerne an und versuchten es für die Missionierung nutzbar zu machen. Doch deren eigene Musik, die Teil der „heidnischen“ Rituale war, galt ihnen als Teufelswerk und wurde verfolgt. Stattdessen suchten die Jesuiten dieses fehlgeleitete musikalische Talent umzuformen. 

Pauckes Schilderung seines Bemühens, den einheimischen Talenten das Spielen für sie so exotischer Instrumente wie der Violine oder europäischer Blasinstrumente beizubringen, sprechen für sich: „Dieses Jahr hab ich schon instruirt, und gleichsam zu so viel Meister gemacht. Sechs Trompeter, drey gute Thiorbisten, 4 Organisten… O wie schwehr kommt mich dieses an: Schallmeyer 30, Corretisten 18, Fagotisten 10, hab ich dieses Jahr also weit gebracht, daß sie alle meine Compositiones blasen und singen können. Discantisten habe ich schon unterwiesen über 50 nicht so üble Stimmen, in meiner Reduktion hab ich 8 Indianer-Büblein, setze ihnen das so berühmte laudate Pueri… auf das Pappir…“

Die beeindruckten Schilderungen zahlreicher europäischer Besucher der Missionen von der Qualität der dortigen Chöre und Orchester zeugen vom Erfolg dieser Bemühungen. „Man könnte meinen, es seien Musiker aus einer der besten Kathedralen Spaniens“, schrieb einer und machte damit deutlich, worin der Sinn dieses Bemühens bestand: Die hohe musikalische Qualität, gemessen an europäischen Standards, war Beleg für die gelungene Zivilisierung der „Indianer“ und damit auch für den Erfolg der Mission. Die in den Missionen gefundenen Partituren sprechen eine eindeutige Sprache. Es sind Kompositionen im Stil des europäischen – vor allem italienischen – Barock, die zum Teil von europäischen Komponisten wie dem aus Prato in der Toscana stammenden und nach seinem Eintritt in den Jesuitenorden nach Südamerika ausgewanderten Domenico Zipoli stammten, teilweise aber auch von den Missionaren in den Reduktionen selbst geschrieben wurden. Es sind, wie ihr heutiger Erfolg ja belegt, ansprechende Kompositionen, die geschickt an die begrenzten materiellen und stimmlichen Möglichkeiten in den Missionen angepasst waren. Behauptungen, dass auch indianische Zöglinge der Missionen Kompositionen im Barockstil geschrieben hätten, lassen sich nicht belegen.

Solch kultiviertes Musizieren ließ sich nur mit großer Disziplin erreichen. Florian Paucke schilderte detailfreudig die Methoden, mit denen er und seine einheimischen Hilfslehrer das Spiel der europäischen Instrumente einübten. Das mechanische Üben und die ständige Beachtung strenger Haltungsregeln dürfte sich kaum von den Methoden traditionellen europäischen Instrumentalunterrichts unterschieden haben, muss aber für die indigenen Schüler zumindest anfänglich ein Schock gewesen sein, wo sie doch, so Paucke, „ihr ganzes Leben in nichts anderem zubringen, als in fressen, sauffen, schlaffen, jagen, und todschlagen“. 

Die Disziplin, die für die Arbeit in den Reduktionen und für die Beachtung der religiösen Rituale nötig war, wurde beim Erlernen der Musik eingeübt. Jede Missionsstation wurde unter feierlichen Gesängen begründet, später dann der ganze Tageslauf musikalisch geformt. Und dieser Tagesablauf war, wie im klösterlichen Leben, genau vorgezeichnet und durchorganisiert. Dabei blieb nichts der Spontaneität überlassen. Jeder Anlass hatte seine vorbestimmte Musik. Bei den Mahlzeiten, beim Unterricht, bei den gemeinschaftlichen Arbeiten und selbstverständlich bei den zu bestimmten Stunden des Tages, insbesondere am Morgen und beim Anbruch der Nacht vorgeschriebenen Gebeten wurden die liturgischen Gesänge angestimmt. Auf diese zivilisatorische, auf Disziplin gegründete Mission legten die jesuitischen Missionare so viel Wert wie auf die die religiöse Missionierung. Genauer gesagt, es waren zwei Seiten des gleichen Ziels, dessen Erfolg von den Zeitgenossen und späteren Historikern so bewundert wie gehasst wurde.

Bekanntlich wurden die Missionen der Jesuiten nach dem Verbot des Ordens und der Vertreibung der Patres im spanischen und portugiesischen Weltreich zerstört. Die dort lebenden christianisierten „Indianer“ fanden sich ohne den Schutz der Ordensleute der Willkür der Kolonialherren ausgesetzt, die das Ordensverbot betrieben hatten. Viele wurden zerstreut und zur Arbeit auf den Haciendas der Kolonialherren gezwungen. Doch das Erbe der Missionen verschwand nicht spurlos. Die Erhaltung eines relativ großen Bestandes an Noten im Gebiet der ehemaligen Missionen war kein Zufall. Sie verweist vielmehr darauf, dass die nach der Vertreibung der Jesuiten „vaterlos“ gewordenen Gemeinschaften von indianischen Neuchristen mindestens teilweise erfolgreich versuchten, ihre teils über mehrere Generationen anerzogenen Lebensformen und Kultur weiterzupflegen. 

In der Chiquitanía, die relativ nahe am Zentrum der kolonialspanischen und kirchlichen Hierarchie im Hochland von Bolivien lag, scheint der jesuitische Einfluss nachhaltiger gewirkt zu haben als z.B. in Paraguay, wo die Missionen während ihrer gesamten Geschichte unter der Bedrohung durch die mamelucos (bandeirantes) aus Brasilien gelitten hatten, und rebellischen Guaraníes daher auch der Rückzug in den Wald leichter offen gestanden hatte. Bezeugt ist jedenfalls, dass die Partituren der Chiquitos-Missionen in den Gemeinden von San Rafael und Santa Ana, zwei der ehemaligen Missionsdörfer, über zwei Jahrhunderte von den Gemeindevorstehern aufbewahrt und auch benutzt worden sind. Reisende und andere Beobachter aus dem 19. Jahrhundert berichteten von außergewöhnlichen Gesängen und auch heutige ethnographische Berichte weisen die Spuren der alten Kultgesänge nach. Die Partituren liegen zum Teil in Abschriften vor, die Generationen nach der Vertreibung der Jesuiten erstellt wurden, wenn auch in nachlassender Qualität, die auf ein allmähliches Verschwinden der europäischen Techniken des Musiklesens und notengetreuen Musizierens schließen lässt. Als eine Art Kulturheroen wurden die Jesuitenlehrer jedoch in Erinnerung gehalten und diejenigen, die beanspruchen, die alte Tradition weiterzuführen, besitzen hohen sozialen Rang.

Was ist von den umfassenden Bemühungen der Jesuiten geblieben, mit der Verbreitung des christlichen Glaubens eine ganze neue Lebensweise und in ihr auch eine neue musikalische Kultur unter den BewohnerInnen im Herzen Südamerikas zu schaffen? Statt einer allgemeinen Antwort sei hier ein einzelnes, aber vielleicht doch bezeichnendes Ergebnis neuerer Forschung erwähnt, das durch die Auffindung der alten Partituren in Chiquitos möglich wurde. Leonardo Waisman und Irma Ruiz[fn]Gerardo Huseby/Irma Ruiz/Leonardo Waisman: „Un panorama de la música en Chiquitos“, in: Pedro Querejazú (ed.): Las misiones jesuíticas de Chiquitos, La Paz 1995: 659-666[/fn] ist es gelungen, heutige Fassungen einiger Gesänge aus der Zeit der Reduktionen ausfindig zu machen und mit den damaligen Partituren zu vergleichen. Der Befund ist eindeutig: Die Gesänge sind re-indigenisiert worden. Statt der einst beschriebenen strahlenden Stimmen wird eher gepresst gesungen, ohne jedes Vibrato wie es europäischen Ohren „schön“ klingt. Die traditionelle ternäre Rhythmik des Kirchengesangs ist weitgehend aufgelöst zugunsten eines frei akzentuierenden Gesangs. Und vor allem: Die Textur des alten mehrstimmigen Satzes wurde auf einen einstimmigen Gesang reduziert, dessen Melodieführung einzelne Passagen aller früher getrennten Stimmen aufgesogen hat. Die „Ceremonien“ der Jesuiten wurden, auf musikalischem Gebiet wie anderswo, respektvoll tradiert. Um aber als Tradition erhalten zu bleiben, mussten sie wie jede Tradition erneuert und verändert werden.