Ein bedingungsloser Schuldenerlass wäre ein einseitiges Handeln der Gläubiger, denen damit die ganze Verantwortung und damit Lösungskompetenz zugesprochen würde. Damit würde die unterstellte Ohnmacht und Opferrolle der armen Länder fortgeschrieben. Ein solcher Erlass, einseitig gewährt, würde die Struktur der Beziehung nicht verändern. Der Süden bliebe das Objekt des Handels des Nordens.
Sehr konkret würde ein vollständiger Erlass der komplizierten Verschuldungsstruktur der meisten Ländern nicht gerecht: Sie sind nicht nur bei nördlichen Regierungen und Banken verschuldet. In manchen Schuldnerländern besteht ein nennenswerter Teil der Schulden auch gegenüber anderen Süd-Regierungen. Sogar manche NRO und Internationale Kreditkooperativen sind in begrenztem Maße Gläubiger des Südens.
Die Verschuldung des Südens ist kein Missgeschick im Sinne eines zufälligen Naturereignisses, dessen Folgen mit einer einmaligen Anstrengung in Form eines vollständigen Erlasses aus dem Weg geräumt werden könnten. Ihr Entstehen ist vielmehr das Ergebnis struktureller weltwirtschaftlicher Benachteiligung und ihr Fortbestehen begründet sich durch die alleinige Dominanz der Lösungen durch die Gläubiger.
Der Vorschlag eines fairen und transparenten Entschuldungsverfahrens auf der Basis von Illegitimität und Tragfähigkeit versucht eine Antwort auf diese drei Probleme: Anstelle des einseitigen Handels würde gemeinsam Verantwortung – wenn auch nicht notwendigerweise zu gleichen Teilen – für die aktuelle Situation übernommen, ebenso wie für ihr Überwindung. Die Komplexität tatsächlicher Verschuldungssituationen könnte im Rahmen eines solchen Verfahrens berücksichtigt werden. Damit würde ein Schritt aus der Logik getan, dass einer an allem Schuld ist und der andere an nichts. Auf ein strukturelles Problem wird mit dem FTAP eine strukturelle Antwort geben. Das Entstehen neuer Krisen wird unwahrscheinlicher, wenn Gläubiger damit rechnen müssen, finanziell für ihre Kreditvergabe verantwortlich gemacht zu werden. Die Lösung wird nachhaltiger, wenn nicht eine Konfliktpartei, sondern eine unabhängige Instanz entscheidet und die Öffentlichkeit beteiligt wird. Ein faires und transparentes Entschuldungsverfahren prüft und berücksichtigt die Verantwortung aller Beteiligten, allerdings mit der Einschränkung, dass die Verwirklichung der Menschenrechte im Konfliktfall wichtiger ist als die Verwirklichung des Rechts auf Rückzahlung.
Zwei Ziele stehen bei einem fairen und transparenten Schiedsverfahren im Vordergrund: zum einen, Mittel für die Bekämpfung der Armut und für die Entwicklung der Länder bereitzustellen. Zum anderen, durch die Einführung eines solchen Verfahrens dazu beizutragen, die Struktur der Beziehung zwischen Gläubiger- und Schuldnerländern zu verändern: von einer Beziehung extremer Asymmetrie und Ungleichheit hin zu Symmetrie und Verfahrensgerechtigkeit. Zwei Schlüsselprobleme kennzeichnen die seit den 80er Jahren sich wandelnde, gleichwohl fortbestehende Verschuldungskrise der Länder des Südens. Die von den Gläubigern entwickelten und nach ihrem Urteil umgesetzten Entschuldungsmechanismen haben die Überschuldungsprobleme des Südens nicht gelöst. Viele Länder des Südens leiden nach wie vor unter beträchtlichen Ressourcenabflüssen und müssen die Lücken in ihren Budgets mit Zuschüssen oder Krediten füllen. Diese beiden Schwachpunkte sind untrennbar mit dem unausgewogenen und unfairen Prozess der Entscheidungsfindung im internationalen Schuldenmanagement verbunden.
Ein Blick auf diejenigen internationalen Foren, in denen zur Zeit über die Begleichung oder den Erlass von Schulden verhandelt wird, zeigt, dass es allein die Gläubiger sind, die die Verfahren definieren, ihre Regeln bestimmen und im Einzelfall auf der Grundlage von Gutachten, die sie selbst in Auftrag gegeben oder gar verfasst haben, Entscheidungen treffen. Das wichtigste Merkmal eines fairen und transparenten Schiedsverfahrens ist, dass die Entscheidung von einer von Schuldner- und Gläubigereinflüssen unabhängigen, neutralen Instanz gefällt wird. Grundlage für die Entscheidung sind zwei Fragen, die der Illegitimität und die der Schuldentragfähigkeit. Zeitlich und systematisch vorangestellt ist die Frage der Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit (Illegitimität) von Schulden. Allerdings ist Unrechtmäßigkeit von Schulden hier in einem engen Sinne zu verstehen. Sie bezieht sich nicht auf die Schulden des Südens als eine Folge von Kolonialismus und Sklaverei, sondern auf die konkrete Unrechtmäßigkeit einzelner Forderungen. Kredite liegen in der Verantwortung von Schuldnern und Gläubigern – und für die meisten Schulden des Südens sind Akteure aus dem Norden (Regierungen, multilaterale Institutionen wie der IWF oder die Weltbank und private Großbanken) zumindest mitverantwortlich. Die Banken und staatlichen Kreditgeber haben seit jeher leichtfertig Kredite vergeben und ihre Sorgfaltspflicht verletzt, aus politischen Gründen (etwa im Kalten Krieg) oder weil sie – egal an wen und für was – ihr überschüssiges Kapital loswerden wollten.
Um 1920 entwickelte Alexander Sack, ein russischer Jurist, die völkerrechtliche Doktrin der „unrechtmäßigen Schulden“. Damit Schulden in diesem Sinne „unrechtmäßig“ und damit für den Gläubiger uneinbringbar sind, müssen sie drei Kriterien erfüllen. Zum einen muss die Kreditvergabe ohne Zustimmung der Bevölkerung erfolgt sein. D.h., es gab keine frei gewählte Regierung und keine parlamentarische Mitbestimmung bei der Kreditaufnahme. Zum anderen hatten die Projekte und Maßnahmen, die mit den Krediten finanziert wurden, keinen Nutzen für die Bevölkerung. Schließlich muss beides – sowohl, dass die Bevölkerung nicht zugestimmt, als auch, dass sie keinen Nutzen hatte – den Gläubigern bekannt gewesen sein. D.h., sie wussten es entweder tatsächlich oder sie hätten es wissen müssen und haben die Augen vor dem Offensichtlichen verschlossen und keine angemessenen Nachforschungen angestellt.
Der Frage der Unrechtmäßigkeit zeitlich und systematisch nachgeordnet ist die der Schuldentragfähigkeit. Sie spielt auch im aktuellen Schuldenmanagement eine Rolle. Allerdings nur als streng wirtschaftlich definierte (und i.d.R. selbst hierfür zu knapp beurteilte) Bezahlbarkeit. Aus NRO-Sicht muss Schuldentragfähigkeit vom Bedarf her bestimmt werden, wie es auch in nationalen Insolvenzrechten der Fall ist. Wenn also alle unrechtmäßigen Schulden gestrichen worden sind, aber dennoch Schulden übrig sind, ist zu klären, welche Summen zur Wahrung der Menschenwürde der Bevölkerung und des Staates grundsätzlich dem Zugriff der Gläubiger entzogen bleiben müssen. Ob hier wegen der Selbstverpflichtung der Gläubiger zunächst die Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele die Messlatte sein soll oder die Gewährleistung der Wirtschaftlichen, Sozialen und Kulturellen Menschenrechte ist eine Frage, die unter NRO noch diskutiert werden muss.
Ein FTAP ist grundsätzlich ein offenes Verfahren. Es gibt keine formal festgelegten Kriterien, die erfüllt werden müssen, um ein solches Verfahren in Anspruch zunehmen. Jedes Land, das seine Schulden nicht mehr bezahlen kann oder das der Meinung ist, dass sie illegitim sind und es sie deshalb nicht bezahlen sollte, kann ein solches Schiedsverfahren eröffnen. Eine Garantie für ein bestimmtes Ergebnis gibt es ebenso wenig. erlassjahr.de ist überzeugt, dass ein Großteil der Schulden, unter denen die Länder des Südens leiden, unrechtmäßig oder nicht tragfähig ist. Auch wenn bei einem FTAP die allgemeinen Machtverhältnisse nicht aufgehoben wären, gehen wir davon aus, dass durch kritische Begleitung von NRO im Süden und Norden, durch Transparenz und Medienarbeit bessere Ergebnisse erzielt würden als es in aktuellen Verfahren möglich ist. Und weil es um die Verbesserung von realen Lebensumständen vieler Einzelner geht, befassen wir uns so konstruktiv wie möglich und dennoch kritisch mit jeder Initiative, die Schuldenerlass zur Folge hat – auch wenn das Verfahren unfair bleibt, viele Länder ausgeschlossen sind, Tragfähigkeit von oben herab bestimmt wird und die Frage der Unrechtmäßigkeit gar nicht gestellt wird.
Für ein Land kann es dennoch eine große faktische Erleichterung sein. Tansania ist im Rahmen der sehr unvollkommenen und insgesamt fehlgeschlagenen HIPC-Initiative entschuldet worden. Dennoch hat es etwas gebracht. Das macht der Brief des tansanischen Präsidenten Benjamin Mkapa vom 15. April an die EntschuldungsaktivistInnen in aller Welt deutlich. Er dankt den AktivistInnen für die Unterstützung, berichtet, was erreicht wurde, was bei weiterer Entschuldung möglich wäre, und ruft zu weiteren gemeinsamen Anstrengungen auf. erlassjahr.de wird sich weiter für das Ziel einsetzen, Schulden im Rahmen eines FTAP zu erlassen, damit die Menschen in den Schuldnerländern eine Chance erhalten. Gleichzeitig werden wir uns nach Kräften bemühen, in die komplizierten und wenig glänzenden Möglichkeiten, die sich in der konkreten Arbeit bieten, Verbesserungen einzubringen.
Inzwischen ist die Notwendigkeit eines FTAP unter NRO in Schuldner- und Gläubigerländer quasi unumstritten. Allerdings verfolgen nicht alle Bewegungen damit dasselbe Ziel. Für manche wäre ein FTAP ein pragmatischer Schritt, um die eigentlich entscheidungsberechtigten Schuldnerländer vor dem Gegenschlag der Gläubiger zu schützen, und so betrachtet eine Konzession an die bestehenden Verhältnisse. Für andere – darunter erlassjahr.de – verbindet sich damit eine weiter gehende Hoffnung, weil sie eine neutrale Entscheidungsfindung für den angemessenen Umgang mit der Schuldenkrise eines Landes halten. Für wie leistungsfähig ein FTAP gehalten wird und wie sehr darin eine vielleicht kleine, gleichwohl aber grundsätzliche und strukturelle Veränderung gesehen wird, lässt sich nicht an Nord- oder Südbewegungen festmachen. Die unterschiedlichen Sichtweisen laufen quer zu geographischen Grenzen.