Der Tinku

Tinku ist ein Quechua-Wort und bedeutet Treffen, Zusammenkunft, Gleichgewicht, Übereinstimmung. Es bezeichnet die rituellen Kämpfe, bei denen sich zwei gegnerische Gruppen gegenüberstehen, die oft als Alasaya (die von oben) und Majasaya (die von unten) bezeichnet werden. Es scheint eine kriegerische Schlacht zu sein, aber in Wirklichkeit ist es ein Ritus, der vereint und nicht trennt. Der Tinku ist ein Zusammentreffen zwischen zwei Elementen, die aus unterschiedlichen Richtungen kommen: Tincuthaptatha, ein Treffen zwischen denen, die auf dem Weg kommen, und denen, die gehen. Es geht also nicht darum, dass ein Element das andere besiegt und unterdrückt, es ist kein Kampf bis zum Tod, sondern für das Leben. Aus dem Gegensatz entsteht das Leben, es ist der Boden für Fruchtbarkeit und Nachkommen.

Die Herkunft des Tinku ist präinkaisch. Bolivianische HistorikerInnen wie José Mesa, Teresa Gisbert de Mesa und Carlos D. Mesa betonen, dass der Tinku bereits vor der Ankunft der Inka praktiziert wurde. Er hat sich ohne Veränderungen oder Synkretismus erhalten. Es ist ein Opfertanz für die Pachamama (Mutter Erde), in dem die Männer der Region ihre Kraft und Stärke zeigen.

Der Tinku wird im Norden des Departements von Potosí praktiziert. In der Vorinkazeit war hier ein Aymara-Königreich oder Herrschaftsgebiet mit Namen Qaraqara. Im Buch Historia de Bolivia von José Mesa, Teresa Gisbert de Mesa und Carlos D. Mesa heißt es: „Das Volk von Qaraqara ist genauso kriegerisch wie das von Charca oder sogar noch kriegerischer; auf seinem Gebiet finden bis heute Kämpfe statt, die Tinkus genannt werden. Die bekanntesten finden zwischen den Allyus (traditionelle Quechua-Gemeinschaften) von Laimes und Jucumanis statt.“ Aber nicht nur in Llaimes und Jukumanis wird der Tinku getanzt, sondern auch in vielen anderen Ayllus wie Chayantaka, Sora, Kututu, Pukuata, Chuis, Parantaka, Pairumani und Macha.

Der Tinku überlebte die Kolonialisierung und wurde mit unverminderter Kraft auch in der republikanischen Zeit und bis heute praktiziert. Es gab einige kleine Veränderungen, aber der multiethnische, kämpferische und herausfordernde Charakter blieb erhalten. In den spanischen Chroniken steht, dass in den Gebieten von Charka und Chayantaka in Bolivien rituelle Kämpfe stattfanden, in denen sich zwei Gruppen mit Fäusten und Qurawas (Steinschleudern) gegenüberstanden. In den Ayllus im Norden von Potosí organisiert sich jede Gemeinschaft auch in religiösen, also heiligen Räumen.

Die „Treffen“ oder Tinku finden in den Markas oder Stadtzentren statt, da wo die koloniale Kirche, das Rathaus, das Gasthaus und die Schule stehen. Die Zentren, die in der Kolonialzeit Pueblos de Indios genannt wurden, wurden nach dem Vorbild der spanischen Ortschaften während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf Befehl des Vizekönigs Francisco de Toledo errichtet. Dörfer wie San Pedro de Macha, Aymaya, Pocoata, Chayanta und Torotoro sind zu bestimmten Zeiten die Zentren, wo die Campesinos und Campesinas zusammenkommen, um das Tinkuritual zu vollziehen, heute meist am katholischen Feiertag des Señor de la Cruz, dem 3. Mai. Darüber hinaus wird der Tinku überall in den Altiplanogemeinden im Norden von Potosí und im Süden von Oruro praktiziert. Laymis und Jukumaris, Chullpas und Kakachacas führen den uralten Brauch des Krieges zwischen den Ayllus fort.

Die Dorfgemeinschaften, die zum Tinku gehen, nehmen oft stundenlange Fußmärsche auf sich, bevor sie gruppenweise und zum Klang der Jula Jula beim Marka (Ortszentrum) ankommen. Jula Jula ist ein Blasinstrument und der Zampoña (fälschlicherweise in Europa oft als Panflöte bezeichnet, obwohl sie der rumänischen Panflöte nur äußerlich verwandt ist) ähnlich, nur dass er aus nur drei oder vier Rohren besteht. Charakteristisch für dieses Instrument ist eine Fünftonleiter. Auch der Jula Jula ist ein Überlebender aus der präkolombianischen Zeit, als der Mensch das Instrument entwickelte, um das Echo des Windes in rituelle Musik zu überführen. Er wird in Gruppen von zehn bis zu 50 Personen gespielt. Die Kinder sind von klein auf Teil dieses Rituals, sie tanzen zu dieser Musik zusammen mit den Alten in Schlangenbewegungen. Jung und Alt bewegen sich zu den Windhauchliedern, deren uralte Melodien so weitergegeben und erinnert werden. Es ist unmöglich, dass der Jula Jula ohne Ritual und ohne Fest erklingt.

Die Kleidung spielt beim Tinku eine wichtige Rolle. Sie zeigt das Ansehen der Familien. Neue Webarbeiten sind ein Zeichen dafür, dass die Frauen der Familien fleißig waren. Es werden deshalb stolz die farbenfrohen und sehr auffälligen aguayos (Schultertücher oder Decken) und Jacken getragen. Oft mit aufwändigen Stickereien verziert, die Flora und Fauna zeigen, sind sie für Frauen und Männer gleich. Die Kopfbedeckungen sind eine Art Helm aus verstärktem Rindsleder und erinnern an die Helme der Spanier. Sie werden mit langen gefärbten Federn und anderen Verzierungen geschmückt. An der Kopfbedeckung kann man jede einzelne Person der Gruppe erkennen.

Wenn die Gruppen bei der Marca ankommen, entbieten sie der Jungfrau Maria vor der Kirche einen musikalischen Gruß (hier hat der Katholizismus die Mutter Erde durch Maria ersetzt) und gehen dann zu den Häusern, die jede Gemeinde für diese Gelegenheit angemietet hat. Dort werden dann die Jula Jula abgelegt und durch die kleinen Charangos (traditionelles Zupfinstrument) ersetzt. Diese Instrumente aus Holz und Metalldrähten werden im sogenannten Quinsatemple (Dreiton-)Rhythmus gespielt. Zum Takt der Charangos und den Gesängen der Frauen, die die Tänzer (Mit’anis) mit ihren durchdringenden Stimmen, den traditionellen Huayños, begleiten, wird durch die Straßen der Marca oder in den Ecken des Hauptplatzes, auf dem das Treffen stattfindet, getanzt.

Der Tinku selbst ist das „ausgewogene Treffen zwischen zwei Seiten”. Es findet an allen vier Ecken des Platzes statt. Von sieben Uhr morgens an wird gekämpft und getanzt, der Platz wird zu einem rituellen Ort, an dem Hunderte von Indigenen an dem Ritual teilnehmen, bis Blut auf die Erde fließt. Dieses Opfer garantiert eine gute Ernte und erneuert den Zyklus, denn das Gleichgewicht zwischen den GegnerInnen wird durch den Kampf wieder hergestellt. Die Auseinandersetzungen werden von den jeweiligen Autoritäten kontrolliert, dem Cacique, dem Bürgermeister und der Polizei. Zum Zeichen ihrer Autorität haben sie eine Peitsche, die sie gegen diejenigen einsetzten, die sich nicht an die vereinbarten Regeln halten. Kurz vor dem Einbruch der Dunkelheit ist das Ritual vollbracht. Es erklingen wieder die Jula Jula, sie verkünden die Heimkehr der Gemeinden in ihre Dörfer. Die Marka wird wieder zu einem symbolischen Ort in der Erinnerung. Der Klang der Jula Jula markiert Beginn und Ende der Begegnung mit der Vergangenheit. 

Der Tinku ist heute das bedeutendste Element der Folklore Bolviens. Die Tänzer folgen einer ausgeklügelten Choreographie, sie zeigen komplexe Figuren, Schrittfolgen, Muster, mal fröhlich, mal kriegerisch. Die wichtigsten Figuren des Tanzes, wie den großen Tata, gibt es heute noch in den Ayllus. Dieser Tata Mayor, der die zweitwichtigste Autorität in den traditionellen Gemeinden nach dem Mallku darstellt, wird heute meist Präsident genannt. Der Jilaqata, der die höchste Autorität des Ayllu verkörpert und aus einer Reihe von Familien hervorgeht, die den Klan bilden, hat eine ganze Reihe von Rechten und Verpflichtungen und bildet zusammen mit seiner Compañera die heilige Macht Chachawarmi (Komplementarität zwischen Frau und Mann). Der Jilaqata gilt als verantwortungsvolle und engagierte Person. Er ist für das Wohlergehen der Gemeinde und der Wawakallus (oder Wawatinkus, der Tänzerkinder) verantwortlich. Der Jilaqata hat die Aufgabe, den Block der Tänzer anzuführen und die Ansagen für die Wechsel der Choreographie zu geben. Die Loqallas sind die unverheirateten Männer, die noch nicht alt genug sind, um zu heiraten, und als Wawas (Söhne) gelten, auch sie haben eine Aufgabe in der Choreographie des Tinku, sie bilden einen Block. Dasselbe gilt für die Imillas wawas, die unverheirateten Frauen, auch sie haben eine spezifische Rolle im Tinku.