Der Wille zu leben war stärker als der Wunsch zu sterben

Sie sind einer der Überlebenden von Schindlers Liste und im Zusammenhang mit Steven Spielbergs Film häufig als Zeitzeuge befragt worden…

Im Zusammenhang mit dem Film gab es hier plötzlich ein großes Interesse an dem Thema. Ich bin von vielen Universitäten und Schulen eingeladen worden, um dort mit den jungen Menschen über den Film zu sprechen und Fragen zu beantworten. Ich bin oft gefragt worden, ob es wirklich so schrecklich war, wie der Film zeigt. Die meisten konnten sich das nicht vorstellen, auch Journalisten nicht, die schon viel in der Welt herumgekommen sind. Für mich war es damals wie ein großer Prozeß. Die deutschen Behörden erhoben Anklage: Du bist Jude! Wir aber hatten kein Recht auf einen Verteidiger, und das Urteil lautete zwangsläufig „Todesstrafe“. Es gab keine Konventionen, keine Menschenrechte. Wenn man das erzählt, mögen manche denken, daß das antideutsche Propaganda ist, aber es ist die Wahrheit. Oskar Schindler selbst habe ich sehr gut gekannt, denn ich habe ab 1941 in seiner Emaillefabrik in Krakau gearbeitet.

Sie sind 1926 in Berlin geboren. Wie waren Sie nach Polen gekommen?

Meine Eltern waren polnischer Abstammung. Mein Vater war als junger Bursche nach Deutschland gegangen, um dort zu studieren, und er war dageblieben und hatte eine Familie gegründet. Er fühlte sich als Deutscher und war auch, soweit ich weiß, in der österreichischen Armee gewesen. Mit einem Mal tauchte dann die Gestapo auf, und es hieß: Nein, du bist kein Deutscher, du bist in Polen geboren, du bist ein Jude, und deine Kinder sind Juden. Und da war es aus. Die deutsche Regierung hat damals – es muß 1937 oder 1938 gewesen sein – alle, die polnischer Abstammung waren, nach Polen zurückgeschickt.[fn]Im Oktober 1938 kam es zu ersten größeren Ausweisungsaktionen von Juden polnischer Staatsangehörigkeit aus dem Deutschen Reich. So wurden innerhalb weniger Tage in einer Blitzaktion (man wollte Polen, das sich abschotten wollte vor einer Rückkehr polnischer Juden, zuvorkommen) 17 000 der 36 000 in Deutschland lebenden polnischen Juden in Sammeltransporten nach Polen deportiert.[/fn]

Wie haben Sie diese zwangsweise Umsiedlung erlebt? Sie waren ja noch sehr jung.

Ich bekam einen kleinen Koffer, aber ich kann mich weder an den Tag erinnern noch daran, wie wir nach Polen gekommen sind. Ich weiß nur, daß ich plötzlich, von einem Tag auf den anderen, nicht mehr in Berlin, sondern in Polen war, einem ganz anderen Land mit einer ganz anderen Sprache. Polen hat mich überhaupt nicht interessiert. Es hatte mich bis dahin auch nicht interessiert, ob jemand Jude war. In Deutschland war das bis dahin auch egal gewesen. Ich hatte in Berlin viele gute Freunde, die keine Juden waren, und nie hatte mich jemand gefragt, ob ich Jude sei. Ich habe die Ereignisse damals nicht verstehen können. Erst später, nach dem Krieg und als ich älter wurde, habe ich angefangen zu überlegen, warum, weshalb und wie das alles geschehen ist.

Wie sah die Situation für Sie und Ihre Eltern in Polen aus?

Sehr schlecht. Meine Eltern hatten alles verloren, was sie durch jahrelange Arbeit in Deutschland erworben hatten, denn wir hatten nur unsere Koffer mitnehmen können. Wir waren nach Kattowitz in Schlesien gefahren und blieben eine Zeitlang dort. Ich glaube, mein Vater hatte Kattowitz ausgesucht, weil wir dort auch noch deutsch sprechen, aber gleichzeitig polnisch lernen konnten. Das war einfacher. Aber für uns Kinder war es dennoch furchtbar, denn wir hatten unsere Spielkameraden verloren und konnten dies und jenes nicht mehr tun. 1938 – vielleicht war in Kattowitz auch schon eine antisemitische Stimmung entstanden, oder mein Vater hatte keine richtige Arbeit gefunden – sind wir nach Krakau gezogen. Dort ging ich in die polnische Schule und lernte sehr schnell polnisch. 1939 brach der Krieg aus, und wir blieben noch eine Zeitlang in Krakau, aber schon bald durften Juden nicht mehr in der Stadt wohnen, sondern nur noch in der Peripherie. Wir mußten also wieder alles zurücklassen und sind an den Stadtrand, sozusagen in eine kleine Favela von Krakau gezogen. Wir hatten kein Geld und hungerten. Damals – ich war 10 oder 11 Jahre alt – mußten wir uns schon als Juden kennzeichnen, aber ich habe nie verstanden, weshalb ich das J für Juden und den Davidstern tragen sollte.

Später, ich war noch keine 13 Jahre, kamen wir ins Ghetto von Krakau[fn]1941 wurde das Krakauer Ghetto eingerichtet. Bis zum 20. März mußten alle Krakauer Juden dort ihren Wohnsitz nehmen. Verlassen durfte das Ghetto nur, wer eine gültige Arbeitskarte besaß, also z. B. in Schindlers Emaillefabrik arbeitete.[/fn], und mit einem Mal mußte ich arbeiten. Ich habe verschiedene Arbeiten verrichtet, z. B. am Bahnhof Strohballen von 60 kg geschleppt. Das konnte ich kaum schaffen, aber ich mußte arbeiten, um nicht deportiert zu werden. Wer gearbeitet hat, hat zwar kein Geld bekommen, aber wenigstens etwas zu essen. Später wurde es schwieriger für diejenigen, die keinen Beruf hatten, die zu alt waren oder noch Kinder. Man hat sie alle deportiert. Ich mußte also etwas lernen, und ich habe bei einem Bekannten Automechaniker gelernt, er hat mich als Gehilfen zu seinem Arbeitsplatz mitgenommen.

Wie sind Sie dann zu einem Schindlerjuden geworden?

Oskar Schindler war 1939 nach Polen gekommen, wo er in Krakau eine Emaillefabrik gegründet hatte, in der er zahlreiche Juden aus dem Ghetto beschäftigte. Zur Fabrik gehörte auch eine Werkstatt für seine Lastwagen und Privatautos. Mein Bekannter hatte sich bei Schindler als Mechaniker gemeldet und mich dann als seinen Gehilfen mitgenommen. Für mich war das eine Verbesserung, denn dort bekam ich Essen und lebte auch ruhiger, da nicht mehr die Gefahr bestand, plötzlich morgens ausgehoben und in ein anderes Lager geschickt zu werden.

Ich erinnere mich noch genau an meine erste Begegnung mit Schindler: Ich machte Nachtschicht in der Werkstatt, und es war gegen Mitternacht. Ich war in seinem Auto – er hatte einen blauen 8-Zylinder-Luxuswagen –, und da ich allein war, habe ich Radio gehört, BBC London. Plötzlich habe ich jemanden bemerkt und bin vor Angst zitternd hochgekommen. Vor mir stand Oskar Schindler. Er war sehr groß, ich ganz klein, erst 14 Jahre alt und schlecht ernährt. Ich habe mich natürlich dafür entschuldigt, daß ich Radio gehört hatte, aber was sollte ich groß sagen? Das Gerät lief noch. Ich hatte Glück, daß ich es mit Oskar Schindler zu tun hatte, denn wenn es ein anderer gewesen wäre, wäre ich – egal ob noch Kind oder nicht – erschossen worden. Schließlich hatte ich einen feindlichen Sender gehört, und das war strengstens verboten. Oskar Schindler aber hat mich nur angeschaut, seine Hand auf meine Schulter gelegt und gesagt: Mein Junge, hör weiter zu. Morgen wirst du mir dann erzählen, was sie berichtet haben. So sah meine erste Begegnung mit ihm aus, und ich habe gemerkt, daß ich es mit einem guten Menschen zu tun hatte. Er hat sich auch später für alle, die in der Emaillefabrik gearbeitet haben, eingesetzt.

Es gab 3-4 Liquidationen im Ghetto. Ich weiß bis heute nicht, wo meine Eltern geblieben sind. Wir wurden auf den Abführplatz geführt. Ich bin rechts in der Reihe gegangen, sie links. Ich habe sie dann nie wieder gesehen und weiß bis heute nicht, wo, wann und wie sie gestorben sind. Bei den Aussonderungen wurde das ganze Ghetto von SS-Wachen umstellt. Zunächst haben sie die Alten deportiert, dann die Kinder und auch die Kranken. Spielberg zeigt einiges davon in seinem Film. Ich glaube, er hat 80 Stunden gefilmt. Der Film dauert 3 Stunden und zwanzig Minuten. Vieles konnte er auch nicht zeigen, weil es zu schockierend gewesen wäre. Es sind Sachen passiert, von denen man sich nicht vorstellen kann, daß ein anderer Mensch dazu fähig ist. Ich habe gesehen, wie man kleine Kinder von zwei bis vier Monaten aus dem Krankenhaus geholt hat. Die Soldaten haben sie bei den Füßen gepackt und einfach vom 2. Stockwerk runtergeworfen.

Nach der Räumung des Ghettos[fn]Im März 1943 wurde das Krakauer Ghetto endgültig liquidiert. Die Aktion, bei der ca. 4000 Menschen umgebracht wurden, wurde geleitet von Amon Göth, dem Leiter des Zwangsarbeiterlagers Plaszow, in das ein Teil der Ghettobewohner verrbacht wurde.[/fn] kam ich ins Lager Plaszow bei Krakau, bis Schindler die Erlaubnis bekam, bei seiner Fabrik ein eigenes Minilager einzurichten, wo er seine Arbeiter und Arbeiterinnen unterbrachte. In diesem Lager waren wir bis 1944, bis die russische Offensive anfing und Schindler seine Fabrik schließen mußte. Ich kam dann wieder ins Lager Plaszow bis Oktober 1944, wo Schindler uns mit seiner Liste loskaufte und in die Tschechoslowakei ins Lager Brünnlitz holte, wohin er seine Fabrik transferierte.

Im Film zeigt Spielberg einige Episoden aus dem Ghetto, aber es war jeden Tag drei bis vier Jahre lang so. Im KZ Plaszow, wo Amon Göth Lagerleiter war, war es jeden Tag schrecklich. Göth war eine Bestie, ein Schizophrener. Er war kein Idiot, aber ganz anormal und äußerst brutal. Ich habe z.B. 50 Peitschenhiebe bekommen. Es war im Winter, 25 Grad unter Null, als wir aufgefordert wurden, den Mercedes von Göth in die Kommandantur zu bringen. Wir haben rund um die Uhr gearbeitet, immer Wasser gekocht und in den Kühler gegossen. Unter dem Auto hatten wir ständig Feuer, damit der Wagen warm blieb, aber wir konnten selbst mit einer Ersatzbatterie den Motor nicht schnell genug anwerfen. Plötzlich tauchte Göth mit seinem Chauffeur in der Garage auf. Er hat seinen Revolver gezogen und sofort ein Mädchen, das sich dort aufhielt, erschossen. Dann ist er mit dem Wagen weggefahren, aber 2 Stunden später kamen SS-Wachen und haben uns, die wir in der Garage Nachtschicht hatten, zum Abführplatz gebracht. Wir sollten uns ausziehen und erschossen werden. Uns wurde Sabotage vorgeworfen, weil der Wagen stehengeblieben war. Nach etwa 10 Minuten, als wir schon im Graben standen, kam plötzlich die Order, daß wir doch nicht erschossen würden, sondern stattdessen 50 Peitschenhiebe bekommen sollten.

War das für Sie die gefährlichste Situation im Lager?

Nein, es gab viele solcher Situationen. Ich war einfach zu jung, zu mager und zu klein. Es bestand immer das Risiko, auf dem Abführplatz zurückbehalten zu werden. Wir hatten Hunger, keine Schuhe, keine Strümpfe. Man hat mitbekommen, wie ständig Menschen um einen herum gestorben sind, Kollegen und Kameraden. Für mich war das alles furchtbar. Aber der Wille zu leben war stärker als der Wunsch zu sterben. Dennoch gab es wirklich Momente, wo ich mich hingelegt habe und nicht mehr aufstehen wollte.

Im Film zeigt Spielberg, wie die Frauen von Schindlers Liste zunächst anstatt nach Brünnlitz nach Auschwitz kamen. Den Männern ging es übrigens ähnlich. Als wir in Viehwagen von Plaszow nach Brünnlitz gebracht werden sollten, hielten wir plötzlich nachts im Vernichtungslager Groß-Rosen. Es war Oktober und kalt. Wir mußten aussteigen, uns nackt ausziehen, uns wurden alle Haare abrasiert, wir bekamen ein Stück Seife, ein kleines Handtuch und wurden zum Duschen geführt. Wir glaubten, es sei eine Gaskammer, aber Gott sei Dank kam wirklich kaltes Wasser aus den Brausen. Wir wurden dann mit Insektiziden behandelt, mußten noch lange nackt in der Kälte stehen, bis Wachmänner kamen und uns in eine andere Baracke führten, wo wir uns aus einem großen Haufen Kleidung, der gewiß von Ermordeten stammte, Wäsche heraussuchen sollten. Wir wurden in einen Raum gesperrt, wo wir wie die Sardinen eingepfercht waren, bis uns Schindler schließlich nach drei Tagen rausgeholt hat. Es war furchtbar in Groß-Rosen. Man hat uns geprügelt. Auch ich wurde derartig zusammengeschlagen, daß ich, als wir dann nach Brünnlitz kamen, zusammen mit anderen Kranken ins Spital kam, das Emilie Schindler (vgl. Interview in der ila 172), die Frau von Oskar Schindler, dort eingerichtet hatte. Sie hat mir den Fuß gerettet. Ich war ungefähr 2 Wochen da und konnte zunächst überhaupt nicht gehen.

Als wir in Brünnlitz ankamen, fehlten die Frauen und Kinder, die nach Auschwitz gekommen waren. Glücklicherweise ist es Schindler gelungen, auch sie da wieder rauszubekommen. Ich glaube, es war der schönste Moment für mich in der ganzen Kriegszeit, als die Frauen und Kinder dann endlich bei uns im Lager ankamen.

Haben Sie heute noch Kontakt zu Emilie Schindler?

Ich habe sie in Israel gesehen. Sie lebt in Argentinien und wird von B’nai B’rith, einer jüdischen Organisation, finanziell unterstützt. Sie ist schon eine alte Frau und kann nicht mehr laufen. Sie war ein Engel. Man schreibt nicht viel über sie, denn sie stand nicht im Vordergrund. Ich glaube, sie hat ebensoviel für uns getan wie Schindler. Sicherlich, er war der Organisator. Er hat uns gerettet, wie die jüdische Thora sagt: Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt. So war er, aber sie hat auch sehr vielen Menschen geholfen.

Im Februar 1945 tauchten mehrere Waggons in Brünnlitz auf. Man hat uns aus der Werkstatt gerufen, um sie mit Schweißgeräten zu öffnen, denn es war alles vereist. Der Anblick war furchtbar: lauter Tote, zum Skelett abgemagert, und ein fürchterlicher Gestank. Nur einige hatten überlebt und kamen gleich ins Spital von Emilie Schindler. Erst später haben wir erfahren, daß es Lagerinsassen aus einem Lager tief in Polen waren, die mit dem deutschen Rückzug in Waggons verfrachtet und von einem ins andere Lager geschickt worden waren. Kein Lagerkommandant hatte sie annehmen wollen. So sind sie tagelang durch die Gegend gefahren, bis Oskar Schindler sich bereit erklärt hat. Es war furchtbar, wie die Leichen übereinanderlagen. Normalerweise wären sie verbrannt worden, ich kannte das aus Plaszow. Dort hatten wir, seitdem die Russen im Vormarsch waren, die Leichen wieder ausgraben und verbrennen müssen, wofür ich immer aus der Garage Benzin hatte bereitstellen müssen. Schindler hat das in Brünnlitz jedoch nicht zugelassen. Er hat von der Kirche einen Platz besorgt, wo die Leichen mit der ganzen jüdischen Zeremonie begraben wurden. Damit hat er viel riskiert, aber er hatte den Mut dazu, das jüdische Ritual durchführen zu lassen. So war Schindler. Und Emilie Schindler hat die Kranken gerettet. Sie war ein wirklicher Engel. Für mich war sie wie eine zweite Mutter. Sie hat damals mein Bein gerettet, und es ist heute ganz normal. Sie hat für uns alle im Lager sehr viel getan. Das, was die Behörden uns an Essen zugeteilt haben, reichte eher zum Sterben als zum Leben, und sie hat das Essen noch angereichert, hat Nahrungsmittel dazugekauft, um eine gute Suppe zu machen.

Sie haben als Jugendlicher Ihre Eltern verloren…

Ja, mit 14 Jahren. An die ersten fünf Tage, nachdem meine Eltern verschwunden waren, kann ich mich nicht erinnern. Ich habe da eine Gedächtnislücke. Die letzte Szene, woran ich mich erinnern kann, ist, wie meine Eltern auf die linke Seite gingen und ich auf die rechte. Ich bin tagelang nicht nach Hause gegangen und weiß nicht, was ich in der Zeit gemacht habe. Als ich schließlich zu meinen Schwestern zurückgekehrt bin in das Zimmer, das wir im Ghetto bewohnten, haben sie mich ungläubig angeschaut, denn sie dachten, ich sei ausgesiedelt worden oder bei der Aktion ums Leben gekommen.

Haben Sie sich während des Krieges Ersatz schaffen können für Ihre Eltern, menschliche Bindungen zu Älteren aufbauen können?

Nein. Ich habe immer den Kontakt zu älteren Menschen gesucht, aber nicht, um einen Ersatz für meine Eltern zu haben, sondern um mit ihnen zu reden, von ihnen zu lernen. Damals als Bursche, auch wenn es nur wenig Hoffnung gab zu überleben, war ich wißbegierig. Wer sich gut in Geographie auskannte, den habe ich gebeten, mir davon zu erzählen, wer sich in Geschichte auskannte, der brachte mir Geschichte bei. Auch Englisch fing ich an zu lernen, aber alles nur mündlich, denn wir hatten keine Bücher und keine Bleistifte. Meine Eltern haben mir sehr gefehlt. Während und noch nach dem Krieg hatte ich immer die Hoffnung, sie wiederzusehen. Für mich wäre es sicher ein großer Unterschied gewesen, und ich wäre heute sicherlich ein ganz anderer, wenn ich meine Eltern nicht verloren hätte. Man kann zwar gute Menschen finden, aber die Eltern ersetzen kann man nicht. Für mich war das ein großes Problem, gerade auch nach dem Krieg. Ich war 20 Jahre alt, als der Krieg aus war, und ich war bei 13, eigentlich sogar bei 8 Jahren stehengeblieben. Das war eine ungeheuer lange Zeit, für mich war es wie ein ganzes Leben.

Sie gehörten zu der Gruppe, die Schindler und seine Frau bei Kriegsende aus dem Lager Brünnlitz rausgefahren haben. Welche Überlegungen standen dahinter und wie ging diese Aktion vor sich?

Bei Kriegsende standen die Russen ca. 20 km vor Brünnlitz. Die älteren Menschen aus dem Lager haben deshalb beschlossen, daß Oskar Schindler und seine Frau nicht im Lager bleiben durften, denn wenn man ihn schnappen würde, würde man nicht glauben, was er für uns getan hatte. Schließlich war er Parteimitglied und Deutscher. Also haben wir – wir haben zu siebt in der Garage gearbeitet – beschlossen, ihn rauszufahren und in ein amerikanisch besetztes Gebiet zu bringen. So sind wir am 8. Mai mit einem Privatauto und einem Lastwagen losgefahren: sechs aus der Werkstatt, noch einer, der nicht bei uns gearbeitet hatte, Schindler und seine Frau, seine Sekretärin und noch eine Freundin von ihm. In Bratislawa standen schon die Russen, und sie haben uns die Wagen abgenommen. Wir sind dann noch drei Tage durch den böhmischen Wald bis zur österreichischen Grenze gelaufen, bis wir zu den Amerikanern kamen.

Die ganze Zeit ist diese Gruppe mit Oskar und Emilie Schindler unterwegs gewesen?

Ja, und so sind wir zu den Amerikanern gegangen. Als wir dort ankamen, war Schindler genauso arm wie wir alle. Er hatte auch einen gestreiften Anzug an, den wir ihm gegeben hatten, und besaß keinen Pfennig. Wir haben erzählt, wer wir sind und einen Brief vorgelegt, den die Älteren aufgesetzt und in dem sie beschrieben hatten, wer Oskar Schindler war.

Es kam dann ein Feldrabbiner, wir wurden mit Essen versorgt und ärztlich untersucht. Ich glaube, ich habe damals 26 kg gewogen. Hunger hatte ich, aber ich durfte nur langsam anfangen, wieder zu essen. Die amerikanische Behörde hat uns einen Bus gegeben, und wir sind damit nach Konstanz am Bodensee gefahren, das französisch besetzt war. Wir wollten weiter in die Schweiz, denn in Deutschland hatten wir Angst um Schindler. Wir sind aber nicht über die offizielle Grenze gegangen, denn wir dachten, was kann uns schon nach fünf Jahren Konzentrationslager passieren? Man hat uns aber geschnappt und nach Deutschland zurückgeschoben. Die Schweizer Polizei war wirklich unangenehm und hat sich dabei aufgeführt wie die Gestapo. Wir sind dann in Konstanz am Bodensee ins deutsche Gefängnis gekommen. Die Besatzung war zwar französisch, aber im Gefängnis gab es nur deutsche Wachleute. Man hielt uns für Kriminelle. Nach ein paar Tagen im Gefängnis kam ein Franzose, der zunächst auch glaubte, wir seien Kriminelle, Spione. Wir haben erzählt, daß wir Juden aus einem Konzentrationslager seien. Daß Oskar Schindler Deutscher war, haben wir verschwiegen. Wir fanden, daß wir ihm helfen mußten, so wie er uns geholfen hatte. Er hatte nicht nur unser Leben gerettet, sondern auch unsere Seelen. Er hat gezeigt, daß er ein guter Mensch war und daß man noch jemandem trauen konnte.

Hatten Sie außer Ihren Eltern noch andere Familienmitglieder?

Sie sind alle gestorben. Nur ich und meine zwei Schwestern, die ich nach dem Krieg wiedergetroffen habe, haben überlebt. Sie waren in Auschwitz gewesen. Ich bin nach dem Krieg zweimal schwarz nach Polen gefahren. Ich hatte noch die Hoffnung, daß vielleicht meine Eltern in einem anderen Lager überlebt hätten. Es war ein schreckliches Durcheinander. Alle suchten irgendwelche Familienmitglieder. Ich bin zwei, drei Tage durch Krakau gelaufen, bis ich meine beiden Schwestern gefunden habe. Ich war inoffiziell in Polen, denn wer offiziell reinkam, konnte das Land nicht wieder verlassen. Die Russen haben niemanden rausgelassen. Mit Hilfe einer Bekannten beim Roten Kreuz in Wien habe ich damals einen kleinen Transport organisiert und meine Schwester und noch ca. 30 andere Personen, die alle aus Polen rauswollten, über die Grenze gebracht. Dafür bekam ich von dieser Bekannten eine Liste mit falschen Dokumenten, laut derer es sich dann offiziell um eine Gruppe von 30 Deutschen handelte, die nach Deutschland deportiert werden sollten. So sind wir in einem Viehwagen über die Grenze gefahren. Meine andere Schwester blieb noch in Polen, um Familienangehörige zu suchen. Drei Monate später bin ich wieder schwarz nach Polen gefahren und habe 70 Personen – die meisten waren Überlebende aus den Lagern – rausgeschmuggelt. Es waren auch zwei jüdische Offiziere dabei, die von der russischen Armee desertiert waren und gesucht wurden. Diesmal kam auch meine zweite Schwester mit. Wir sind wieder mit falschen Papieren über die Grenze gefahren, und ein großer Teil der Gruppe ist bis 1946 in Konstanz am Bodensee geblieben.

Ich war also zweimal nach dem Krieg in Polen und jedesmal, um Juden herauszuholen. Nie wieder werde ich nach Polen zurückfahren, denn für mich sind die Polen ärger als irgendwelche anderen. Sie waren schon vor dem Krieg antisemitischer als die Deutschen. Als in Deutschland von Antisemitismus noch gar nicht gesprochen wurde, sah es in Polen schon ganz anders aus. Ich hasse die Polen als Antisemiten. Sie hätten viel mehr tun können, um Juden zu retten, denn sie befanden sich in einer viel besseren Lage. Sie haben sie sogar während des Krieges angezeigt. Wenn jemand Juden versteckt hat, dann für schweres Geld und auch nur solange sie zahlen konnten. Wenn das Geld alle war, wurden sie bei der Gestapo angezeigt. Für mich sind die Polen immer noch barbaren, und ich wundere mich nicht, daß nach dem Krieg überlebende Juden nicht in Polen bleiben oder dorthin zurückkehren wollten. Wer heute dort lebt, lebt unter katholischem Namen.

Wie sind Sie dann von Deutschland nach Brasilien gekommen?

Da uns damals in Deutschland keiner so richtig geholfen hat – eine Regierung gab es ja nicht –, sind wir dann nach Paris gegangen, wo ich zwei oder drei Monate auf ein Visum nach Bolivien warten mußte. Nach Israel, das damals englisches Protektorat war, konnte man nicht. Es wurde niemand reingelassen. Amerika ging auch nicht, also blieb nur Südamerika. Brasilien aber gab nur denjenigen ein Visum, die bereits Angehörige im Land hatten, um sicherzugehen, daß man nicht auf Kosten des brasilianischen Staates leben würde. Zufällig hatten wir einen Bekannten in Bolivien, der für eine Gruppe von sechs Leuten die Garantie übernahm, sodaß wir ein Visum für Bolivien erhielten. Wir sind dann mit dem Schiff nach Rio de Janeiro gefahren, von dort aus sollten wir weiterreisen. Meine ältere Schwester ist weitergefahren nach Bolivien, und ich bin mit meiner jüngeren Schwester in Rio geblieben. Dort mußte ich meine Situation legalisieren, denn ich hatte ja nur ein Durchreisevisum. Für mich war also zwei Jahre nach Kriegsende noch immer alles sehr unsicher, es war gewissermaßen immer noch Krieg.

Ohne Sprache, ohne irgendjemanden zu kennen, ohne Familie war es nicht leicht für mich. Ich habe auch hier in Brasilien gehungert. Ich habe gehungert, hatte kein Dach über dem Kopf und mußte am Strand schlafen. Es war wirklich sehr schwer hier die erste Zeit, bis ich wenigstens die portugiesische Sprache gelernt hatte, um mich überhaupt unterhalten und arbeiten zu können. Das hat eine ganze Zeit gedauert, und meine Lage wurde ausgenutzt. Ich habe zunächst Arbeit als Automechaniker gesucht, denn das war ja das einzige, was ich jahrelang gemacht hatte. Ich wurde in einer Werkstatt angestellt, erhielt aber nur ein Viertel des normalen Lohns, denn ich war illegal und der Sprache nicht mächtig. Als ich dann Portugiesisch konnte, habe ich gekündigt, um mir was Neues zu suchen. Ich habe angefangen, auf portugiesisch zu lesen: Bücher, Zeitungen, Annoncen. Schließlich hatte ich eine Stelle als Verkäufer gefunden.

Haben Sie jemals erwogen, nach Deutschland zurückzugehen?

Anfangs ja, denn es war hier, wie gesagt, sehr schwer für mich. Vom deutschen Konsulat bekam ich keine Hilfe. Das war für mich ein Schock, denn ich fand das unrichtig. Ich habe immer gefunden, daß ich ein Deutscher bin. Ich bin in Berlin geboren und sollte nachweisen wo, aber als ich in Berlin war – ich war noch zweimal in Deutschland, 1960 und ’67 –, konnte ich nichts herausfinden. Ich weiß nicht, in welchem Krankenhaus ich geboren wurde. Ich war ja nur ein paar Tage dort und vielleicht noch zu jung, um mich daran erinnern zu können. Mein Sohn hat trotz zahlreicher Bemühungen, keinen deutschen Paß bekommen. Auch für ihn war das ein Schock, denn er hatte vorgehabt, in Deutschland zu studieren.

Das Problem war also, daß Sie nicht nachweisen konnten, deutscher Abstammung zu sein?

Ja. Mein Vater war kein Deutscher, und meine Mutter – ich weiß es nicht. Wir haben deutsch gesprochen. Es gab keinen Grund für mich zu fragen, was sie ist, woher sie kommt und welche Staatsangehörigkeit sie hat. Das war für mich als Kind völlig egal. Es waren einfach meine Mutter und mein Vater. Mein Vater war mit 18 nach Deutschland gegangen und hatte dort lange gelebt. Er fühlte sich nicht mehr als Pole und sprach auch kein Polnisch mehr. Für mich ist das alles nicht normal, und bis heute habe ich noch Wut, denn vielleicht wäre es ja ganz anders, wenn ich nach Deutschland hätte zurückgehen und dort neu anfangen können.

Nach dem Krieg mußte ich viel neu lernen, Mathematik usw., denn ich hatte ja zwischen 13 und 22 Jahren nicht zur Schule gehen können. Da ich kein Geld hatte, um zu studieren, mußte ich neben der Arbeit alleine lernen. Es war nicht leicht. Ich habe Bücher ausgeliehen oder alte Bücher gekauft und gelesen, gelesen und gelesen, manchmal ganze Nächte lang. Gott sei Dank komme ich mit drei, vier Stunden Schlaf aus. Das habe ich noch vom Lager, und so kann ich bis morgens drei Uhr lesen. Bis heute habe ich noch diese Manie. Ich habe mich mit allem möglichen beschäftigt, mit Spiritualismus, Yoga, afrobrasilianischen Religionen und auch den orientalischen, zu denen ich mich besonders hingezogen fühle. Sie sagen mir mehr als die anderen.

Und Ihr jüdischer Glaube?

Als Jude gehe ich zweimal im Jahr in die Synagoge. Ich gehöre hier zur Gemeinde Ari, deren Rabbiner ein Deutscher ist und die ursprünglich von den deutschen Juden gegründet wurde. Heute gehören auch einige Brasilianer dazu. Meine Kinder – ich habe zwei Burschen – wissen, daß sie Juden sind. Sie haben mit 13 Jahren Bar Mitzwa gemacht. Der jüngere hat Marketing studiert und ist, weil er hier keine guten Arbeitsaussichten hatte, nach Israel gegangen. Nach Deutschland konnte er ja nicht. Der andere arbeitet als Ökonom hier in Brasilien. Auch er wollte eigentlich nach Deutschland.

In den letzten Jahren gab es ein Wiederaufflammen des Rassismus in Deutschland. Auch die brasilianischen Medien haben darüber berichtet. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie solche Nachrichten lesen?

Die Immigranten haben in Deutschland nach dem Krieg – da gab es ja nur noch wenig Menschen – angefangen zu arbeiten. Wenn nicht die Arbeiter aus Jugoslawien, Portugal und ich weiß nicht woher gekommen wären, wie hätte sich Deutschland wiederaufgerichtet? Rassismus gibt es auch hier in Brasilien. Es wird gesagt, die Menschen aus dem Nordosten seien eine Unterrasse. Aber wenn es die Arbeiter aus dem Nordosten nicht gäbe, gäbe es kein São Paulo, kein Rio de Janeiro, in Deutschland gibt es denselben Haß auf die Immigranten, in Frankreich auch.

Ich hätte viele Motive gehabt zu hassen. Aber ich weiß nicht warum, ich habe nach dem Krieg nie etwas gespürt. Ich habe auf keinen Menschen Haß, auch nicht auf die Deutschen. Ich kann mir nur nicht erklären, wie Menschen sich so ändern, wie sie einen solchen Mordbefehl annehmen können. Wenn jemand im Streit einen anderen umbringt, um sein eigenes Leben zu retten, oder im Krieg, selbst wenn es ein idiotischer Krieg ist, das verstehe ich. Aber daß jemand so ganz einfach seinen Revolver rausnimmt, um einen Juden, einen russischen, französischen Gefangenen oder einen Zigeuner aus Ungarn zu erschießen, das war für mich ein Schock, und das kann ich bis heute nicht verstehen.

Ich kann auch nicht verstehen, daß es heute im 20. Jahrhundert nach solch einem Krieg noch weiter Krieg gibt, daß es Haß wegen religiöser Differenzen gibt oder weil einer Moslem, Schwarzer oder Weißer ist oder Spiritualist oder Katholik. Für mich sind alle Menschen, ob sie nun aus dem Nordosten Brasiliens oder aus dem Süden kommen. Aber was ich sehe, ist, daß wir immer wieder zurückfallen in die Geschichte und so leben wie vor 2000 Jahren. Die Menschheit ist noch nicht aufgewacht.

Haben Sie heute noch Kontakt zu anderen überlebenden Schindlerjuden?

Ja, in Israel und in Amerika. Manchmal schreiben wir uns oder telefonieren miteinander. Oder man trifft sich. Jeder hat seine eigenen Probleme, das Leben geht weiter, aber wir haben Verbindung miteinander. Hier in Brasilien sind wir noch zwei. Hergekommen sind wir zu siebt: Fünf davon waren von der Liste, die anderen waren Bekannte aus den Lagern.

Haben Sie in irgendeiner Form zu dem Buch „Schindlers Liste“ von Thomas Keneally oder dem Film beigetragen? Sind Sie befragt worden?

Beim Film, ja. Ich wurde von Steven Spielberg nach Jerusalem eingeladen, wo er die Schlußszene seines Films gedreht hat.[fn]In der Schlußszene am Grab Oskar Schindlers in Jerusalem treten die Überlebenden von Schindlers Liste sowie die Schauspieler, von denen sie im Film dargestellt werden, gemeinsam auf und legen nach jüdischem Brauch jeweils einen Stein auf die Grabplatte.[/fn] Oskar Schindler wurde dort auf dem katholischen Friedhof begraben. Seine Frau, Emilie Schindler, ist auch dorthin gekommen so wie ungefähr hundert Personen, die von Schindlers Liste übriggeblieben sind.

Wie beurteilen Sie den Film?

Ich finde den Film phantastisch. Spielberg zeigt die Wirklichkeit, ja die Wirklichkeit war sogar noch schlimmer, denn tagtäglich passierten so viele Greueltaten, daß ein Film das gar nicht alles zeigen kann. Ich habe schon viele Filme über die damaligen Geschehnisse gesehen, aber Steven Spielberg ist es besonders gut gelungen, die Realität wiederzugeben. Sicherlich mußte er auch ein bißchen dichten, aber die Personen und wie sie waren – auch Oskar Schindler – sind gut dargestellt.

Der Film ist ja nun fast 50 Jahre nach den Ereignissen gemacht worden. War es für Sie immer einfach, nach so langer Zeit wieder damit konfrontiert zu werden?

Nein. Als hier in Rio die Vorpremiere war im Studio der Republic Pictures Corporation, war ich anfangs von den Gesichtern der Schauspieler befremdet, sie waren eben anders. Nach ein paar Minuten aber hat sich das geändert, denn sie haben sehr gut gespielt. Ich habe dann wirklich Schindler gesehen. Es gibt Szenen, wo ich mich gesehen habe. Ich mußte zweimal für ein paar Minuten aus der Vorstellung rausgehen, weil ich es nicht aushalten konnte. Es war zu schwer. So ging es mir auch in Israel. Ich habe mir dort im Museum die Bilder und Filme vom Krieg, von den Ghettos und den Lagern angesehen. Als ich so durchs Museum streifte, habe ich plötzlich ein Bild vom Tor des Krakauer Ghettos entdeckt. Es sitzt ein kleiner, magerer, hungriger Bursche daneben. Mit einem Mal habe ich mich da gesehen, und ich habe angefangen zu weinen. Ich konnte es nicht aushalten, bin aus dem Museum rausgelaufen und hatte dann keinen Mut mehr, wieder hineinzugehen. Beim Film war es auch so. Zweimal mußte ich rausgehen, einmal bei der Szene, wo die Aussiedlungen aus dem Ghetto gezeigt werden. Da habe ich meine Mutter gesehen und meinen Vater, und das war ein bißchen zu viel für mich. So hart ich auch sein mag, ich habe ein weiches Herz.

Konnten Sie immer über Ihre Erlebnisse reden?

Nein. Gott sei Dank habe ich keine Neurose bekommen. Es ist wie eine Dusche für mich. Ich habe geduscht, habe mich abgewischt und bin wieder sauber. Sicher hat die Zeit einen Einfluß auf mich gehabt. Was ich heute bin, wäre ich nicht in einer normalen Situation geworden. Ich habe viel verloren. Der Krieg hat mir die besten Jahre geraubt, von 13 bis 20. Das war die Zeit, wo ich etwas für mich getan hätte, gelernt, studiert. Zehn Jahre habe ich verloren, in denen ich nichts werden und mich auch nicht finden konnte. Aber ich kann ruhig darüber reden, auch wenn es Szenen gibt … nun, ich bin sentimental. Ich habe aber keinen Haß. Ich schlafe gut. Ich träume normalerweise nicht vom Krieg, höchstens mal, wenn ich gerade den Film gesehen habe.

Was machen Sie heute beruflich?

Heute arbeite ich mit pharmazeutisch-chemischen Produkten. Ich habe ein kleines Labor am Rande Rio de Janeiros. Ich bin kein Diplomchemiker, ich hatte keine Zeit und keine Möglichkeit zu studieren und mußte es in der Praxis lernen. Das will in Deutschland keiner anerkennen. Sie haben wirklich einen großen Schaden angerichtet, haben einen Burschen von sieben Jahren genommen, der nichts lernen konnte und nur durch Zufall überlebt hat, während Millionen gestorben sind. Vielleicht gibt es einen Gott da oben, der gesagt hat: ja, Leopold will leben. Vielleicht war es so. Ich habe meine Philosophie. Ich mag die Menschen und ich hoffe, daß sie sich noch einmal ändern werden.

Als was fühlen Sie sich heute? Als Brasilianer, Deutscher?

Als Brasilianer. Ich lese, schreibe und spreche fließend Portugiesisch. Ich mag dieses Land hier, vor allem seitdem ich zwei Kinder habe, die hier groß geworden sind. Ich mag die Brasilianer. Für sie waren damals, als ich herkam, alle, die nicht hier geboren waren, Gringos, ob es Juden, Araber, Engländer oder Deutsche sind. Ob einer Spiritualist ist, Katholik oder Jude, darum haben sich die Brasilianer nicht gekümmert. Heute ist das anders, und es gibt hier und da antisemitische Tendenzen. Ich persönlich bin aber nie antisemitischen Äußerungen begegnet oder bedroht worden. Ich habe sehr gute brasilianische Freunde. Wegen des Akzents, mit dem ich immer noch spreche, nennt man mich den Alemão. Mich hat aber nie einer nach meiner Religion gefragt.