An dieser Stelle sollte mein Beitrag über García Márquez stehen. Aber leider ist etwas schief gegangen. Denn – wie ich deprimiert feststellte – über diesen Mann ist bereits alles gesagt worden, alle Feuerwerke sind abgebrannt, alle holden Lobeshymnen intoniert, alle akademischen Tiefsinnigkeiten niedergeschrieben. Das einzig Vernünftige also, was mir in einem solchen Fall noch übrig blieb, war, das leere Blatt Papier (man ist altmodisch und schreibt noch auf Papier) zerknüllt auf dem Schreibtisch liegen zu lassen und unruhigen Gewissens ein Bier an der Ecke trinken zu gehen, oder zwei oder drei, um dort am freundlichen Ufer des Nichtstuns allein mit mir ein paar Dinge in Erinnerung zu bringen, die man nicht mehr zu schreiben braucht, weil eben alles über das Geburtstagskind schon gesagt worden ist. Mich an jenen fernen Nachmittag zu erinnern, zum Beispiel, an dem er mich zusammen mit dem Oberst Aureliano Buendía mitgenommen hat, um „das Eis“ und eine ganz andere Welt kennen zu lernen. Eine Welt, die, wie sich später herausstellte, keine andere, sondern dieselbe alte war, nur durch das kaleidoskopische Auge eines magischen Erzählers gesehen. Dieser Wundererzähler hieß Gabriel García Márquez und jene andere Welt „Hundert Jahre Einsamkeit“.
Beim ersten Bier denkt man vielleicht auch en passant daran, dass der große Zauberer der lateinamerikanischen Literatur am Sonntag, dem 6. März 1927, um 8.30 Uhr in Aracataca blau zur Welt kam, halb stranguliert durch die eigene Nabelschnur. Dieses erste Grunderlebnis ist Anlass genug für die Klaustrophobie gewesen, die ihn, zusammen mit der panischen Angst vorm Fliegen, sein Leben lang als treueste Gefährtin begleitet hat. Bevor Aracataca zum sagenhaften Macondo wurde, war es eines der vielen Bananendörfer an der karibischen Küste Kolumbiens und eine der üblichen Exklaven der US-amerikanischen United Fruit Company, die in jener Zeit in beinahe allen Ländern Mittelamerikas und der Karibik als Staat im Staate agierte. Das Kind, das später der García Márquez werden sollte, bewahrte in seinem Innersten die vage, düstere Erinnerung an seinen Geburtsort und die intakten wie „zerbrochenen Spiegel der Erinnerungen“ seiner Großeltern und Tanten, an deren Seite er die ersten sieben oder acht Jahre seines Lebens verbrachte. Nichts von all dem wird García Márquez später beim Brüten über den eigenen Geschichten verschmäht oder außer acht gelassen haben, freilich nicht ohne dabei die Dämonen der eigenen Phantasie dazu zu befragen.
Beim zweiten Bier gerät man unweigerlich ins stöhnende, ja pathetische Grübeln über die Einsamkeit. Nicht die der Liebeskümmernisse oder des literarischen Papiers, sondern jene, worauf uns der stets warnende García Márquez mit dem regenbogenfarbenen Zeigefinger aller seiner Fiktionen aufmerksam macht: die Einsamkeit als das absolute Gegenteil zur menschlichen Solidarität. Doch werden in den vielen Gratulationen voll guter Wünsche, die das wundersamste Geburtstagskind Lateinamerikas an seinem 80. Ehrentag aus aller Munde und in allen Sprachen zu hören bekommen wird, keine der von ihm sein Leben lang erträumten, fröhlichen Botschaften über einen „gerechten Frieden“ und über eine wahre Nächstenliebe einen Platz finden. Die Realität bestraft diese Utopien des Phantasten mit Hohn: Wie in den vergangenen, so stehen auch in den nächsten Jahren die Chancen des Menschen auf Menschlichkeit schlecht. Die uns pünktlich zum Abendbrot servierten Nachrichten lassen nicht selten die erbarmungslosen Albträume des Johannes auf Patmos wie blasse Sittenbilder einer Zeit erscheinen, die wir die unsere nennen. Unter diesen niedrigen Umständen ist die fatale Anziehungskraft der Hoffnungslosigkeit manches Mal stärker als „die Schönheit der gelben Rosen“. Aber Trübsal blasen an des Meisters Geburtstag wäre ja ein Unding.
Man bestellt also ein drittes Bier und blättert im Kopf gemächlich in seinen Büchern weiter. Und ein milder, nach Guayaba und Morgengrau riechender Wind weht die düsteren Gedanken sacht fort. Natürlich können dieselben Seiten ein anderes Mal auch nach Scheiße und ewiger Verdammnis riechen, schließlich sind das „Spiegelbild und Spiegelung“ Lateinamerikas. Für eine Weile bleibt man da noch beim vorletzten Bier, und obwohl alles über ihn bereits mehrmals gesagt worden ist, versucht man trotzig ein gediegenes Dankeswort für den Meister zu finden. Eines wie dieses, zum Beispiel: „Und in jener Zeit / kam die Geburtsstunde eines Vulkans, / eines Bergs, der Feuer spie; / genau gesagt spie der Vulkan / nicht Feuer, sondern Träume / an den Hängen von Kolumbien; / seinem magischen Mund entströmten / die Märchen aus tausendundeiner Nacht, / die große Eruption meiner Zeit: / In den Erfindungen aus Ton, / schmutzig von Lava und Lehm, / wurden zu ewigem Leben erweckt / viele Menschen aus Fleisch und Blut.“ Schade nur, dass dies zuerst Pablo Neruda eingefallen ist, nachdem er „Hundert Jahre Einsamkeit“ gelesen hat. In Wirklichkeit ist das Einzige, was einem einfällt, die besorgte Frage an den Meister, wann sein nächstes Buch endlich da sein wird.