Dieses Jahr begann mein Aufenthalt in Oaxaca am Freitag, dem 13. Oktober. In der Stadt herrscht relative Ruhe. Noch! Auf dem Weg ins Zentrum Barrikaden: Steine, Holzbalken, Maschendraht, Wellblechstücke, aber alles zur Seite geräumt, wir können problemlos passieren. „No te preocupes, mach dir keine Sorgen!“, sagt meine Freundin. Ab 21 Uhr solle ich allerdings besser nicht mehr auf der Straße sein, dann würden die Barrikaden von der APPO wieder aufgebaut und bewacht. „Dann muss man vorsichtig sein. Die Pistoleros von Ulisses (Gouverneur Ulisses Ruiz Ortiz, URO) haben schon einige Barrikaden beschossen.“
Noch von Deutschland aus habe ich gefragt: Soll ich kommen? Werde ich überhaupt den Postgraduiertenkurs abhalten können? Ist es nicht zu gefährlich? „Kein Problem“, die Antwort, „für dich als Ausländerin erst recht nicht“, und: „Gerade für eine Anthropologin sind die gegenwärtigen sozialen Prozesse doch besonders interessant,“ Als dann Brad Will von Indymedia am 27. Oktober von Ulisses-Leuten ermordet wird, gerade weil er Ausländer ist, und als die Eingreiftruppe PFP der Bundespolizei zwei Tage später in Oaxaca einrückt, schlägt die Sorge um mich hohe Wogen, und ich lasse mich aus meiner Bleibe im Zentrum herausholen, nachdem ich so manche Nacht nicht schlafen konnte, weil die Böller, mit denen sich die Barrikaden gegenseitig über Gefahren informieren, nicht mehr aufhörten. Oder waren es doch Gewehrschüsse? Der Gedanke, das Heer rückt jetzt tatsächlich ein, ließ mich keine Ruhe finden. Im magischen Mexiko der Zeichen und Vorhersagen begann ich meinen Ankunftstag als Orakelspruch zu lesen.
In meinen ersten Tagen im Stadtzentrum war ich erstaunt über die gleichbleibende Geschäftigkeit und scheinbare Normalität. Der Zócalo vor dem Regierungspalast war zwar voller Informationsstände und unter großen Plastikplanen sitzen, liegen, kochen, essen die zahlreichen Gruppen demonstrierender BesetzerInnen, aber die Atmosphäre ist friedlich. Wie sonst auch gibt es Stände mit Kunsthandwerk, aber dieses Jahr keine Touristen, die die schönen Dinge kaufen. Vielleicht erscheint mir die Atmosphäre auch deshalb so friedlich, weil der Verkaufs- und Konsumrummel fehlt. Die Oaxaqueñ@s sind unter sich, gehen, ganz indianisch, respektvoll-herzlich miteinander um, ohne Hetze, nach ihrem Zeitmaß. Mir fällt auf, wie sauber die Straßen im Zentrum sind, obwohl die öffentlichen Dienste weitgehend eingestellt sind. Nirgends ist Polizei zu sehen. Große Stoffbahnen über den Straßen verkünden, dass die Nachbarschaft hier gemeinsam gegen Einbruch und Raub Wache hält.
Ich hatte geglaubt, die Räumung des Zócalo am 14. Juni sei der Auslöser für die Bildung des breiten Bündnisses der APPO (Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca) gewesen, worauf die LehrerInnen den Platz zurückeroberten und die Bevölkerung ihnen zu Hilfe kam. Die Regierung hatte wohl gehofft, durch Repression noch stoppen zu können, was nicht mehr aufzuhalten war. Längst hatten sich die Studierenden dem Protest angeschlossen, die Intellektuellen und Kulturschaffenden, die Leute aus den barrios und den colonias, den Siedlungen der schlecht bezahlten ArbeiterInnen und gering Verdienenden.
„Fuera Ulisses de Oaxaca“ oder „URO fuera“ (Ulisses/Uro raus) prangt an allen Mauern. Er hatte Millionen der öffentlichen Hand geraubt und in den Wahlkampf des in Korruption und Drogenhandel verstrickten PRI-Präsidentschaftskandidaten Madrazo gesteckt. Um die Zementbarone als Geldgeber zu gewinnen, ließ er unsinnige Bauten errichten und Teile der historischen Altstadt zerstören. Auf dem Zócalo wurden jahrhundertealte Lorbeerbäume gefällt und die wunderbaren Sandsteinplatten herausgebrochen, die für Oaxaca so typisch sind. Dafür unterblieben notwendige Maßnahmen in den colonias, wo Kanalisation, Trinkwasser und Straßen fehlen, von den Dörfern ganz zu schweigen. „Un típico macho priista prepotente“, einen typischen präpotenten PRI-Macho nennen ihn die Leute.
Aber die Präpotenz von URO ist allenfalls ein Auslöser, nicht jedoch die Ursache des Volksaufstandes. Vielmehr sind die Menschen in Oaxaca des Klientelismus überdrüssig, und diesen Stil der politischen Machtausübung verkörpert Ulisses in geballter Form. Vor allem öffentliche Gelder werden nach dem Prinzip der Begünstigungen verteilt, Gefolgschaft mit Gunstbezeugungen honoriert. Ein Politiker ist umso mächtiger, je größer seine klientelistische Gefolgschaft, und diese wiederum umso größer, je geschickter er kleinere GefolgschaftsführerInnen mit deren entsprechender Klientel an sich binden kann. Klientelismus war der Politikstil par excellence der alten PRI (Revolutionäre Institutionelle Partei), auch caziquismo genannt, nach der aztekischen Bezeichnung für die lokalen Herrschenden.
In den letzten beiden Jahrzehnten ist das bis dahin 50 Jahre währende Einheitsparteisystem sukzessive von einem Mehrparteiensystem abgelöst worden. Insofern mag es paradox erscheinen, dass ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt den Völkern von Oaxaca der Geduldsfaden reißt, sie sozusagen einen Sterbenden begraben, dessen Siechtum ihn sowieso ins Grab gebracht hätte. Aber der vermeintliche Widersinn ist keiner. Tatsächlich hat das neue Mehrparteiensystem, nicht nur in Oaxaca, sondern in ganz Mexiko, das Problem des Klientelismus keineswegs abgeschafft, sondern verschärft und vervielfacht. Früher wurden die Gefolgschaftskämpfe innerhalb der PRI abgewickelt, nun handeln mindestens drei Parteien (PAN, PRI, PRD) nach demselben Muster. Mehr denn je werden die Folgen des Klientelismus fühlbar und sichtbar, so in der Zerstörung der Gemeinschaftsgüter (Umwelt, Landbesitz, Infrastruktur, Schule/ Bildung usw.) und des Gemeinschaftssinns.
Mir kommt in den Sinn, dass neoliberale Politik eigentlich nichts anderes als Kientelpolitik ist, überall, nicht nur in Mexiko. Hier aber hat die Begünstigung großer und immer größer werdender Unternehmen relativ abrupt den wirtschaftlichen Perspektiven der kleinen Leute einen heftigen Schlag versetzt. Die Nivellierung des Agrarreformgesetzes, die 1989/90 den gesetzlichen Schutz für den kommunalen und ejidalen Landbesitz aufhob und damit den relativen Schutz der kleinen Produktionseinheiten aufkündigte, ebenso wie der Gemeinsame Markt von USA, Mexiko und Kanada (NAFTA) seit 1994, gefährdete und zerstörte zwei uralte, erprobte, existenzsichernde Institutionen der mexikanischen Gesellschaft: die campesin@s (Kleinbauern/-bäuerinnen und die lokalen Marktsysteme des tianguis – des lokalen Wochenmarktes.
Diese strukturellen und konjunkturellen Prozesse führten in Oaxaca zum Volksaufstand und der Bildung der APPO. Ihr Name, Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca – Volksversammlung der „Völker“ Oaxacas, signalisiert zwei wichtige Ziele des Zusammenschlusses. Volksversammlung will heißen, dass man dem Parteiensystem die Lösung von Gemeinschaftaufgaben nicht mehr zutraut. Entsprechend hat die APPO bei ihrer formalen Konstituierung Anfang November nochmals explizit beschlossen, keine Beteiligung ihrer VertreterInnen innerhalb der Parteien zuzulassen. Versammlung der „Völker“ Oaxacas signalisiert zweitens, dass die zahlreichen verschiedenen pueblos indios von Oaxaca in diesem Rahmen ihre Stimme erheben. Zu Anfang bezeichnete pueblos de Oaxaca die neuen Ansiedlungen der ImmigrantInnen vom Land rund um Oaxaca-Stadt, die so genannten colonias. Da sich hier aber viele indigene ZuwanderInnen versammeln, war der Schritt zur zweiten Bedeutung des Wortes pueblos, d.h. der Einschluss der verschiedenen Ethnien des Bundestaates, nicht schwierig. Nach dem Beispiel der Bundeshauptstadt haben verschiedene indigene Gemeinden ihre PRI-Admistrationen abgesetzt, manche sogar versucht, sie durch VolksvertreterInnen zu ersetzen, die dem Gemeinwohl verpflichtet sind.
Es ist ferner wichtig, auf eine andere historische Erfahrung der pueblos indios von Oaxaca hinzuweisen, die einen weiteren Hinter-Grund für den Volksaufstand abgibt. Viele Indi@s suchen, angesichts der schlechten Lebensperspektiven auf dem Land, Arbeit in den USA. Ganze Dörfer in der Sierra können überhaupt erst dank der Geldüberweisungen der MigrantInnen überdauern. Die Erfahrungen der Migration und die Chance, auf diese Weise bestehen zu können, haben das Vertrauen in die eigenen Kräfte der pueblos indios gestärkt. Zu den eigenen Kräften gehört zweifelsfrei der große Schatz an basisdemokratischen Institutionen, eine Tradition, die vom Klientelismus nie ganz zerstört worden ist. Eben dieses Wissen bringen die pueblos indios, nun sozusagen modern gestärkt, in die APPO ein, und ihre städtischen compañer@s sind sich dieses Wertes durchaus bewusst.
Wie so oft fehlt der immer gleiche, bittere Wermutstropfen in dieser basisdemokratischen Entwicklung nicht. Viele, wenn auch bei weitem nicht alle Völker Oaxacas sind extrem patriarchalisch organisiert. So empfinden viele Frauen es als störend und Misstrauen erweckend, dass die APPO sich bei ihrem konstituierenden Kongress nicht darauf einigen konnte, dass Frauen und Männer in den höheren Gremien gleich vertreten sind, laut Beschluss ist das Verhältnis 30 zu 70. Das ist umso verstörender und lässt für die Zukunft der APPO nichts Gutes erwarten, da die soziale Bewegung und der Volksaufstand mindestens so sehr von Frauen getragen wird wie von Männern, wenn nicht mehr. Die Mehrheit der LehrerInnenschaft, die die Bewegung begonnen hat, sind Lehrerinnen. Ein weiterer entscheidender Aspekt des Erfolges der Bewegung ist den Frauen zu verdanken: Am 1. August ziehen 15 000 Frauen, vom Schwung und Lärm der Demonstration der Töpfe getragen, zum lokalen Fernsehsender, erobern ihn und senden bis zur Zerstörung der Anlagen durch UROs Pistoleros am 21. August, als „Radio Caserola – Radio der Töpfe“.
Heute, am Samstag, den 25. November, während ich dies schreibe, erleidet Oaxaca eine der schlimmsten Straßenschlachten der neuesten Geschichte. Noch gegen 17 Uhr kehrten Freundinnen von der erneuten Megamarcha zurück und berichteten stolz von der unübersehbaren Menschenmenge und wie der Plan der APPO aufgegangen sei. Sie hätten die PFP auf dem Zócalo eingekreist, sie sozusagen die gleiche Belagerung fühlen lassen, wie Oaxaca sie von Seiten der PFP seit Wochen erleidet, ohne dass man sich zu gewalttätigen Übergriffen habe hinreißen lassen. Eine halbe Stunde später höre ich Schüsse, Salven von Tränengaspatronen, endlos. Inzwischen weiß ich, dass die PFP-Männer zuerst angegriffen haben. Sie konnten die Sprechchöre, die sie von allen Seiten „einkreisten“, nicht mehr ertragen und fingen an mit Tränengas zu schießen, diesmal anscheinend mit einer besonderen Mischung, die Atemlähmungen und Erbrechen zur Folge hat. Molotowcocktails, Steine usw. waren die Antwort. Schließlich verfolgen die Polizisten die Fliehenden bis zum jetzigen plantón vor Santo Domingo, zerstören Zelte und Stände und verfolgen die Menschen sogar bis in die barrios und colonias. Das hatte es bislang noch nicht gegeben.
Spannung, Angst und Empörung breiten sich in der ganzen Stadt aus. URO sagt später in den Medien, dies seien nur die letzten Nachwirkungen einer ansonsten zur Normalität zurückkehrenden Stadt. „Está loco, der ist verrückt“, sagen die Oaxaqueñas.