Die Auserwählten

Wir kennen sie doch alle. Hits wie „Corazón“ von Maluma oder „Mi Gente“ von J. Balvin und Willy William. Mittlerweile ist Reggaetón international kommerziell derart erfolgreich, dass es sogar in Deutschland ganze Partyreihen gibt, die ausschließlich Reggaetón spielen und Megastars wie Beyoncé sich auf Kooperationen mit Musikern des Genres einlassen.

Doch wie sah die Welt des Reggaetón noch vor 14 Jahren aus, als dieser Musikstil begann, international erfolgreich zu werden? Wen diese Frage interessiert, der sollte sich die Dokumentation „The chosen few: El Documental“ ansehen. Sie stammt aus dem Jahre 2004 und beleuchtet die Hintergründe und Anfänge des Reggaetón. Produzent des Ganzen ist Manuel Alejandro Ruiz, besser bekannt als Boy Wonder. Er wurde für seine musikalische Arbeit mit mehrfachem Platinstatus ausgezeichnet und arbeitete mit Künstlern wie Daddy Yankee oder Pitbull zusammen. Die Dokumentation ist allerdings seine erste professionelle Begegnung mit dem Genre.

Zunächst muss gesagt werden, dass die Dokumentation mit über 90 Minuten Laufzeit recht lang ist und die Interviews von einem ständig gleichen Beat begleitet werden, was mit der Zeit etwas anstrengend sein kann. In der Doku werden zahlreiche Künstler*innen und Produzenten interviewt, die sehr erfolgreich und international bekannt sind, unter anderem Daddy Yankee, Fat Joe, Pitbull, Tego Calderón und Don Omar. Doch die Welt des Reggaetón ist riesig und es kommen auch Musiker*innen und Produzenten zu Wort, die hierzulande eher unbekannt sind. Die Gespräche kreisen sowohl um die Themen des Reggaetón, aber auch um Startschwierigkeiten, Erfolge und individuelle Erfahrungen in der Szene. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Dokumentation aus dem Jahre 2004 stammt, einer Zeit also, in der Reggaetón zwar international bekannt wurde, in Deutschland jedoch noch nicht solche kommerziellen Erfolge wie heute feierte. Zwar wurden Hits wie „Gasolina“ von Daddy Yankee (aus dem Jahr 2003) auch hier bekannt, doch war dies eher die Ausnahme. Zu dem Zeitpunkt liefen noch keine Reggaetón-Lieder in Dauerschleife im Radio, wie es heute der Fall ist.

Der Stolz auf den beginnenden internationalen Erfolg wird in den Interviews deutlich: Musik verbinde schließlich die Menschen auf der ganzen Welt und Leute, die sich zuvor niemals für seine Musik begeistert hätten, würden ihn nun hören, so zum Beispiel Tego Calderón. Doch man war sich des Erfolges nicht von Anfang gewiss: Viele Produzenten wollten Reggaetón zunächst keine Chance geben.

Wer sich die Dokumentation anschaut, merkt schnell, dass die Musikrichtung ein verbindendes Glied zwischen Zentralamerika beziehungsweise der Karibik und den USA ist. Das Lied „Oye mi Canto“ von N.O.R.E., Nina Sky und Tego Calderón ist dafür ein gutes Beispiel. N.O.R.E. singt auf Englisch „If you’re proud to be a Latino right now, stand the fuck up“, oder „No matter your Race you know you are a Latino“. Reggaetón ist die spezifische musikalische Ausdrucksweise der lateinamerikanischen Welt, so wie es der Hiphop für die US-Amerikaner*innen ist. Gleichzeitig spricht Reggaetón die Sprache der Straße und der Jugend und ist nicht zuletzt deswegen so erfolgreich. Obwohl Reggaetón in Deutschland mit Partys, Sonne und guter Laune in Verbindung gebracht wird, hat das Genre durchaus einen ernsten Hintergrund und behandelt auch Themen wie Gewalt und Drogen. Dass es dabei keine Rolle spielt, ob man in den USA oder in Lateinamerika aufgewachsen ist, zeigen Beispiele wie Fat Joe oder Boy Wonder. Beide sind in New York geboren und trotzdem erfolgreiche Reggaetón-Künstler.

Sehr auffällig ist die Unterrepräsentation von Frauen im Genre. Ruiz lässt Künstlerinnen zu Wort kommen, die genau dieses Problem ansprechen. Sie sind alle der Meinung, dass das Geschlecht für Chancen und Erfolg keine Rolle spielen sollte, wissen jedoch, dass es trotzdem so ist. Die Künstlerinnen sind sich ihrer Vorbildfunktion für junge Frauen bewusst und wollen, dass diese wissen, dass ihre Messages wichtiger sind als ihr Körper. In diesem Zusammenhang ist es sehr schade, dass sich keine männlichen Kollegen oder Produzenten zu dem Thema äußern und deshalb die männliche Sicht auf die Dinge nicht offengelegt wird.

Als „Laie“ bekommt man sofort den Eindruck, dass Reggaetón den lateinamerikanischen Menschen einen neuen Stolz gibt: darauf, dass durch ihre Musik Menschen miteinander verbunden und dass positive Assoziationen mit Südamerika hervorgerufen werden. Was am Ende natürlich nicht fehlen darf, sind Lebensweisheiten der portraitierten Künstler*innen. Man solle nicht jedem vertrauen. Geld und Statussymbole seien am Ende nicht wichtig, man solle sich nicht davon blenden lassen.

Die Dokumentation ist sehr ausführlich und setzt sich intensiv mit den verschiedenen Aspekten des Genres auseinander. Schnell wird deutlich, dass Reggaetón viele Parallelen mit der Geschichte des Hiphop aufweist. Allerdings ist die Dokumentation nur etwas für stark interessierte Personen. Für Leute, die Reggaetón einfach nur gerne hören und vielleicht kein Spanisch sprechen, könnte sie etwas zu langatmig sein. Nichtsdestotrotz werden wichtige Themen besprochen und es wird einem bewusst, dass die Wichtigkeit des Musikstils für die lateinamerikanische Welt in Deutschland unterschätzt wird. Am Ende der Dokumentation prognostizieren alle Künstler*innen und Produzenten, dass die Musik noch mehr Erfolg haben wird. Damit sollten sie alle Recht behalten. 14 Jahre später ist Reggaetón so erfolgreich wie noch nie, und das wird auch noch eine Zeitlang so bleiben.