Mit nur knapp einem Jahr Training nahm die Athletin Yeny Vargas aus Arequipa, Peru, an den letzten Paralympischen Spielen in Rio 2016 teil und belegte im 400-Meter-Lauf in der Kategorie T47 (Fehlen einer Hand) den achten Platz. Trotz dieser herausragenden Platzierung ist sie nicht zufrieden mit ihrer Leistung. Bei den Parapanamerikanischen Spielen 2019 in Lima möchte sie sich verbessern.
Carlos Felipa, einer der Initiatoren des Behindertensports, belegte den vierten Platz im Weitsprung in der Kategorie T42 (Oberschenkelamputierte und diesen Einschränkungen Gleich-gestellte). Er ist pensionierter Armeeoffizier und war immer schon sportbegeistert. Seine Behinderung habe nicht sein Leben, sondern nur seine Routine verändert, stellt er klar. „Im Falle der (paralympischen) Athleten besteht der einzige Unterschied zum konventionellen Sport darin, dass wir ein Hilfsmittel verwenden, um laufen zu können; ein Werkzeug, das uns erlaubt, Sport zu treiben, sich aber an unseren Lebensrhythmus anpassen muss. Wenn sie mich fragen, ob es mir schwer fiel, mich an die Prothese zu gewöhnen, sage ich, dass nicht mir, sondern der Prothese die Batterie ausgeht.“
Yeny Vargas und Carlos Felipa sind Teil des Nationalteams der ParaleichtathletInnen, das von Miguel Calmet trainiert wird. Zusammen mit Luis Sandoval, Israel Hilario, Efraín Sotacuro und José Casas bildeten sie das Team, das letzten September nach Brasilien reiste, um dort Peru zu repräsentieren. Leichtathletik ist eine Disziplin der Paralympischen Spiele unter vielen weiteren wie zum Beispiel Rollstuhlbasketball, Fußball für Sehbehinderte oder Schwimmen und Rollstuhlrugby für Menschen mit Querschnittslähmung. In insgesamt 23 verschiedenen Sportarten treten die BehindertensportlerInnen je nach funktionaler Klassifikation gegeneinander an.
Laut María Luisa Sarmiento, Präsidentin der „Nationalen Föderation von Menschen mit körperlicher Behinderung“ (Federación Nacional de Personas con Discapacidad Física, Fedenadif) und einzige international qualifizierte Rollstuhlbasketballerin aus Peru, wurden die funktionalen Klassifizierungen eingeführt, um eine höhere Vergleichbarkeit unter den verschiedenen Behinderungen gewährleisten zu können. „Die funktionale Klassifizierung wird durch ein internationales Gremium von Ärzten und Physiotherapeuten vorgenommen, das klinische Evaluierungen, Bewegungs- und Körperbelastungsanalysen durchführt. Jede Sportart hat andere Anforderungen und die Klassifizierung variiert je nach Art der Behinderung“, erklärt sie.
Jeder Disziplin wird ein Buchstabe mit einer Nummer zugeteilt, welche die Leistungsfähigkeit und den Behinderungsgrad des Sportlers/der Sportlerin angeben. In der Leichtathletik zum Beispiel steht das T für Laufbahn und das F für Feld. Bei SportlerInnen mit Sehbehinderung wird zwischen 11 und 13 klassifiziert, wobei 11 für vollständige und 13 für teilweise Blindheit stehen. Geistige Behinderung wird mit der 20 angegeben (in dieser Kategorie konkurrieren die SportlerInnen im Weitsprung, im 1500-Meter-Lauf und im Kugelstoßen). Bei Menschen mit körperlicher Behinderung rangiert die Einstufung zwischen 31 und 38 für zerebrale Lähmung und andere Behinderungen der muskulären Koordination, zwischen 42 und 47 für Behinderung einer Extremität und 51 bis 58 für Athleten im Rollstuhl.
Miguel Calmet hat immer gerne Sport getrieben, vor allem Leichtathletik. In dieser Disziplin war er Mitglied der Auswahl der Streitkräfte. Aber nie zuvor hatte er andere Sportler trainiert, schon gar nicht einen Sportler mit Behinderung, bis Carlos Felipa ihn bat, ihn im Laufen mit der Prothese zu trainieren, nachdem er sein Bein bei einem Angriff im peruanischen VRAEM (Valle de los Ríos Apurímac, Ene y Mantaro) verloren hatte. „Miguel war der verrückte Wissenschaftler, der mit mir experimentierte“, erzählt Felipa lächelnd. „Zu Beginn war es so, weil wir nichts wussten. Wir mussten wir uns Trainingsübungen ausdenken und haben damit praktisch die neue paralympische Bewegung initiiert“, ergänzt er.
Calmet, der nun das Nationalteam in der Militärschule von Chorrillos trainiert, erklärt, dass der paralympische Sport nicht einfach sei. Aber man könne sich an alles anpassen: „Der Behindertensport als solcher ist komplex. Zwar ist das Umfeld sehr ähnlich zum konventionellen Sport, doch es gibt strenge Vorgaben. Zum Beispiel muss man aufpassen, einen Bereich nicht mit Gewichten zu überladen, wenn ein Körperteil fehlt, oder im Falle von Sehbehinderung daran zu arbeiten, dass der Athlet auf der Spur bleibt, um nicht gegen andere zu stoßen. Bei Sportlern mit geistiger Behinderung muss man Geduld mitbringen. Aber sobald sie merken, dass sie es können und beginnen ihren Körper zu beherrschen, wollen sie mehr. Das ist wirklich fantastisch.“
José Casas ist ein weiteres Mitglied der Auswahl, die von Calmet geleitet wird. Als pensionierter Soldat reiste er aus eigenen Mitteln nach São Paulo, um sich für Rio in der Kategorie T44 (Lauf- und Sprungdisziplinen für Unterschenkelamputierte) zu qualifizieren, denn in Peru gibt es keine international Qualifizierten in dieser Kategorie. „In Wirklichkeit steckt Peru noch in den Kinderschuhen in allem, was den paralympischen Sport betrifft. Wir müssen Medaillen gewinnen, um anerkannt zu werden, dabei müsste es doch umgekehrt sein, nämlich dass der Staat die Grundlagen schafft.“
Als Wettkämpfer in Rio und Gründer der Organisation „Behinderten-sportzentrum ohne Grenzen“ (Centro Paradeportivo sin Límites) fördert Casas den Behindertensport, um eine stärkere Einbindung von Menschen mit Behinderung zu erreichen. „Sport fördert die Integration. Es gibt keine Grenzen für die Ausübung einer Disziplin, man muss nur Möglichkeiten schaffen.“
Peruanische SportlerInnen gewannen bei den bisherigen Para-lympics acht Medaillen, dreimal Gold (Toronto 1976, Atlanta 1996 und Sidney 2000), einmal Silber (Sidney 2000) und viermal Bronze (Toronto 1976, Athen 2004) in Schwimmen, Leichtathletik und Tischtennis. Obwohl damit bei den Paralympischen Spielen bereits mehr Medaillen geholt wurden als bei den traditionellen Olympischen Spielen, wo die peruanischen SportlerInnen bisher nur vier Medaillen gewannen, förderte das Peruanische Olympische Komitee (COP) erst ab November 2015 die Gründung eines paralympischen Sportverbands (Asociación Nacional Paralímpica del Perú), der im Dezember desselben Jahres durch das Peruanische Sportinstitut IPD und im Februar 2016 vom Internationalen Paralympischen Komitee anerkannt wurde.
Peru hat nur einen Verband für Behindertensport, die Fedenadif, die den Leistungssport für Menschen mit körperlicher Behinderung organisiert. Für Menschen mit Seh- oder geistiger Behinderung gibt es unabhängige Vereine wie Yo soy sus ojos (Ich bin ihre Augen). Für Gehörlose finden jedes Jahr nach den Paralympischen Spielen die sordolimpiadas (Gehörlosenolympiaden) statt und für Menschen mit geistiger Behinderung (zum Beispiel Autismus, Down-Syndrom) werden alle zwei Jahre die Special Olympics abgehalten.
In der Vorbereitungsphase für große Wettbewerbe trainieren die behinderten LeichtathletInnen zwei-mal täglich, morgens und nachmittags. Die Übungs-einheiten finden im Fitnessstudio und auf der Stadionlaufbahn der Militärschule von Chor-rillos statt. Die Athle-tInnen haben schon versucht, in der Villa Depor-tiva Nacio-nal, dem wichtigsten sportlichen Leistungs-zentrum Perus, zu trainieren, jedoch sind dort zu viele konventionelle SportlerInnen, sodass kaum Platz für sie bleibt.
Die Schwierigkeiten der BehindertensportlerInnen beschränken sich nicht nur auf den Mangel an offiziellen Trainingsanlagen. Lucha Villar, Präsidentin des Nationalen Paralympischen Verbands von Peru, merkt an, dass es noch weitere Barrieren gibt: „Es existiert kein Bewusstsein, dass jede Person das Recht auf Sport hat. Dank des Sports erhöhen Menschen ihr Selbstwertgefühl und knüpfen soziale Kontakte. Das Problem ist, dass es in den Sonderschulen keine SportlehrerInnen gibt. Ein weiteres Problem ist die Barrierefreiheit. Ein Mensch mit Behinderung kann keinen Bus nehmen und nicht auf dem Bürger-steig laufen, weil es keine Rampen gibt. Folglich kann er auch nicht studieren oder arbeiten, wenn er keine finanziellen Mittel hat. Außer-dem geht niemand davon aus, dass Menschen mit Behinderung körperlich aktiv sein können, sei es zur Rehabilitierung, zur Erholung oder im Wettkampf.“
In diesem Zusammen-hang erläutert María Luisa Sar-miento von der Behinderten-sportorganisation Fedenadif, dass der Verband immer noch Probleme mit der Barrierefreiheit an den Sportstätten hat. „Wir leiden am Nationalstadion, denn trotz der mehr oder weniger zentralen Lage ist die Anfahrt für BehindertensportlerInnen sehr schwierig. Ein weiteres Problem ist die Verfügbarkeit. Das barrierefreie Kolosseum Dibós ist fast immer vom konventionellen Basketballverein besetzt. Die Schwimmbäder im Campo de Marte sind für RollstuhlfahrerInnen nicht zugänglich, sie müssen beim Herabsteigen der Stufen um Hilfe bitten. Es dürfte eigentlich gar nicht sein, dass sie von anderen abhängig sind; vielmehr müssten sich die Bäder anpassen.“
Zwei Jahre vor den Panamerikanischen und den Parapanameri-kanischen Spielen 2019 in Lima setzen sich die Vereine weiterhin dafür ein, den Behindertensport populärer zu machen und das Bewusstsein in der Gesellschaft für den Sport zu stärken. „Wir wollen uns mit dem Sportinstitut IPD zusammenschließen, um ein gemeinsames Projekt mit den Gemeinden und ihren Büros für Menschen mit Behinderung durchzuführen. Wir müssen gemeinsam mit den Vereinen Fortbildungskurse durchführen. Es gibt sehr wenige Trainer, die glauben, sich dem Behindertensport widmen zu können. Wer Trainer ist, kann jedoch jede Sportart trainieren, man muss nur die Regeln für seine SportlerInnen anpassen. Wir wollen an der Basis ansetzen und dafür sorgen, dass Sport Pflichtfach in Schulen für Menschen mit Behinderung wird“, betont Lucha Villar.
María Luisa Sarmiento fügt hinzu, dass das Organisationskomitee der Panamerikanischen Spiele 2019 in Lima dafür sorgt, dass die Architekten des olympischen Dorfes und der Sportstätten Informationen von anderen Ländern mit Erfahrung in der Organisation von Paralympischen Spielen wie Brasilien oder England bekommen.
Lucha Villar ergänzt, dass alle Menschen ein Recht auf Sport haben. „Als erstes muss man die Massen mobilisieren. Erinnern wir uns daran, dass man eine Medaille nicht von heute auf morgen gewinnt, sondern dass man vier bis acht Jahre dafür arbeiten muss. Man muss den Eltern zeigen, dass ihre Kinder mit Behinderung auch Sport treiben können, und in den Gemeinden muss ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, was erreicht werden kann – nicht als soziale Hilfe, sondern als Menschenrecht.“ Miguel Calmet merkt an, dass die Ziele für die Parapanamerikanischen Spiele noch in weiter Ferne liegen. „Wir schreiten im Schildkrötentempo voran. Als Gastgeber haben wir das Ziel, mindestens einen Athleten pro Kategorie zu haben. Wenn ich einen für jede Klassifikation anstrebe, müsste ich mindestens 50 Athleten haben; momentan kommen wir jedoch nur mit viel Mühe auf 15. Wir haben also ein Defizit von 30 bis 40 Athleten.“
Obwohl er sich noch im Anfangsstadium befindet, ist der Behindertensport dabei, sich in Peru zu etablieren. Und er hat gezeigt, dass er mit dem konventionellen Sport mithalten kann, wie im Fall von Yeny Vargas: „Wir sind genauso wettbewerbsfähig wie sie. Maite Torres, die peruanische Meisterin im 400-Meter-Lauf, hat eine Bestzeit von 55 Sekunden, genau wie die Siegerin bei den Paralympics. Da gibt es keinen Unterschied, beide sind auf einem hohen Niveau.“