Während die Städte Bogotá und Medellín von Anfang an als wirtschaftliche und politische Zentren geplant waren, wurde Cali zunächst nur gegründet, um den Übergang vom Zentrum des Landes in den Süden, nach Popayán, zu erleichtern. Inzwischen ist Cali zur drittgrößten Stadt Kolumbiens und zum wichtigsten urbanen Zentrum zwischen Quito und Bogotá aufgestiegen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten Cali und das Cauca-Tal eine besondere Wirtschaftsstruktur. Sie basierte auf großen Landgütern, den Haciendas, bewirtschaftet von LandarbeiterInnen in einem an feudale Verhältnisse erinnernden Arbeitsregime. Im Gegensatz dazu waren in der Sabana (Hochebene) von Bogotá und in Antioquia, der Region um Medellín, Minifundien die Regel. Die Öffnung zum Pazifik veränderte indessen Wachstumsrhythmus und Entwicklung des bis dahin Jahrhunderte lang ruhigen Cali. Der Bau der Pazifik-Eisenbahn und der Landstraße nach Buenaventura machten aus der Stadt einen Knotenpunkt für alle Ein- und Ausfuhren über den Pazifikhafen. Wegen dieser Lage siedelten sich einige Industrien in Cali an, seit 1910 Hauptstadt des Departements Valle del Cauca.
Der Kaffeeanbau im Norden und der von Zuckerrohr in der Mitte und im Süden des Departements verfestigten die Stellung Calis als „trockenem Hafen“ für die Ausfuhr von Rohkaffee und Zucker. Die Zuckerwirtschaft machte aus einem landwirtschaftlich geprägten Raum mit niedriger Produktivität eine industrialisierte Region. Während ihrer ganzen Geschichte wurde die Stadt von MigrantInnen aus Nachbarregionen wie Cauca und Nariño geprägt, angezogen vom Boom der Industrie, des Handels und der hoch entwickelten Landwirtschaft in Cali und Umgebung. Ab 1960 bis Ende des letzten Jahrhunderts mauserte sich die Region zu einem industriellen Entwicklungspol. Arbeitsplätze wurden geschaffen. Die Bevölkerungs wuchs schnell, besonderns in Folge von Zuwanderung. Deren Rate lag in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Bogotá und Medellín bei durchschnittlich 59 Prozent, in Cali betrug sie über 71 Prozent.
Das 21. Jahrhundert begann für Cali mit einer boomenden Drogenwirtschaft, steigenden Angriffen illegaler bewaffneter Gruppen, substanziell höherer Arbeitslosigkeit und dem niedrigsten Wirtschaftswachstum seiner Geschichte. Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts war geprägt von einer Mischung aus sozialem Unbehagen und wirtschaftlicher Unsicherheit. Erst um 2010 näherte sich die Wirtschaftslage tendenziell wieder der Situation vor der Finanzkrise von 1999 an, während der das gesamte Wirtschaftswachstum Kolumbiens auf minus vier Prozent sank. Die Zunahme von Arbeitslosigkeit, Migration, Armut und sozialer Zersplitterung verschärfte die Unterschiede zwischen Armen und Reichen.
Nach den turbulenten Jahren des vergangenen Jahrzehnts, das die Stadt schwer zurückgeworfen hat, beruhigt sich die Lage derzeit wieder, ohne dass bereits optimale Verhältnisse eingetreten wären. Für den oder die unvorbereitete BeobachterIn tut sich, wenn er oder sie auf dem Internationalen Flughafen Alfonso Bonilla Aragón ankommt, eine ausgesprochen moderne Welt auf. Die Autobahn vom Flughafen in die Stadt und das Transportsystem des öffentlichen Personennahverkehrs vermitteln den Eindruck einer modernen und prosperierenden Stadt.
Die neuen Niederlassungen transnationaler Konzerne, vor allem im Dienstleistungsbereich und im Handel, und die Hotels großer internationaler Ketten unterstreichen die Bedeutung der Stadt als Entwicklungspol. Die Agrarindustrie, der Bausektor und die zentrale geographische Lage der Stadt spielen wiederum eine wesentliche Rolle bei diesem Investitionsboom. Jährlich fließen über 150 Millionen US-Dollar an multinationalem Kapital in die Region. Massive öffentliche Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur, der Bau von Brücken und breiten Straßen entlang der Hauptachsen der Stadt und neue Linien des öffentlichen Verkehrs ändern das Gesicht der Stadt. Zudem hat Cali eine Reihe wichtiger Universitäten mit einer wachsenden Anzahl von Studierenden. Das bedeutet qualifizierte Arbeitskräfte und Akkumulation von Wissenskapital.
All das hat aber keineswegs zu einer allgemeinen Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in Cali geführt. Trotz Impulsen aus der öffentlichen Bauwirtschaft und Privatinvestitionen liegt die Arbeitslosigkeit in der Region heute über dem Landesdurchschnitt. Zwar investieren Privatunternehmen mehr, weil internationale Investoren die Lage in Cali und Umgebung positiv einschätzen. Doch die Zwangsvertreibungen aus der Pazifikregion in die Stadt drücken auf den Arbeitsmarkt. Zwischen 2007 und 2013 sind ca. 115 000 Menschen aus den Departements Cauca, Nariño, Chocó und aus dem Munizip Buenaventura nach Cali gekommen, die vor der extremen Armut und der Gewalttätigkeit in ihren Regionen geflohen sind. Drei von sieben ZuwandererInnen finden keine Beschäftigung. Die Neuankömmlinge konkurrieren zudem um die wenig qualifizierten Arbeitsplätze und sind billige Arbeitskräfte, gerade in der Bauwirtschaft, einem der dynamischsten Sektoren der Stadt und zudem ein Wirtschaftszweig mit vorwiegend unqualifizierter Arbeitskraft.
Arbeitslosigkeit, Armut und Einkommensunterschiede hängen zwangsläufig zuasammen. Die Armut ist zwar seit der Jahrtausendwende von 33,5 auf 21,9 Prozent gesunken. Damit herrscht in Cali dennoch mehr Armut als zum Beispiel in Bogotá, Medellín oder Bucaramanga. Die soziale Ungleichheit, das Vermögens- und Einkommensgefälle waren in Cali immer hoch. Auch wenn der Gini-Koeffizient, der die Reichtumskonzentration misst, in den letzten Jahren gesunken ist, ist diese in Cali weiterhin eine der höchsten im Land.
Die höchste Armutsrate findet sich mit über 60 Prozent an den Hanglagen und im Osten der Stadt. Diese Gemeinden liegen weit entfernt von den Zentren der Produktion und des Handels, haben eine prekäre Infrastruktur, kaum öffentliche Dienstleistungen und einen mangelhaften Bildungsbereich. Die hier lebenden Menschen gehören Bevölkerungsgruppen an, die als minoritär katalogisiert werden. Nach Angaben der Schulbehörden von Cali gehen Kinder und Jugendliche, die in den Hanglagen und im Osten der Stadt wohnen, durchschnittlich 9,3 Jahre zur Schule, während es im Süden 12 Jahre sind. Bei der Gesundheitsversorgung wiederholt sich das territoriale Muster: 52 Prozent der Kinder, die vor Erreichen des fünften Lebensjahres sterben, kommen aus den genannten beiden Zonen.
Die Hautfarbe ist eine der wichtigsten Variablen, die über den Zugang zu Arbeitsplätzen, Schulen und Wohnungen entscheiden. Cali ist die Stadt mit dem höchsten Anteil an schwarzer Bevölkerung in Kolumbien. 30 Prozent der Bevölkerung der Stadt definieren sich als AfrokolumbianerInnen. Viele von ihnen kommen aus den bereits erwähnten Departements Cauca, Nariño und Chocó und von der Pazifikküste. Eine schwarze Hautfarbe oder die Zugehörigkeit zu einer klar erkennbaren nicht-weißen Ethnie bedingen die gesellschaftliche Position, schließen ein oder aus. Wer in Cali AfrokolumbianerIn ist, hat deutlich weniger Entfaltungsmöglichkeiten seiner Potenziale und Fähigkeiten als Weiße. Empirische Studien haben gezeigt, dass die Analphabetismusrate in der afrokolumbianischen Bevölkerung bei 8,4 Prozent liegt. Beim Rest der Bevölkerung beträgt sie 5,3 Prozent. Dieses Muster wiederholt sich bei der Gesundheitsversorgung. Hier liegt der Versorgungsgrad der afrokolumbianischen Bevölkerung bei 49,61 Prozent, verglichen mit 62,3 Prozent bei der Bevölkerung, die sich mit keiner spezifischen Ethnie identifiziert. Bei den Einkommen sieht es nicht viel anders aus. Wenn wir das Einkommensspektrum in Fünftel aufteilen, dann sind die AfrokolumbianerInnen in dem Fünftel mit den niedrigsten Einkommen die größte Bevölkerungsgruppe, während es in dem Fünftel mit den höchsten Einkommen genau umgekehrt aussieht. Das heißt, die afrokolumbianischen Haushalte haben am Gesamteinkommen der Stadt einen niedrigeren Anteil als die Nicht-Afro-Haushalte. Entsprechend herrscht unter der afrokolumbianischen Bevölkerung auch eine deutlich höhere Arbeitslosigkeit als im Rest der Bevölkerung.
Eine vom nationalen Amt für Statistik durchgeführte Umfrage zur Lebensqualität ergab Ende des letzten Jahrzehnts, dass 86,8 Prozent der Befragten mit ihren Einkommen ihre Grundbedürfnisse mit Müh und Not befriedigen konnten, oder nicht einmal das. Das ist nach wie vor beunruhigend und ein offensichtlicher Widerspruch in einer Region, die zurzeit eine wirtschaftliche Blüte erlebt. Es ist auch ein Signal und eine sehr konkrete Botschaft an die PolitikerInnen und die herrschende Klasse der Region: Nicht alle Gruppen innerhalb der Bevölkerung von Cali haben teil an der Prosperität.