Außen- und Verteidigungspolitisch hat Washington seine Strategie, Doktrin und diplomatischen Instrumente merkbar verändert. Während des Kalten Krieges dominierte eine Strategie der „Eindämmung“. Es ging darum, die Expansion der Sowjetunion zu bremsen und – soweit möglich – die Konsolidierung ihres Einflussbereiches einzuschränken. In dieser Zeit herrschte eine Abschreckungsdoktrin vor. Sollte die UdSSR einen nuklearen Angriff starten, würde sie der Gegenschlag vernichten (Umgekehrt: Schon vor einem möglichen Angriff sollte sie ein nuklearer Erstschlag seitens der USA vernichten – d. Säz). Strategie und Doktrin stützten sich auf ein Netzwerk von Bündnissen mit starken und klaren Verpflichtungen. In Lateinamerika wurde die Gesamtstrategie der USA von einer subalternen Doktrin ergänzt. Für Washington hatten den Streitkräften der Region keine fundamentale Rolle beim Kampf gegen die UdSSR. Aber es zwang sie mit der „Doktrin der Nationalen Sicherheit“ auf, den „inneren Feind“ zu bekämpfen. Damit war der lokale Kommunismus (oder was man dafür hielt) gemeint.
Nach dem 11. September 2001 und noch mehr nach dem Angriff auf Afghanistan und der Besetzung des Irak veränderten die USA ihre Außen- und Verteidigungspolitik. Die neue Strategie orientiert sich an der Vorrangstellung der USA: Washington wird keinen Akteur von gleicher Größe tolerieren, egal ob Freund (z.B. die EU) oder potentieller Gegner (z.B. China). Nach der neuen Doktrin des präventiven Krieges maßt sich Washington an, seine kriegerische Macht gegen jedes Land einzusetzen, unabhängig davon, ob sich ein solches wirklich anschickt, unmittel- und nachweisbar die USA anzugreifen. Die soliden Bündnisse der Vergangenheit werden neu definiert und durch ad hoc-Koalitionen (coalitions of the willing) ersetzt. Washington wird die Mission allein festlegen und zu ihrer Durchführung dementsprechend die Koalition zusammenstellen.
Obwohl die untergeordnete Doktrin für Lateinamerika, die diese neu definierte „große Strategie“ begleitet, noch nicht endgültig abgestimmt und aktiviert ist, zeichnet sich ein deutlicher Wandel ab. Vieles weist darauf hin, dass Washington in der Region eine Art „Doktrin der Nationalen Unsicherheit“ einrichtet, was Anlass zu Besorgnis gibt.
Einerseits hat Washington es geschafft, in Lateinamerika die allgegenwärtige Idee von „neuen Bedrohungen“ zu verwurzeln, von der Verbreitung aller möglicher Arten von Gefahren: dem globalen Terrorismus, dem transnational organisierten Verbrechen und dem weltweiten Rauschgifthandel. Diese operieren (angeblich) in „leeren Räumen“, dort, wo sich der Staat verflüchtigt hat oder in einem Prozess der Auflösung befindet. Das Pentagon insistiert darauf, dass diese Bedrohungen erfordern, die Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheit aufzuheben und infolgedessen die Arbeit von Sicherheitsbehörden, Polizei und Streitkräften zu verzahnen. Die Grenzen zwischen Polizei- und Militäraufgaben sollen beseitigt werden. Der sog. Plan México von 2008 (der der gleichen Straflogik beim Antidrogenkampf folgt wie es beim Plan Colombia von 2000 der Fall war) und die militärische Beteiligung beim Kampf gegen die Rauschgifthändler in den Favelas von Brasilien zeigen, dass die strikte Trennung zwischen (äußerer) Verteidigung und (innerer) Sicherheit immer mehr verwischt wird.
Gleichzeitig hat Lateinamerika – wenn auch nur zum Teil und widersprüchlich – die These von der „Koalition der Willigen“ akzeptiert. Einerseits erzielte das Pentagon die direkte militärische Beteiligung von El Salvador, Honduras, Nicaragua und der Dominikanischen Republik beim Krieg gegen den Irak. Auch erreichte es die explizite politische Unterstützung von Kolumbien und Costa Rica bei der coalition of the willing, die 2003 den Irak attackierte. Darüber hinaus schaffte es Washington, dass sich zwölf Länder der Region für die polizeilich-militärische Mission in Haiti ab 2004 verpflichteten. Natürlich gibt es einen klaren Unterschied zwischen dem Krieg, den Washington und seine Verbündeten im Irak entfesselten, und dem UN-gestützten Truppenaufgebot in Haiti. Aber unabhängig vom humanitären Sinn einer Beteiligung am Haiti-Kontingent ist es ein Fakt, dass viele lateinamerikanische Länder ihren Streitkräften eine wachsende Bedeutung bei Befriedungs-, Stabilisierungs- und Wiederaufbauprozessen außerhalb ihrer Grenzen zuweisen.
Die Rolle des US-Southern Command in Lateinamerika soll detailliert betrachtet werden. Unterteilt man die Interaktion zwischen den USA und der Region in drei Gruppen, zeichnet sich folgendes Panorama ab: a) Die Geschäfte werden mittels multi- oder bilateraler Handelsverträge abgewickelt (NAFTA, CAFTA, Chile, Peru, Kolumbien und Panama). b) Die militärische Dimension wird im Pentagon konzipiert und vom US-Südkommando artikuliert. Es nimmt in der Regionalstrategie Washingtons einen zunehmend zentralen Platz ein. c) Der politische Austausch ist schwächer geworden und ist auf einige „Problemfälle“ (Venezuela, Kolumbien etc.) konzentriert. Hier fehlt eine positive Agenda.
Im März 2007 veröffentlichte das US-Southern Command einen Bericht, der den Titel „Partnerschaft für die Amerikas“ trägt.[fn]US Southern Command Strategy 2016, Partnership for the Americas, US Southern Command, Miami 2007[/fn] Dabei handelt es sich um den ehrgeizigsten Strategieplan, den eine offizielle US-Agentur seit Jahren für die Region formuliert hat. Instrumente wie das Interamerikanische Abkommen über gegenseitige Hilfe (TIAR), die Interamerikanische Verteidigungsjunta (JID) und die multilateralen Organisationen (OAS und UNO) glänzen darin durch Abwesenheit. Aber auch interne politische Instanzen (wie das US-Außen-, Justiz- und Finanzministerium) tauchen in dem Dokument nicht auf. Das US-Südkommando kündigt seine Rolle in der Region für die nächsten zehn Jahre an, wie es ein kontinentaler Prokonsul machen würde.
Der Text beginnt damit, die wichtigsten Herausforderungen für die USA in Lateinamerika und der Karibik hervorzuheben. Dabei ist es bezeichnend, dass die zwei größten Gefahren für die US-Sicherheit in der Region überhaupt nicht bestehen: Es gibt weder Tyrannen mit Massenvernichtungswaffen noch Formen von transnationalem Terrorismus mit globaler Auswirkung. Im Dokument findet sich lediglich ein Verweis, dass schwach regierte Räume „potentiell“ dafür genutzt werden könnten, vitale Interessen der USA zu schädigen. In keinem einzigen Absatz wird die konkrete Existenz und das Operieren radikaler islamischer Gruppen gegen US-Ziele in der Region nachgewiesen. Gleichzeitig werden Armut, Ungleichheit, Korruption und Kriminalität als bedeutende „Herausforderungen“ benannt.
Sowohl Mission als auch Vision des US-Süd-Kommandos sind dreist: Es maßt sich unter den bestehenden Agenturen eine Führungsrolle an, um „Sicherheit, Stabilität und Prosperität in ganz Amerika“ zu garantieren. Den „normalen“ militärischen Aufgaben wird die Unterstützung regionaler und globaler Koalitionen für Friedenseinsätze beigeordnet. Außerdem sollen „alternative Nationen“ ausgemacht werden, um MigrantInnen aufzunehmen und Einrichtungen zu schaffen, die das Problem der massiven Wanderungsbewegungen angehen.
Für die „Förderung der Stabilität“ sieht das US-Südkommando unter anderem die aktive Einbindung diverser staatlicher Behörden, NRO und öffentlicher und privater Institutionen vor. Es schlägt vor, „Sicherheitsabkommen in der ganzen Hemisphäre“ auszuhandeln sowie neue Länder mit einem „außerhalb der NATO“-Verbündeten-Status zu versehen und gemeinsame Anstrengungen staatlicher und nicht-staatlicher Akteure bei humanitären Aufgaben anzuregen. Um „die Prosperität zu fördern“, sollen Ausbildungsprogramme im Bereich der „Inneren Sicherheit“ der Länder durchgeführt werden. Die Zahl der sog. „Standorte für kooperative Sicherheit“ (in Wirklichkeit Militärbasen, wie Manta in Ecuador, Reina Beatrix in Aruba, Hato Rey in Curaçao und Comalapa in El Salvador) soll erhöht und die Initiative für ein gemeinsames zentralamerikanisches Streitkräftebataillon für „Stabilisierungsoperationen“ unterstützt werden. Des Weiteren will das US-Südkommando bei der Ausarbeitung der „nationalen Sicherheitsstrategien“ mitwirken. Die Rolle des US-Verteidigungsministeriums bei den „politischen, sozialen und ökonomischen Entwicklungsprozessen“ der lateinamerikanischen Länder soll besser definiert werden.
Diese neue Strategie des US-Southern Command wird im Kontext der zunehmenden Bedeutung des US-Verteidigungsministeriums für Lateinamerika und die Karibik verkündet. Zwischen 1997 und 2007 belief sich die Polizei- und Militärhilfe der Vereinigten Staaten für die Region auf ca. 7,3 Mrd. US-Dollar. Zwischen 2005 und 2007 waren vier lateinamerikanische Länder unter den wichtigsten Empfängern von US-Militärhilfe: Kolumbien mit Rang 5, Bolivien mit Rang 8, Peru mit Rang 10 und Mexiko mit Rang 12. In den letzten fünf Jahren wurden im Schnitt jährlich Waffen im Wert von 1,1 Mrd. US-Dollar an die Region verkauft. Zwischen 2001 und 2005 wurden 85 820 lateinamerikanische Militärs in den USA ausgebildet (von 1946 bis 2000 trainierte die berühmt-berüchtigte School of the Americas ca. 61 000 Soldaten und Polizisten).
Für all diese Vorhaben braucht die Strategie, die für ein ganzes Jahrzehnt (bis 2016) geplant ist, mehr materielle Mittel und Autonomie. Es handelt sich um einen ehrgeizigen und umfassenden Plan, dessen Ausführung anscheinend unabhängig von der politischen und militärischen Zukunft von Irak und Afghanistan sowie der politischen Couleur des neuen US-Präsidenten ist. Implizit wird angenommen, dass auch eine von einem Demokraten geführte Regierung den Kurs der Militärdiplo-matie für Lateinamerika für das nächste Jahrzehnt nicht ändern wird.
Vor diesem Hintergrund ist vorauszusehen, dass es mehr Kontinuität als Wandel geben wird. Die Sensibilisierung der Zivilgesellschaft nach dem 11. September 2001 lässt den jeweiligen Präsidenten fast nur die Option, „hart“ mit den Terroristen umzugehen. Den PolitikerInnen setzt das 11/9-Trauma Grenzen und die Militärs sind süchtig geworden nach dem neuen „Krieg gegen den Terrorismus“. Beide sind hypnotisiert von der Idee der „Vormacht USA“ auf globaler Ebene. Kurz gesagt, das ganze Land ist in der Logik des 11/9 gefangen.
In Anbetracht der um sich greifenden Angst, von Wirtschaftsrezession und Finanzkrise ist an der Außenfront schwerlich eine substanzielle Kehrtwendung zu erwarten. Während des Wahlkampfes schien kein/e Kandidat/in und keine politische Kraft bereit zu sein, die Rolle der Gewalt in der externen Strategie zu hinterfragen. Die Hypermilitarisierung der Außenpolitik zeichnet sich immer klarer ab: Alle Indikatoren (Budget, Doktrin, Aufgebot, Reichweite, Gewicht, zivil-militärische Bilanz) zielen in diese Richtung. Demokraten und Republikaner, Neukonservative und Liberale vertrauen heute exzessiv auf den Wert der Gewaltanwendung in der Weltpolitik und sind dagegen zurückhaltend, was internationales Recht und Vorschriften betrifft.
Die wirtschaftliche Verschlechterung im Inneren und ihre Projektion nach außen werden einen guten Teil der Agenda des neuen Präsidenten bestimmen. Er muss notwendigerweise zuerst das eigene Haus in Ordnung bringen, bevor er versucht, das von anderen zu ordnen. Während des Wahlkampfes gab es in einigen strategischen Fragen eine Art von stillschweigendem Konsens: China bremsen, Indien kooptieren, Russland abschrecken, Europa kontrollieren, Pakistan in Quarantäne setzen, Iran in die Schranken verweisen, Saudi-Arabien unterstützen, Israel verteidigen, Venezuela isolieren, Kolumbien unter die Arme greifen. Bei diesen Themen war bei den Wahlauftritten allgemein eine relative Übereinstimmung auszumachen. Die wichtigen KandidatInnen äußerten sich dazu wenig und wenn sie es machten, unterschieden sie sich in der Form, aber nicht im Inhalt. Die Verteidigungspolitik substanziell zu modifizieren hängt außerdem nicht von einigen Individuen ab. Die Kontinuität wird von einer Menge von Kräften, Faktoren sowie internen und externen Phänomenen bestimmt.
In Anbetracht dieses Panoramas zeigt Lateinamerika seine sprichwörtliche Fragmentierung. Dabei wird die Konfliktgeladenheit der Andenregion potenziert. Dies wirkt wie ein Magnet, der Washington jeden Tag mehr zur Region hinzieht. Paradoxerweise geschieht das in einem günstigen Moment: Nur selten zuvor hat es so gute Bedingungen gegeben, um die Unterordnung Lateinamerikas gegenüber den USA abzuschwächen und die Autonomie Südamerikas im Weltgeschehen zu erweitern. Die Gelegenheit dafür ist da – sie gut oder schlecht zu nutzen, hängt von den Ländern Südamerikas ab.
Die mangelnde Aufmerksamkeit der USA für die Region nach dem 11. September 2001, ihr Verlust an Glaubwürdigkeit nach der Invasion des Irak und ihr schlechtes Wirtschaftsmanagement in den letzten Jahren bieten Lateinamerika einen ungewöhnlichen Aktionsradius. Der so bezeichnete Linksrutsch in Südamerika ist die natürliche Folge einer Demokratisierungsbewegung, die mit der Krise der Diktaturen mit der Unterstützung der USA rechnete. Die aktuelle Aufwertung des Staates in Südamerika resultiert aus einer Politik, die im sog. Washington-Konsens verankert war. Dessen Abnutzungserscheinungen sind nun in der ganzen Region sichtbar. Der Versuch, soziale und wirtschaftliche Maßnahmen anders auszurichten, konnte von einem Washington, das unfähig war, sein eigenes Haus in Ordnung zu bringen, nicht in Frage gestellt werden. Die Obsession der USA mit dem Mittleren Osten und Zentralasien sowie ihr internationaler Prestigeverlust führten speziell in Südamerika in den letzten Jahren zu ungewohnt zahlreichen Initiativen, die ohne Beteiligung der USA konzipiert worden sind.
Insgesamt betrachtet zeigen die Bewegungen in der Region einen wachsenden Realismus gegenüber den USA. Der „Koloss im Norden“ wird weder als unerbittlicher Feind noch als exzellenter Verbündeter gesehen. Die geopolitische Projektion und das militärische Aufgebot der USA in Südamerika werden jedoch immer mehr zu einem Problem.