Die EU greift nach Zentralamerika

„Im Freihandelsabkommen legen wir fest, ob wir uns selbst umbringen oder eines natürlichen Todes sterben”, bringt Sinforiano Cáceres, Vorsitzender des nicaraguanischen Kooperativenverbandes, die Entscheidungsalternative auf den Punkt. Gegen den Widerstand der Bevölkerungen wurde vor drei Jahren ein bilaterales Freihandelsabkommen (DR-CAFTA) zwischen den USA und Mittelamerika abgeschlossen. Darin wurden Marktzugänge, die Abschaffung von Zöllen, Regeln für Dienstleistungen, Investitionen und Ausschreibungen des öffentlichen Sektors vereinbart. Die vielfach vorhergesagten negativen Folgen für die zentralamerikanischen Länder werden bereits sichtbar. Im Wettlauf der großen Wirtschaftsblöcke um natürliche Ressourcen und Märkte versucht die EU nun, sich mindestens die gleichen Konditionen zu verschaffen, und treibt deshalb ein Abkommen über Zoll- und Handelsfreiheit mit den mittelamerikanischen Staaten voran, welches noch in diesem Jahr unterschriftsreif sein soll.

Bis zum Jahr 2010 möchte die Europäische Union zur Weltwirtschaftsmacht Nr. 1 aufsteigen. Als Ziel formulierten die Staats- und Regierungschefs der EU schon im März 2000 in der Lissabon-Strategie, „die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen.“ Auf Grundlage der europäischen Außenhandelsstrategie „Ein wettbewerbsfähiges Europa in einer globalen Welt“ (2006) versucht Europa, eine ganze Reihe ehrgeiziger „WTO plus Ziele“ im Rahmen bilateraler oder regionaler Abkommen im Alleingang voranzutreiben. Was in der WTO wegen des anhaltenden Widerstands der Entwicklungsländer nicht erreicht werden konnte, verschönernd umschrieben; „Ziele, die noch nicht reif sind für multilaterale Gespräche“, wird nun in regionalen Abkommen durchzusetzen versucht. In der wirtschaftspolitischen Expansion mit Blick auf den Konkurrenten USA sind die Forderungen der EU eindeutig: Die VertragspartnerInnen müssen gute Bedingungen für europäische Exporteure und Investoren bieten, ob dies die so genannten AKP-Staaten (78 Länder in Afrika, der Karibik und im Pazifik), Chile, Mexiko, Indien, die Andine Gemeinschaft oder die Staaten Zentralamerikas sind. 

Nach dem o.g. Strategiepapier der Kommission geht es dabei um 
• den umfassenden Abbau aller so genannter nicht-tarifärer Handelshemmnisse, 
• den ungehinderten Zugang zu Energie und Rohstoffen, 
• den verschärften Schutz geistiger Eigentumsrechte transnationaler Unternehmen, 
• die beschleunigte Öffnung von Dienstleistungsmärkten, 
• die Liberalisierung öffentlicher Beschaffungsmärkte 
• die Durchsetzung ungehinderter Niederlassungsfreiheit
• die Liberalisierung des Banken, Devisen- und Derivatsektors sowie die Ermöglichung unbeschränkten Kapitalverkehrs.

Die Assoziierungsabkommen tragen dazu bei, immer größeren Bevölkerungsteilen die Lebensgrundlagen zu entziehen. Privatisierungen im Wassersektor und im Gesundheitswesen führen zu explosionsartig steigenden Kosten, die für weite Bevölkerungsteile nicht mehr finanzierbar sind. Exzessiv lange Patentlaufzeiten verhindern die lokale Produktion von Generika (baugleiche Medikamente, die wegen nicht mehr anfallender Patentgebüren deutlich billiger sind) und verschlechtern die schon jetzt desolate Versorgungslage bei Arzneimitteln (vgl. ila 323). Durch die Einführung von Patenten auf Saatgut werden Bauern und Bäuerinnen dazu gezwungen, ihr Saatgut bei europäischen Konzernen teuer einzukaufen. Viele müssten aufgeben und die Ernährungssicherheit würde weiter sinken. Megainfrastrukturprojekte und Rohstoffausbeutung führen zur weiteren Umweltzerstörung und zur Vertreibung der Landbevölkerung. Liberalisierungen im öffentlichen Beschaffungswesen bringen eine internationale Konkurrenz, der einheimische Unternehmen nicht gewachsen sind. Die Folge wäre noch höhere Arbeitslosigkeit. Schon jetzt suchen immer mehr Menschen ihr Fortkommen im informellen Sektor oder in der Migration. Völlig verantwortungslos ist die EU-Kommission, wenn sie mitten in der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise weiterhin auf die Liberalisierung von Finanzdienstleistungen besteht, als ob diese nicht am Ursprung der Krise stünden.

Nach drei Jahren geben die bereits erkennbaren Folgen des CAFTA-Freihandelsabkommens für die Wirtschaft und die sozialen Strukturen der mittelamerikanischen Länder den Befürchtungen der KritikerInnen weitgehend Recht. Insbesondere die Grundnahrungsmittel produzierenden Kleinbauern müssen unter dem CAFTA-Abkommen leiden, weil sie mit den stark subventionierten, industriell produzierten Nahrungsmitteln aus den USA nicht konkurrieren können. Innerhalb eines Jahres hat der Agrarimport aus dem Norden nach Zentralamerika um 19 Prozent zugenommen. Andererseits ist die dem Freihandel innewohnende Exportorientierung ein großes Problem, da die Nahrungsmittelproduktion dadurch vollständig umstrukturiert wird: Land, das vorher den lokalen Markt versorgte, wird in industrielles Agrarland umgewandelt; die Marktmacht konzentriert sich zunehmend bei einigen Großproduzenten und transnational operierenden Konzernen, kleinbäuerliche Strukturen werden zerstört und die Ernährungssicherheit verschwindet. Zudem enthält das CAFTA-Vertragswerk Bestimmungen zum Schutz von Investitionen, die es Privatunternehmen erlauben, Nationalstaaten auf Erstattung etwa aufgrund neuer Gesetze entgangenen Gewinnen zu verklagen. 

Aktuell verklagen mehrere Unternehmen auf Grundlage des CAFTA-Vertrags die zentralamerikanischen Staaten auf Entschädigung. Das Kapitel über geistige Eigentumsrechte bestimmt, dass alle US-Regelungen zu Patenten und Copyrights auch für die Vertragsstaaten verbindlich sind. Das gilt besonders für Medikamente – mit fatalen Folgen für die öffentliche Gesundheit. So wurde mit CAFTA die Einfuhr verschiedener Generika, die bereits im Handel waren und deren Preise deutlich unter den Markenprodukten lagen, verboten. Viele mittelamerikanische Länder versprachen sich von CAFTA einen Anstieg der ausländischen Investitionen. Für ein Land, nämlich Nicaragua, erfüllte sich diese Hoffnung offenbar: 2006 schnellte das Investitionsvolumen im Vergleich zum Vorjahr um 96,7 Prozent in die Höhe. Der Großteil davon floss in die so genannten Weltmarktfabriken (Maquilas). Diese Weltmarktfabriken bieten allerdings schlecht bezahlte und gering qualifizierte, hochprekäre und oft ungesunde Arbeitsplätze. Jedoch kann man beobachten, dass selbst diese der weltweiten Konkurrenz um die billigste Arbeitskraft nicht mehr standhalten. In El Salvador und Honduras werden die Fabriken dicht gemacht, die Produktion wandert in die asiatischen Länder ab. Auch in Nicaragua ging schon 2008 ein Drittel der Arbeitsplätze in den Maquilas wieder verloren. In Costa Rica findet unter Verweis auf die verschärfte Konkurrenz ein Angriff auf die relativ hohen Arbeits- und Sozialrechtsstandards statt. 

Angesichts dieser absehbaren wirtschaftlichen Nachteile stellt sich die Frage, weshalb die zentralamerikanischen Regierungen neue Freihandelsabkommen nicht blockieren, ja sie sogar vorantreiben. Dies gilt auch für die sandinistische Regierung Nicaraguas und für den neu gewählten FMLN-Präsidenten El Salvadors. Gerade in landwirtschaftlich geprägten Ökonomien wie Nicaragua überwiegen die Risiken und Kosten deutlich die Chancen und Vorteile. Doch nationale Entwicklungspläne gehen davon aus, dass eine tiefgreifende Umstrukturierung der Wirtschaft hin zum Exportbereich und zu so genannten Entwicklungscluster notwendig sei. Dabei sollen wirtschaftlich dynamische Regionen und Produktionsketten entstehen. Migration vom Land in die Städte, das Verschwinden von Subsistenzwirtschaft und lokalen Wirtschaftskreisläufen werden dabei als unabdingbar in Kauf genommen. Da der traditionelle Agrarsektor als rückständig und unproduktiv gilt, sollen die dort “gebundenen” Arbeitskräfte den Maquiladoras zugute kommen. Man verspricht sich neben den traditionellen Textilfabriken eine “innovative” Agrarexportindustrie von tropischen Früchten Zierpflanzen oder Garnelen, die z.B. in Nicaragua selbst angebaut, verarbeitet und verpackt werden sollen. Potenzielle Gewinner sind daher nur die Global Players, die über Ländergrenzen hinweg operieren oder mit Handelspartnern in anderen Vertragsländern zusammenarbeiten. Dazu gehören Import-Export- Unternehmen, der Banken- und Finanzsektor, ein Teil des exportorientierten Agrarsektors und die Tourismusbranche. Die mittelamerikanischen Regierungen hoffen auch auf bessere Zugänge für Fleisch, Bananen, Kaffee, Zucker und Garnelen auf europäische Märkte, die bisher streng abgeschottet waren. 

Wie im CAFTA soll auch das EU-Assoziierungsabkommen Regelungen festschreiben, die wirtschaftliche Interessen von Investoren über nationale Gesetze stellen. Das spanische Energieunternehmen Union Fenosa kaufte vor acht Jahren das nicaraguanische Stromnetz. Diese Privatisierung war eine Forderung des IWF. Mit dem Kauf wurden Strompreissenkungen, sichere Stromversorgung und Investitionen in die Netzqualität vereinbart. Seitdem stieg der Strompreis, Stromabschaltungen nahmen zu und Investitionen wurden nicht getätigt. Als Reaktion auf die von der Bevölkerung geforderte Wiederverstaatlichung fordert Union Fenosa über die „multilaterale Agentur für Investitionsgarantie“ MIGA (Weltbank-Tochter) 55 Mio US-Dollar Schadensersatz für entgangene Gewinne. Für solche Konfliktfälle fordert die EU, internationale Schiedsgerichte zur Streitbeilegung einzurichten. Europäische Konzerne könnten vor diesen Gerichten gegen ein mittelamerikanisches Land klagen, wenn sie ihre Investitionen oder die erwarteten Gewinne („indirekte Enteignung“) gefährdet sehen. In der Praxis entscheiden solche Schiedsgerichte fast immer zu Gunsten der Unternehmen. Durch solche Regelungen entziehen sich international operierende Unternehmen der nationalen Kontrolle und können Umwelt- oder Sozialstandards verletzen. 

Eine Wiederverstaatlichung im Beispiel von Union Fenosa wäre sicher nicht möglich. Freihandel und Investitionsfreiheit in Verbindung mit der Einsetzung internationaler Schiedsgerichte führt zu einer Festlegung der Wirtschaftsform über Generationen hinaus. Auch zukünftige parlamentarische Entscheidungen, beispielsweise zur Förderung der einheimischen Produktion oder die Verstaatlichung von europäischen Investitionen (z.B. Wasser- oder Stromversorgung), wären für die mittelamerikanischen Länder wegen der Entschädigungsforderungen unmöglich. Die Industrieländer scheiterten bisher bei allen Versuchen, im Rahmen der WTO allgemein gültige Vereinbarungen über den Schutz von Investitionen und die Gleichbehandlung in- und ausländischer Unternehmen festzuschreiben, am Widerstand der Länder des Südens. Gegenüber den wirtschaftlich schwachen Ländern in Mittelamerika versucht die EU nun, genau solche Regelungen durchzusetzen und damit die wirtschaftlichen Interessen von Investoren über nationale Gesetze zu stellen.

Die Alianza Social Continental (ASC), ein gesamtamerikanisches Netzwerk von NRO, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, das sich seit 1997 als Gegenbewegung zu den Freihandelsabkommen in der Region entwickelt hat, will den Integrationsprozess „von unten“ unter Einbeziehung der verschiedenen sozialen Sektoren stärken.1 Ihr Vertreter Raul Moreno sieht in den Auswirkungen von CAFTA einen Ausblick auf die negativen Folgen, die auch vom EU-Assoziierungsabkommen erwartet werden und fordert, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Ländern von der Anerkennung der Asymmetrie zwischen den Beteiligten ausgehen. Das heißt, den wirtschaftlich Schwächeren muss eine differenzierte Vorzugsbehandlung eingeräumt werden, die es ihnen erlaubt, aus den „Vorteilen“ des internationalen Handels Nutzen zu ziehen, um ihre Produktionsmöglichkeiten zu stärken und ihre Bevölkerung profitieren zu lassen. Aus seiner Sicht „müssen die Staaten Europas die Bezahlung der historischen ökologischen und sozialen Schuld in Angriff nehmen, die Europa seit der Eroberung Amerikas angehäuft hat. Die jahrhundertelange Ausbeutung und Plünderung unserer natürlichen Ressourcen, zu der seit dem vergangenen Jahrhundert das Eindringen der europäischen Konzerne gekommen ist, hat erhebliche ökologische und soziale Auswirkungen auf die Bevölkerung Zentralamerikas gehabt.” In diesem Sinne muss das Assoziierungsabkommen eine grundsätzlich andere Ausrichtung erhalten. Ein erster Schritt dahin wäre ein sofortiger Ausschluss der Bereiche Finanzdienstleistungen und geistiges Eigentum. Und danach sehen wir weiter.