Die Zapatistas handeln aufgrund politischer Überzeugungen und eigener Erfahrungen: Es gab ihrerseits jahrelange Versuche, indigenen Anliegen auch über den Staat Geltung zu verschaffen. Höhepunkt war die Reise der Kommandantur der Zapatistas nach Mexiko-Stadt zu Beginn des Jahres 2001. Das Abkommen von San Andrés von 1996, das indigene Rechte in der Verfassung zu verankern beabsichtigte, sollte endlich realisiert werden. Nachdem der Senat nur eine völlig entstellte Version verabschiedet hatte, zogen sich die Zapatistas zurück und konzentrierten sich auf den Aufbau eigener politischer Strukturen in Chiapas. Bis vergangenen Sommer, als sie die „Andere Kampagne“ (La Otra Campaña) ankündigten. Diese findet in einem Klima erstarkender linker Politik statt. 

Die linken Projekte in Lateinamerika variieren selbstverständlich von Land zu Land. In Bolivien sind indigene Bewegungen von zentraler Bedeutung, in Chile gibt es die traumatische Erfahrung der Pinochet-Diktatur und die ernüchternden Erfahrungen mit einer neoliberalen Sozialdemokratie, in Venezuela spielen breite Basisbewegungen und ein teilweise progressives Militär eine bedeutende Rolle, in Brasilien stehen die Landlosenbewegung und die linken Kräfte der Arbeiterpartei einer enorm starken und weltmarktorientierten Agrarbourgeoisie gegenüber. In Uruguay ist gegenwärtig zu besichtigen, wie eine linke Regierung als Ausdruck jahrzehntelanger popularer Kämpfe im ersten Jahr ein neoliberales Wirtschaftsprogramm nach den Vorgaben von IWF und Weltbank umsetzt. In dieser Konstellation scheinen einige Aspekte wichtig, die in dem Hype um die progressiven Regierungen manchmal übersehen werden. Deutlich wurde das jüngst auf dem Weltsozialforum in Caracas.

Linke Regierungsübernahmen bedeuten nicht, dass damit automatisch der Staat links oder progressiv wird. Der Staat ist ein viel komplexeres Verhältnis und muss in langwierigen gesellschaftlichen wie innerstaatlichen Kämpfen verändert werden. Dabei stellen sich wichtige Fragen wie jene nach der angestrebten Rolle des Staates im Verhältnis zu spezifischen gesellschaftlichen Bereichen oder nach der Rolle des Militärs. Dies ist insbesondere in einer Konstellation der Fall, in der zum einen die neoliberalen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse den Staat tiefgreifend transformiert haben. Zum anderen sind periphere Staaten (und Regierungen) weiterhin starkem externen Druck – politischem und ökonomischem – ausgesetzt. Die großen Hoffnungen in Lateinamerika auf progressive Regierungen speisen sich natürlich aus den vielfach desaströsen Erfahrungen mit korrupten, wirtschaftsliberalen und repressiven staatlichen Politiken. Allerdings droht dabei ein Sachverhalt unterzugehen: Neoliberale Dominanz wird nicht nur über den Staat hergestellt, sondern über komplexe Kräftekonstellationen, die innergesellschaftliche wie internationale Kapitalgruppen, ausländische Regierungen und internationale politische Institutionen umfassen. 

Das neoliberale Projekt, also der tief verankerte „Glaube“ an den Markt und die dahinter stehenden Kräfte sowie an die Alternativlosigkeit zu subalterner Weltmarktintegration, ist zwar weniger integrativ als in metropolitanen Gesellschaften, bietet aber auch relevanten Teilen der Mittelschicht materielle Vorteile. Das neoliberale Projekt, dies zeigen die Erfahrungen mit linken Regierungen, kann nicht nur auf staatlicher Ebene zurückgedrängt werden, bzw. wenn das die hauptsächliche Orientierung ist, droht progressive Politik schnell zu scheitern. Insbesondere die Veränderungen der Lohnarbeit und die damit einhergehende Verarmung, Ausgrenzung und Überausbeutung, die ja in vielen Fällen überhaupt zu erstarkenden sozialen Bewegungen und Revolten führten, sind ein sehr komplexer Prozess und nicht einfach staatlich umkehrbar. Die Legitimations- und Funktionskrise des neoliberalen Gesellschaftsumbaus wird in der Regel mit mehr Repression und gar offener Militarisierung beantwortet. Diese Entwicklung zu sehen und zu analysieren ist schon deshalb wichtig, weil nicht von einem statischen Herrschaftsmodell ausgegangen werden sollte, dem nun von links das Wasser abgegraben wird. Von herrschender Seite wird auf die wachsenden linken Bewegungen mit Kooptation, Delegitimierung und auch offener Gewalt reagiert. Denkbar ist allerdings ebenso offene Gewaltanwendung gegen linke Regierungen wie jene in Venezuela.

Die weltpolitische und weltwirtschaftliche Konstellation öffnet kaum Spielräume, sondern bleibt in Form niedriger Rohstoffpreise, Verschuldung und Strukturanpassungen sowie der zunehmenden Militarisierung der Gesellschaften durch oder mit Unterstützung der USA brutal präsent. Die Globalisierung des Kapitalismus erhöht zudem die Bedeutung internationaler Politik, die zuvorderst neoliberal-imperial ausgerichtet ist. Interessanterweise wird die internationale Konstellation nicht sehr genau analysiert, sondern verschwindet häufig hinter Schlagwörtern. Das Exportmodell erweist sich täglich und für Hunderte Millionen Menschen als prekär und wird sich insbesondere durch die Rolle Chinas in der Weltwirtschaft weiterhin kaum stabilisieren. Aber es ist nicht in dem Sinne gescheitert, dass nun umfassend Alternativen entwickelt werden. Die progressiven Regierungen setzen aktiv auf Weltmarktintegration – ob aus Überzeugung oder mangels Alternativen. Bei der letzten WTO-Konferenz in Hongkong wurde zudem deutlich, dass die brasilianische Regierung die Rolle des Juniorpartners in der Koalition der Weltmarktapologeten (zusammen mit der indischen Regierung) akzeptiert hat. Auf Unternehmens- und Regierungsseite dominieren die Interessen an einem auf Agrarexporten basierenden Wachstum – trotz der rhetorischen und teilweise auch sich realisierenden Süd-Süd-Integration.

Die begrenzten Handlungsspielräume der linken Regierungen – gepaart mit der Orientierung an Machterhalt –erfordern eine wichtige Konsequenz: Bewegungen und linke Partei- und Staatsprojekte sollten nicht vorschnell „strategische Allianzen“ eingehen, wie etwa beim Weltsozialforum in Caracas gefordert. Natürlich ist es im konkreten Fall wichtig, dass es zu Kooperationen zwischen Bewegungen und staatlichen Akteuren kommt. Aber geradezu politisch spürbar sind die zu erwartenden negativen Konsequenzen, wenn ein Projekt wie jenes in Venezuela nicht intensiviert, sondern – etwa über einen Putsch oder weil es erlahmt – zerschlagen wird. Gleichwohl bleibt eine unaufhebbare Differenz zwischen sich organisierenden Menschen und dem immer auch herrschaftsförmigen Staat.

Die konkreten Kämpfe und Bewegungen richten sich häufig an spezifischen Themen aus: Bildungs- oder Gesundheitsfragen, an feministischen oder sozial-ökologischen Anliegen, sie fokussieren die Landfrage oder Möglichkeiten alternativer Kommunikation. Sie haben nicht nur notwendig unterschiedliche Inhalte, sondern auch verschiedene Organisationsformen und zeitliche Rhythmen, räumliche Reichweiten und Strategien. Sie verhalten sich – und das scheint mir entscheidend – sehr unterschiedlich in Bezug auf den Staat und seine lokalen wie nationalen Apparate. Manche wie die Zapatistas brechen radikal damit und schaffen eigenständige gesellschaftliche Strukturen. Das Problem ist nicht die Vielfalt der Perspektiven und Ansätze, denn genau sie macht ja die gegenwärtige Dynamik aus, dass Präsidenten zum Teufel gejagt werden, Privatisierungen verhindert und so vieles andere. Es ergibt gar keinen Sinn, einen Maßstab für „Radikalität“ von außen an die vielfältigen Ansätze heranzutragen. Bewegungen können sich – wenn sie einen transformatorischen Anspruch verfolgen – als emanzipatorische Praxis nur ihrer Grenzen bewusst werden und sie zu verschieben versuchen.

Inwieweit sie im Zusammengehen und bei allen Fehlern und Schwächen Gesellschaft grundlegend transformieren können, das muss sich zeigen. Radikalität und Emanzipation bestehen darin, dass aufgrund von Lernprozessen und konkreten Aktionen immer wieder eigene Grenzen und von außen gesetzte Hindernisse überwunden werden. Das ist der Sinn des zapatistischen preguntando caminamos (fragend gehen wir voran). Und das ist in den vielfach militarisierten Kontexten schwierig und brutal genug.
Das Problem liegt m.E. woanders, nämlich in der sich einschleichenden Dominanz staats- und parteizentrierter Strategien, obwohl immer wieder die Pluralität betont wird. Staat und Parteien jedoch haben immer schon eine Antwort auf die Frage des Wie von Politik und damit vielfach auch des Was – als Instanz, die die Menschen und damit auch die Bewegungen tendenziell zu Objekten macht, die von Wirtschaft und Gesellschaft getrennt sich dennoch für diese für zuständig halten und danach handeln. Die Vorstellung wird aufrecht erhalten, dass soziale Verhältnisse von oben und stellvertretend transformiert werden. Genau das wurde beim letzten Weltsozialforum deutlich. Die enorm unterschiedlichen Ansätze, Themen, konkreten und zumeist sehr lokalen Erfahrungen, Kräftekonstellationen, Strategien, Aktionsformen wurden zwar sichtbar – aber viele Diskussionen endeten bei der Frage, wie das nun staatliche Politik wird. Diese Tendenz ist nach den desaströsen Erfahrungen des Neoliberalismus’ verständlich. 

Wenn linke Parteien und Regierungen Räume öffnen, soziale Bewegungen und die Selbsttätigkeit von Menschen zumindest nicht behindern, auf der institutionellen Ebene weitere Freihandelsabkommen und die Militarisierung stoppen, dann ist viel gewonnen. Über den Staat können Bewegungen Legitimität erhalten (oder sie kann ihnen entzogen werden mit möglichen repressiven Folgen). Besonders in Venezuela wird deutlich, wie wichtig der Staat ist, um erkämpfte Rechte abzusichern und gegebenenfalls mit Ressourcen zu versehen. Doch der Staat und die progressiven Regierungen wollen mehr. Sie wollen die „Ausgeschlossenen“ repräsentieren. Und wenn sich deren Forderungen und Notwendigkeiten gegen staatliche Politiken und damit verbundene herrschende Kräftekonstellationen stellen, dann ist nicht mehr viel mit Offenheit und strategischen Allianzen, sondern es stehen – wie derzeit in Uruguay in nicht geahnter Weise zu beobachten – Denunziation und Spaltung. Es bleibt ein strukturelles Übergewicht von Staat und Linksparteien. Dass die Subalternen und Ausgeschlossenen sich vielfach als Subjekte konstituieren, selbst Wissen produzieren, sich immer weniger auf staatliche Praktiken einlassen (eines der beeindruckendsten Beispiele ist das Bildungssystem der MST mit 1800 Schulen und 200 000 SchülerInnen) – das sorgt zumindest für Irritation.

Vor diesem Hintergrund haben die Zapatistas am 1. Januar 2006 die „Andere Kampagne“ gestartet. Ihre konkrete Erfahrung mit dem Staat ist negativ; die geforderte Anerkennung der Indigenen Mexikos ist gescheitert, sie erwarten nichts mehr von institutioneller Politik. Diese Position ist, das sollte klar sein, nicht die einzige. Den Staat als institutionelles und diskursives Terrain einfach beiseite zu schieben ist in vielen anderen Kontexten und Kämpfen naiv. Die Option paralleler Regierungsstrukturen, aber auch des Bildungs- und Gesundheitssystems in Chiapas mag nicht immer sinnvoll sein. La otra sollte zudem nicht überschätzt werden: Zu sehr bezieht sie sich auf den Wahlkampf und setzt in der Figur von Marcos auf (Gegen-)Personalisierung. Das Spannende der zapatistischen Kampagne aber liegt darin, dass sie den Kontakt sucht mit anderen Bewegungen und dem „anderen Mexiko“, den Verachteten, Gedemütigten, extrem Ausgebeuteten, rassistisch Ausgegrenzten. Dort, wo der delegado zero (Subcomandante Marcos als Delegierter Null) auftaucht, geraten ansonsten vergessene Verhältnisse, alltägliche Ungerechtigkeiten und Probleme, Straflosigkeit für die Gewalt der Herrschenden, teilweise jahrzehntelange konkrete Kämpfe – einiges dreht sich um Fragen alternativer Ökonomie – einen Moment in eine breitere Öffentlichkeit (für Spanischlesende sind die Berichte auf http://clajadep.lahaine.org lesenswert).

Warum machen die Zapatistas das in einer historischen Konstellation, in der erstmals in der mexikanischen Geschichte mit Manuel López Obrador ein linksliberaler Präsident gewählt werden könnte? Weil das „andere Mexiko“ im Spiel politischer Repräsentation lediglich in Gestalt der Ausgeschlossenen, als Objekt vorkommt, das es mit staatlichen Politiken von Wachstumsförderung und damit erhoffter Arbeitsplatzschaffung oder über Sozialpolitik zu integrieren gilt. Eines soll aber aus Sicht etablierter Politik nicht geschehen: Dass die Ausgeschlossenen zu politischen und gesellschaftlichen Subjekten jenseits von WählerInnen werden. Politik bleibt die Sache der Profis von Parteien und Staat, Unternehmerverbänden, NRO und anderen Lobbygruppen. Die Kritik der Zapatistas an der PRD lautet, dass auch diese nicht versucht, das Spiel von Parteienkonkurrenz und politischen Eliten infrage zu stellen. 

Die Zapatistas wollen ein politischer Referenzpunkt jenseits der Parteien sein und den sozialen Bewegungen Sichtbarkeit geben. Sie kritisieren damit die Formen von Politik, auch linker Politik, die sich zuvorderst am Staat ausrichtet. Sie stehen konkret in Chiapas für andere Formen, Politik zu machen: Alle sollen in der Lage sein, für einen begrenzten Zeitraum zu regieren. Und sie insistieren darauf: Bewegungen benötigen dafür eine gewisse Autonomie, vor allem von ihnen kommen politische Innovationen gegen zentralisierte und nur auf Repräsentation zielende Formen von Politik. Paradox bleibt, dass die aktuellen progressiven Regierungen eben wegen der linken Bewegungen, deren Mobilisierungen und konkreten Vorschlägen gegen staatlich-institutionelle Politik überhaupt an die Staatsmacht kamen. Diese Erfahrung gilt es wach zu halten. Und dafür stehen die Zapatistas derzeit – übrigens mit vielen anderen Bewegungen in Lateinamerika. 

La otra provoziert also in Mexiko und darüber hinaus – vielleicht gegen ihre erklärte Absicht, aber in ihrer Wirkung –, das Verhältnis von emanzipativen Bewegungen, linken Parteien und Staat genauer zu durchdenken. Sie stellt die Frage, wie nicht nur die Karten anders gemischt und ausgeteilt, sondern die Regeln verändert werden können. Die aktuell entscheidende Frage an die linken Regierungen ist, ob sie willens und in der Lage sind, mit dem dominanten politisch-ökonomischen Projekt zu brechen. Und dafür müssen eben die Spielregeln dramatisch geändert werden. Vielleicht müsste ein anderer Begriff im Sinne der Zapatistas eingeführt werden, nämlich jener eines respondiendo caminamos („antwortend gehen wir voran“; das ist nicht anmaßend gemeint und ich weiß nicht, ob irgendwo solch ein Begriff verwendet wird). Einen solchen Begriff könnte man füllen mit der immer deutlicher werdenden Suche nach Alternativen bzw. mit den vielen existierenden Ansätzen gerade in ihrer Vielfalt – und in ihrer Offenheit.

Das konkrete Verhältnis zu den verschiedenen Parteilinken und staatsorientierten Bewegungen in Lateinamerika kann ich nicht einschätzen. Die Positionen der Zapatistas in Mexiko selbst lassen eher auf ein Nicht-Verhältnis schließen. Bei vielen Bewegungen sind sie jedoch weiterhin ein zentraler Referenzpunkt. Insofern sind die Zapatistas nicht out und sie bleiben – zusammen mit den konkreten negativen Erfahrungen wie etwa in Brasilien oder Uruguay, wo die Erwartungen vieler Linker an die „eigenen“ Regierungen besonders hoch waren – der beißende Stachel für eine Perspektive, für die emanzipative Gesellschaftstransformation mehr ist als eine Angelegenheit von Staat und Parteien.