Ich muss gestehen, durch meine Tochter bin ich schon länger bei Netflix. Die Qualität ist meistens gut und die Auswahl groß, sodass fast jede*r etwas findet. Aber um drei Themen mache ich einen Bogen: Teenie- beziehungsweise First-Love Filme, Serien, in denen Musik die Hauptrolle spielt (Musicals schon gar nicht), sowie Serien mit einem Zerrbild von Lateinamerika, wo Drogen und Gewalt, vor allem permanenter Krieg zwischen den Kartellen einerseits und mit der korrupten Polizei andererseits den Alltag beherrschen. Somit war ich genau der Falsche für diese Besprechung.
Aber zunächst zum Wesentlichen: „Sintonia“ ist eine brasilianische Miniserie, die sechs Folgen sind jeweils um die 40 Minuten lang, anzugucken auf Englisch, Spanisch oder Portugiesisch mit deutschen Untertiteln, produziert von KondZilla für Netflix, erschienen 2019. Geeignet ab 16 Jahren. Zum Thema schreibt Netflix: „Drei Jugendliche in einer Favela von São Paulo kämpfen für ihre Freundschaft und ihre Träume. Musik, Drogen und Religion sind ständige Begleiter“. Eine gute Zusammenfassung. Übrigens ist Kirche auch nicht mein Thema. Das ist aber in Brasilien nicht zu vermeiden, vor allem die Evangelikalen.
Um es vorwegzunehmen: Ich habe mir alle sechs Folgen angeschaut, sogar ohne vorzuspulen. Das Thema Favela ist mir natürlich nicht neu, aber was Baile Funk und wer KondZilla ist, musste ich erst recherchieren. Die Musik gefällt mir, als Schlagzeuger kommt bei mir jede Musik mit ausgeprägtem Rhythmus gut an. Und die Geschichte von Konrad Dantas, alias „KondZilla“ oder Kond finde ich spannend. Konrad Dantas ist ein brasilianischer Drehbuchautor, Regisseur, Musik- und Videoproduzent. Anfang des letzten Jahrzehnts hat er seinen KondZilla-YouTube-Kanal eingerichtet, der inzwischen mit über 60 Millionen Abonnent*innen der größte Kanal Brasiliens und Lateinamerikas und der drittgrößte der Welt geworden ist. Mit seinem Videokanal ist es ihm gelungen, den Funk Ostentação aus São Paulo weltweit bekannt zu machen. Außerdem hat KondZilla mit dazu beigetragen, die Barriere zwischen der Mittelschicht und der Favela in São Paulo und Brasilien ein wenig zu durchbrechen und den Baile Funk auch auf den Partys der Mittelschicht salonfähig zu machen. Trotzdem werden die Bailes in der Favela nach wie vor kriminalisiert und von der Polizei verfolgt.
Zurück zu „Sintonia“. Die Handlung ist einfach gestrickt, teilweise klischeehaft, was aber nicht groß stört. Das Hin und Her zwischen den verschiedenen Handlungssträngen ist bei Serien üblich, damit soll die Spannung erhöht werden. Die Charaktere, auch die der Nebendarsteller*innen, sind glaubhaft und gut gespielt. MC JottaPê, der hier den Doni spielt, schwankt manchmal noch zwischen der Schauspielerei und seiner zweiten Karriere als MC. Obwohl meistens an Außenorten gedreht, erinnert die Ästhetik mitunter an Telenovelas. Kameraeinstellungen und Bewegungen sind meistens einfach. Zwischendurch kommt der immer wieder obligatorische Drohnenflug über die Favela. Warum die Serie erst ab 16 freigegeben ist, wird nicht klar. Die Gewalt hält sich in Grenzen (trotz zweier Morde, einer davon nur akustisch angedeutet). Auch kommt erstaunlich wenig Sex darin vor, ein-, zweimal kurz angedeutet. Positiv anzumerken ist auch das Fehlen von frauenverachtenden Kommentaren; insgesamt ist wenig nackte Haut zu sehen, vor allem kein ständiges Powackeln in die Kamera hinein, was bei Baile Funk-Videoclips normalerweise dazu gehört.
Zu den Hauptfiguren: Ritas Mutter ist gestorben, sie wohnt jetzt alleine, bekommt beim Straßenverkauf Ärger mit der Polizei. Ihre Freundin wird verhaftet, die Mutter der Freundin verprügelt Rita daraufhin nach Strich und Faden. Daraufhin sucht Rita Schutz und später Halt in einer der evangelikalen Kirchen, in der ihre Mutter früher tätig war. Nando ist schwarz, verheiratet, hat ein Kind und versucht im Drogengeschäft (hätte auch Fußball sein können, ist aber nicht so spannend) voranzukommen. Um bei den Gangstern aufzusteigen, ist er sogar bereit zu töten. Doni, ein Justin Bieber-Verschnitt und für die Favela etwas zu weiß geraten, ist im wahren Leben Schauspieler und seit einigen Jahren selber MC JottaPê (MC = Master of Ceremonies). In „Sintonia“ lebt er bei seinen Eltern, die – wahrscheinlich am Rande der Favela – einen kleinen Supermarkt betreiben. Er hilft seinem Vater, aber sein Traum ist es, Funk-Star zu werden.
Musik, Sport, Kriminalität und Kirche waren schon immer die Wege, um der Armut in der Favela zu entfliehen. Wohlgemerkt: Es sind die Strapazen der Armut, die viele hinter sich lassen wollen, nicht unbedingt die Favela selbst. Die harten und komplexen Geschäftswelten sowohl der Musik wie auch der Drogenmafia als auch der Wohlstandstheologie der evangelikalen Kirchen sowie deren jeweiliger Geldmaschinerie werden gut dargestellt – kritisch, aber ohne den in deutschen Filmen üblichen pädagogischen Zeigefinger. Auch die korrupte Polizei, ihr brutales Vorgehen in der Favela, ihre Verhandlungen mit dem Drogenboss kommen nicht klischeehaft, sondern glaubwürdig rüber. Kritik an den Verhältnissen kann also auch unterhaltsam sein. Die Welt der Favela, die wir zu sehen bekommen, ist aufgeräumter, frisch gestrichener und „weißer“ als die, die wir sonst in den Dokumentarfilmen sehen (etwa „Inside the Mind of Favela Funk“ oder „Favela On Blast“ auf YouTube), aber trotzdem glaubwürdig. Auch der Rassismus in der brasilianischen Gesellschaft, vor allem gegenüber „der Favela“ wird deutlich. Am Anfang der Serie bekommt sogar der Bieber-Verschnitt Doni das herabsetzende Verhalten gegenüber den Favelados zu spüren, als er zu Besuch bei einem Freund aus der weißen Oberschicht ist; auch später, als er auf Partys der Oberschicht singt und keiner ihn wahrnimmt.
Wie die drei engen Freund*innen ihren Träumen nachgehen und gleichzeitig für ihre Freundschaft und ihre eigenen Werte kämpfen ohne sich zu „verbiegen“, steht immer wieder im Mittelpunkt. Am schwierigsten hat es Nando (dargestellt vom exzellenten Schauspieler Christian Malheiros, der 2018 einen Preis für seine Darstellung in „Sócrates“ bekam). Nando tötet sogar, um aufzusteigen. Das gelingt ihm auch, aber nicht ohne Gewissensbisse, die wir ihm ansehen können, womit er immer wieder unsere Sympathie gewinnt. Am erfolgreichsten scheint Doni zu sein. Er ist auch weiß.
Auch wenn manche Klischees wahrscheinlich Zugeständnisse an ein internationales Publikum (Netflix) sind, habe ich den Eindruck, hier wird die Favela mit allem, was dazu gehört, von den Leuten auf ihre eigene Art, wie sie sie sehen beziehungsweise sehen wollen, dargestellt. Produzent Kond kommt selbst aus einer Favela in Guarujá nahe São Paulo. Sein Lieblingsspruch: „Die Favela hat gewonnen.“ In „Sintonia“ kämpft die Favela mit Würde für ihre Rechte und um Anerkennung. Eine gewonnene Schlacht (wenn überhaupt) ist noch kein gewonnener Krieg. Aber ein Anfang.
Übrigens, ich habe meine Tochter (25) gebeten, kurz reinzuschauen. Sie findet die Serie gut. Zwar eher etwas für Jüngere, aber sie hat vor weiterzuschauen. Die zweite Staffel kommt demnächst nach Deutschland. Meine Tochter und ich werden dranbleiben. Schließlich sind auch wir in „Sintonia“.