Zwischen 1940 und 1942 war die südfranzösische Hafenstadt Marseille einer der letzten Ausgänge, durch die Juden, Jüdinnen und Linke der Terrormaschinerie der Nazis entkommen konnten. Aber es war ein mehrfach vermintes Tor, durch das längst nicht alle Flüchtlinge die rettenden Ufer Nord- und Südamerikas erreichen konnten. Marseille stand ab 1940 unter der Verwaltung des mit den Nazis kollaborierenden Vichy-Regimes, es gab nur sehr wenige Schiffslinien ab Marseille und es wurde immer schwieriger, Einreise- oder Transitvisa für potenzielle Aufnahme- und Durchreiseländer zu bekommen. Und alles mussten die Flüchtlinge zum richtigen Zeitpunkt gleichzeitig haben: die Ausreiseerlaubnis der Vichy-Regierung, die Schiffspassage und die nötigen Visa. In Interviews in der ila kamen in den letzten 20 Jahren mehrfach Menschen zu Wort, denen die Flucht über Marseille gelungen war: Steffie Spira, Susanne Bach, Charlotte Janka, Lenka Reinerova und mit Gilberto Bosques, dem damaligen mexikanischen Generalkonsul in Marseille, auch jemand, der vielen Flüchtlingen in ihrer verzweifelten Lage geholfen hat.
Aber längst nicht alle Ausreisewilligen, die 1941/42 in Marseille versuchten, die notwendigen Papiere zu bekommen, konnten den Nazis entkommen. Drei Menschen, denen das nicht gelang, stellt Hans-Hermann Seiffert in seinem Buch „In Argentinien gerettet – in Auschwitz ermordet“ vor. Er erzählt die Geschichte der badisch-jüdischen Familie Guggenheim, von der ein Zweig in Konstanz, der andere in Donaueschingen lebte. Bis 1933 waren die Guggenheims angesehene Geschäftsleute. Salomon Guggenheim betrieb in Konstanz eine Eisenwarenhandlung, sein Bruder Abraham Guggenheim besaß in Donaueschingen, Singen und Gaggenau mehrere Kaufhäuser, die seine Frau Bona und ihr Sohn Dagobert nach seinem Tod im Dezember 1932 weiterführten.
An zahlreichen Beispielen zeigt Seiffert auf, wie die Lebenssituation der Guggenheims nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 systematisch verschlechtert und ihnen ihre Lebensgrundlagen mehr und mehr entzogen wurde. Wegen der zunehmend antisemitischen Politik verließen Abraham Guggenheims Tochter Erna und ihr Mann 1935 Deutschland und emigrierten nach Argentinien, 1938 folgte ihnen ihr Vetter Isi Guggenheim. Als letztem Familienmitglied gelang Bona Guggenheim Anfang Dezember 1939 über Genua die Flucht nach Argentinien. Drei weitere Familienmitglieder, Salomon Guggenheim, seine Frau Toni und ihr Neffe Dagobert, hatten Anfang 1939 ebenfalls Einreisevisa für Argentinien bzw. Chile beantragt. Deren Bewilligung zog sich aber in die Länge, weil die meis-ten lateinamerikanischen Staaten die Einwanderungsmöglichkeiten für europäische Juden und Jüdinnen inzwischen eingeschränkt hatten. Im Oktober 1940 verfügte der badische NSDAP-Gauleiter Robert Wagner die „Abschiebung“ aller badischen Juden und Jüdinnen nach Frankreich. Knapp ein Jahr bevor die Deportationen nach Osteuropa einsetzten, wurden die Gaue Baden und Saarpfalz bereits Ende 1940 „judenfrei“ gemacht.
Die badischen Juden und Jüdinnen wurden ins Internierungslager GURS am Rand der Pyrenäen in der unbesetzten Zone Frankreichs deportiert. Im Februar/März 1941 wurden diejenigen, die bereits Ausreiseanträge gestellt hatten, ins Transitlager Les Milles bei Aix-en-Provence verlegt. Die Frauen, darunter Toni Guggenheim, wurden teilweise in Hotels in Marseille interniert, wo sie die erforderlichen Papiere für ihre Ausreise beschaffen sollten, das quälende Procedere, das Anna Seghers in ihrem großen Roman „Transit“ so eindringlich beschrieben hat. Das größte Problem Toni Guggenheims und der anderen badischen Jüdinnen war, dass sie seit ihrer Deportation nach Frankreich als „staatenlos“ galten und die Schreibtischtäter im Konstanzer Passamt sich weigerten, ihnen Pässe oder entsprechende Ersatzdokumente auszustellen, was die Voraussetzung für den Erhalt aller weiteren Papiere war. Dazu kam, dass die Gestapo die Vichy-Regierung im Juni 1941 anwies, nur noch den Juden und Jüdinnen die Ausreise zu gestatten, die vor dem Mai 1940 in Frankreich gelebt hatten. Das bedeutete, dass die badischen Juden und Jüdinnen gar keine Chance mehr hatten, eine Ausreisegenehmigung zu erhalten. Ihre Ausreise aus Frankreich war zu diesem Zeitpunkt nur noch illegal möglich, was einige couragierte Hilfsvereine auch organisierten. Allerdings waren deren Möglichkeiten begrenzt, so dass sie den meisten Asylsuchenden nicht helfen konnten. Das galt auch für Salomon, Toni und Dagobert Guggenheim. Sie wurden am 11. August 1942 aus Les Milles nach Auschwitz deportiert. Salomon und Toni wurden dort wahrscheinlich am 14. August 1942 ermordet, Dagobert wurde vermutlich für den Arbeitseinsatz ausgesondert, sein Todeszeitpunkt ist unbekannt.
Hans-Hermann Seiffert: In Argentinien gerettet – in Auschwitz ermordet. Die Schicksale der jüdischen Familien Salomon Guggenheim aus Konstanz und Abraham Guggenheim aus Donaueschingen 1933-1942, Herausgegeben von Erhard Roy Wiehn, Hartung-Gorre-Verlag, Konstanz 2010, 114 Seiten, 14,80 Euro