Über 80 Prozent der ins Deutsche übersetzten Bücher stammen aus dem englischsprachigen Raum, genauer gesagt aus den USA und Großbritannien. Das heißt umgekehrt, dass auf alle anderen Sprachen, in denen weltweit Literatur geschrieben wird, nicht einmal 20 Prozent der bei uns erschienenen Übersetzungen entfallen. Dies bestimmt auch die Wahrnehmung lateinamerikanischer Literatur bei uns. Abgesehen von den Werken einiger bekannter Namen von García Márquez bis Allende werden vergleichsweise wenige belletristische Bücher übersetzt. Das gilt für spanischsprachige Titel und mehr noch für Bücher, die auf Portugiesisch geschrieben wurden. Dass in den letzten zwei Jahrzehnten überhaupt eine Reihe wichtiger Romane aus Brasilien, aber auch aus Angola und Mosambik auf Deutsch erscheinen konnte, war maßgeblich das Verdienst von Ray-Güde Mertin, der wichtigsten Literaturagentin für portugiesischsprachige Literatur in Deutschland.
Literarische Agenturen, die AutorInnen vertreten, wurden bei uns lange als US-amerikanisches Phänomen betrachtet. Im deutschsprachigen Raum galt weiterhin das Ideal des schöngeistigen Verlegers, der den direkten und literarischen Kontakt mit „seinen“ AutorInnen pflegt. Doch dies ist längst Geschichte, es mag vielleicht noch für mancheN engagierteN Kleinverleger oder Kleinverlegerin gelten. VerlagsleiterInnen sind knallharte Geschäftsleute, was sie wohl auch sein müssen, wenn sie in einer schwierigen Branche überleben wollen. Heute lassen sich die meisten AutorInnen von Agenturen vertreten. Deren wichtigste Aufgabe ist es, die Verlage für die Arbeiten ihrer AutorInnen zu interessieren und deren Interessen bei Vertragsverhandlungen wahrzunehmen. Handelt es sich nicht gerade um die wenigen arrivierten und gut eingeführten SchriftstellerInnen, besteht der schwierigste Teil der Aufgabe darin, die Bücher bei den Verlagen unterzubringen. Dazu genügt es nicht, mit guten Büchern im Gepäck bei den Verlagen vorzusprechen, sondern deren Interesse muss organisiert werden.
Dies war der Ray-Güde Mertins Job und wie aus der erklecklichen Zahl von ihr betreuter AutorInnen abzulesen ist, hat sie das sehr gut gemacht. Sie hat nicht nur zahlreiche portugiesischsprachige AutorInnen vertreten, darunter den Literaturnobelpreisträger José Saramago, sondern auch eine ganze Reihe spanischsprachiger SchriftstellerInnen, überwiegend aus Lateinamerika. Sie hat sich aber weit darüber hinaus für die lateinamerikanische Literatur engagiert. Sie war lange im Vorstand der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika aktiv, hat an der Uni Frankfurt unterrichtet, ist auf Veranstaltungen und in den Medien aufgetreten. Wenn man sie dabei erlebte, spürte man, dass sie mit Leib und Seele bei der Sache war. Sie hat Literatur nicht nur „verkauft“, sondern hat sie geliebt, war zutiefst davon überzeugt, dass Literatur Menschen aus unterschiedlichen Regionen und Kulturen zusammenbringt.
Wir haben Ray-Güde Mertin 1994 kennen gelernt, auf einer Konferenz in Berlin im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse, deren Gastland in jenem Jahr Brasilien war. Für einen ila-Schwerpunkt zur brasilianischen Literaturszene (ila 178) hatten wir damals ein langes Interview mit ihr geführt, in dem sie uns und unserern LeserInnen erklärte, wie der Buchmarkt funktioniert und wie sie es anstellt, dass brasilianische Bücher zu deutschen Verlagen kommen. Ich hatte damals einige brasilianische Romane gelesen und wusste daher, dass Ray-Güde Mertin nicht nur Literaturagentin war, sondern auch eine großartige literarische Übersetzerin, die einige sehr wichtige brasilianische Titel ins Deutsche übertragen hat. Nach dem Interview saßen wir noch zusammen und ich fragte sie, wie sie das zusammenbringe, die Agentin, also die Geschäftsfrau, die von Termin zu Termin hetze, und die Übersetzerin, die sich voll auf die Bücher einlassen müsse, Wochen, je nachdem Monate einsam mit einem Buch verbringen und nach den besten Formulierungen suchen müsse. Sie hat das gar nicht als großen Gegensatz wahrgenommen. Beide Tätigkeiten, meinte sie, seien doch notwendig, um Bücher aus Lateinamerika oder Afrika an deutsche LeserInnen zu bringen.
Nach unserem Treffen in Berlin haben wir immer wieder zusammengearbeitet. Wir wollten der Literatur in der ila einen breiteren Raum geben und sie hat uns dabei immer wieder unterstützt: Sie hat Kontakt zu Buchmenschen hergestellt, die wir interviewen oder vorstellen wollten, hat uns Texte der von ihr vertretenen AutorInnen zur Verfügung gestellt, gab uns Tipps und Hinweise bei Übersetzungen. Obwohl sie ständig unter Termindruck stand, hatte sie für uns fast immer ein paar Minuten Zeit, und ich empfand es stets als ungeheuer erfrischend und motivierend, mit ihr zu sprechen.
Ray-Güde Mertin litt schon seit vielen Jahren an Krebs. Als wir mal wegen unseres Städteportraits zu São Paulo (ila 247) telefonierten, sagte sie am Schluss: „Ich muss mal wieder unters Messer. Drücken Sie mir die Daumen.“ Zuletzt sah ich sie vor anderthalb Jahren in Köln, als sie eine Lesung mit einem meiner Lieblingsautoren, dem Angolaner Pepetela, moderierte und übersetzte. Es war eine sehr lustige Veranstaltung, weil Autor und Moderatorin voller Witz waren und bestens harmonierten. Ich freue mich, sie so in Erinnerung behalten zu können.