Ihre politische Herkunft im Kampf gegen die Diktatur und in den sozialen Bewegungen ist eine deutliche Parallele zur Biographie Lulas. Der Befreiungstheologe Leonardo Boff, ein glühender Unterstützer Marinas, nannte sie den „besseren Lula“. Aber auch die Unterschiede zu Lula sind nicht zu übersehen. Im Mittelpunkt ihrer politischen Biographie stand zuerst der Kampf um den Erhalt des Amazonaswaldes, dann die „Umweltfrage“. Marina war damit in der Arbeiterpartei PT zuständig für genau das, was dem Mainstream der Partei nicht so wichtig war. Mit seinem politischen Gespür hatte Lula aber erkannt, dass für das Image seiner Regierung gerade die Amazonasproblematik äußerst wichtig ist. So war nach dem Wahlsieg Ende 2002 Marina die erste Parteigenossin, die von Lula für ein Regierungsamt vorgesehen wurde. Mehr als fünf Jahre lang war Marina dann Umweltministerin – bis sie Erniedrigungen und Krötenschlucken nicht mehr aushalten konnte. Sie hatte sich mit ihrem Anspruch, aus dem Umweltressort ein quer zu anderen Ministerien gelagertes Richtungsministerium zu machen, nicht durchsetzen können.

Nach ihrem Rücktritt vom Minsterinnenamt beschleunigte sich ihre Entfremdung von der PT. 2009 schließlich, auf dem Höhepunkt eines der vielen Korruptionsskandale, trat Marina publikumswirksam aus der PT aus und etwas später in die Grüne Partei (PV) ein.

Bemerkenswerterweise verkörperte damit wie schon im Wahlkampf 2006 wieder eine Dissidentin der PT die dritte Kraft. Damals war es Heloisa Helena, die für die linke Abspaltung der PT, die PSOL, ein beachtliches Ergebnis (6,85 Prozent) erzielte. Marina hat das Potential, drei Kräfte zu bedienen: zum einen natürlich alle die, denen Umweltfragen tatsächlich ein zentrales Anliegen sind, also vor allem die aufgeklärte Mittelschicht. Zum anderen spricht sie die an, die durch endlose Korruptionsskandale von der herrschenden Politik enttäuscht sind, die Waisen des politischen Systems, auch ohne klare Rechts–Links-Ortung. Und natürlich auch religiöse WählerInnen – insbesondere aus dem Lager der Evangelikalen, zu denen Marina in die Kirche Assembleia de Deus übergetreten ist.

Am Anfang des Wahlkampfes haben viele AnhängerInnen Marinas davon geträumt, sie könne der brasilianische Obama werden und für eine Überraschung sorgen. Daraus ist nichts geworden, Marina bleibt bei den annähernd zehn Prozent, die auch schon Heloisa erreicht hatte. Hauptgrund dafür ist wohl, dass die Regierung Lula ja auch im letzten Jahre ihrer Amtszeit von einer überwältigenden Popularität getragen wird – keine guten Zeiten für politische AußenseiterInnen. Die Frustration über unappetitliche Praktiken der Politik ist zwar allgegenwärtig, hat aber keine massenhafte Abwendung von Lula und seiner designierten Nachfolgerin Dilma Rouseff provoziert.

Vielleicht ist es Marina auch nicht gelungen, der neuen 
politischen Strömung, die sie verkörpern will, wirklich Profil zu verleihen. Ihr Übertritt zur PV hat sie mit einem Fuß weiterhin im politischen System gelassen, und dies in einer problematischen Partei ohne klares ideologisches Profil. Als Präsidentschaftskandidatin war sie zunächst in erster Linie darum besorgt, sich ein seriöses Image zuzulegen, und nicht als der Umweltengel vom Amazonas zu erscheinen. Zu ihrem Vize machte sie einen Unternehmer und einen der reichsten Menschen Brasiliens, den Chef des Naturkosmetikkonzerns Natura, Guilherme Leal. Sie erkor einen eher konservativen Ökonomen zum Berater und gab zum Beispiel Erklärungen ab, dass die Zentralbank unabhängig sein müsse, um rein technische Entscheidungen (das absolute Dogma der Neoliberalen – d. Säz.) zu fällen. Oder sie verkündet in New York vor Unternehmern Weisheiten wie diese: „Zwei Herausforderungen sind fundamental. Die umsichtige Verwaltung der öffentlichen Gelder und das Schaffen eines günstigen Klimas, um private Investitionen zu fördern.“ Sie verzichtete auf jegliche Kritik der Wirtschaftspolitik Lulas und seines Vorgängers. Mit diesem müden Mainstreamgerede konnte sie so bei einer eher linken Klientel nicht punkten.

Hier offenbaren sich das Dilemma und die Grenzen Marinas. Sie hat sich als unfähig erwiesen, eine wirkliche Oppositionsposition zu formulieren. Damit hat sie weder bei den sozialen Bewegungen noch bei einer politisierten Klientel Unterstützung mobilisieren können. Dies gilt übrigens auch und gerade für die Umweltbewegung. So fiel ihre Kritik an dem umstrittenen Großstaudamm im Amazonasgebiet (Belo Monte, siehe Beitrag auf S. 20) butterweich aus. Sie erklärte sogar, dass sie weder für noch gegen Belo Monte sei. Es mag Marina auf der einen Seite ehren, dass sie keinem demagogischen Oppositionsdiskurs verfallen ist, der dann bei einer etwaigen Beteiligung an der Regierung wieder vergessen wird. Marina spricht als Kandidatin nicht anders als zu den Zeiten, zu denen sie Ministerin war.

Gerade die Umweltbewegung hat aber dem Mythos Marina auch auf die Finger geschaut. Und da fällt die Bilanz durchaus ambivalent aus. Zu Marinas Zeiten sind umstrittene Großprojekte wie die Staudämme am Rio Madeira und die Umleitung des Rio São Francisco bewilligt worden. Letztendlich hat sich damit auch Marina in die Rolle der konditionierenden Umweltpolitik nach dem Motto „Hier eine Auflage, dort eine Kompensation“ eingefügt.

Bei der Frauenbewegung sowie bei Leuten, die von ihr beeinflusst sind, kann Marina sowieso kaum punkten. Verständlich sind die Vorbehalte gegen ihre konservativ-religiösen Überzeugungen insbesondere in der Abtreibungsfrage. Gerechtigkeitshalber muss aber vermerkt werden, dass Marina immer wieder die Trennung zwischen ihren (privaten) religiösen Überzeugungen und ihrem politischen Handeln betont. Politik darf Glaubensbekenntnisse nicht umsetzen, sondern muss in einem laizistischen Staat für alle gemacht werden – dies ist Marina sehr wohl bewusst. Sie ist keine Fundamentalistin, aber eben auch beileibe keine feministische Kämpferin.

Die Figur Marinas ist paradox: Als Politikerin ist sie eine gemäßigte Mainstreamerin mit Herz für den Regenwald und die Umwelt und einer konservativ-religiösen Haltung. Ihr politischer Diskurs ist oft ein verquastes Nachhaltigkeitsgerede, das auf eine ökologische Modernisierung setzt. Aber als Person weist sie darüber hinaus, bildet die Brücke zu dem Mythos, der viel mehr als die Politikerin Marina ist: das Bild einer anderen Politik, einer schwarzen Frau aus dem Urwald, die nicht korrupt geworden ist und der die Zukunft wichtiger ist als die Abgründe der Politik. Wenige wählen wohl die Politikerin Marina wegen ihrer konkreten Erfahrungen. Ansprechend ist der Mythos Marina, der bei ihren Auftritten immer dann aufblitzt, wenn sie die Zettel ihrer Berater beiseite legt und frei redet, von ihrem Leben erzählt, Bilder und Gleichnisse aus Amazonien beschwört. Die Kraft, die dann von der zierlichen Frau ausgeht, ist fast unvorstellbar. Kann solch ein Mythos noch in der Politik wirkungsträchtig werden? Oder wird er unvermeidlich in den Mühlen der Realpolitik zerrieben? Marinas größtes Verdienst ist es wohl, dass sie trotz ihrer Mainstreamdiskurse die Hoffnung auf „das Andere“ in der Politik noch wenigstens personifiziert.