aus La Diaria
Das Panorama legaler Abtreibung in Lateinamerika hat sich in den letzten zehn Jahren mehrfach gewandelt. Der Prozess begann 2012, als in Uruguay und Mexiko-Stadt Gesetze verabschiedet wurden. 2018 nahm er an Fahrt auf, als durch die argentinische „grüne Welle“ innerhalb von zwei Jahren das Abtreibungsrecht durchgesetzt wurde. Insgesamt sind Abtreibungsrechte jedoch alles andere als sicher. In manchen Ländern, hauptsächlich in Mittelamerika, ist Abtreibung weiterhin vollständig verboten, in anderen, wie im Fall von Argentinien, droht wieder ein Verbot. Vor diesem Hintergrund organisierte das unabhängige digitale Medium Kaja Negra mit Sitz in Mexiko Anfang Februar 2024 einen Austausch zwischen Spezialist*innen für sexuelle und reproduktive Rechte aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas. In dem virtuellen Gespräch ging es um die Fortschritte und Rückschläge von Abtreibungsrechten im Allgemeinen, die Kriminalisierung der Abtreibung, insbesondere in Mittelamerika, und die Repräsentation von LGBTI und rassifizierten[fn]Rassifiziert, von Spanisch racializada: wenn Menschen aufgrund bestimmter Merkmale einer anderen Gruppe zugeordnet und damit abgewertet werden. Das können zum Beispiel körperliche (Hautfarbe, Körpergröße), soziologische (Kleidung, Bräuche) oder geografische (Herkunft, Wohnort) Merkmale sein.[/fn] Personen in diesem feministischen Kampf.
„Seit 2018 haben wir mit der grünen Welle ein Symbol, eine Farbe und neue Strategien gefunden, um für reproduktive Autonomie zu kämpfen“, erklärte die Moderatorin Ninde MolRe, eine mexikanische Anwältin, die auf sexuelle und reproduktive Rechte spezialisiert ist. „Dieser Weg bedeutet aber auch, dass wir die Narrative in Frage stellen müssen, die seit Jahrzehnten LGBTI-, rassifizierte und indigene Personen sowie Menschen mit Behinderungen ausgegrenzt haben. Die müssen wir beseitigen, damit Abtreibung für alle Realität wird“, fügte sie hinzu. Gleichzeitig schaffe die virale Präsenz der grünen Welle einen neuen Grund für Abtreibungsgegner*innen in der ganzen Welt, sich neu zu organisieren, wie es bereits in Europa, den Vereinigten Staaten und jetzt in Argentinien geschehe. „Deshalb müssen wir heute mehr denn je auf andere Stimmen und Erfahrungen hören und Allianzen bilden, um das Erreichte zu bewahren und voranzubringen.“
Argentinien: Abtreibungsrechte in Gefahr
„Hätten wir diesen Dialog vor drei Monaten geführt, würde ich Ihnen etwas ganz anderes erzählen“, beginnt die argentinische Journalistin Mariana Carbajal. Mit dem Amtsantritt von Präsident Javier Milei im Dezember 2023 habe sich das Szenario der sexuellen und reproduktiven Rechte in Argentinien „abrupt verändert“: „Diese Figur, die sich selbst als libertär bezeichnet, aber eine ultra-rechte Regierung fördert, ist zweifellos eine Gefahr für unsere in den letzten Jahren errungenen Rechte.“ Glühende Gegner*innen des im Dezember 2020 verabschiedeten Gesetzes zum freiwilligen Schwangerschaftsabbruch sitzen nun in Regierungspositionen. Als Beispiel nannte sie den Fall von Rodolfo Barra, der sich in den 1990er-Jahren „für die Aufnahme einer Anti-Abtreibungsklausel“ im Rahmen einer Verfassungsreform einsetzte und vor weniger als zwei Wochen in einer Meinungskolumne auf Infobae sagte, er habe die „begründete Hoffnung“, dass das Gesetz dieses Jahr aufgehoben werde. Carbajal stellte klar, dass derzeit nicht genügend Abgeordnete die Aufhebung des Gesetzes im Kongress unterstützen. Sie warnte, dass sie „diese Idee trotzdem vorantreiben können“, etwa indem sie Gelder für Programme der ganzheitlichen Sexualerziehung und für die Abtreibungsmedikamente Misoprostol und Mifepriston streichen.
Der argentinische trans Aktivist Ese Montenegro (siehe Interview auf Seite 18), der als parlamentarischer Berater in der Abgeordnetenkammer tätig ist, thematisiert, dass 2018 in keinem der diskutierten Abtreibungsgesetze die Tatsache berücksichtigt wurde, dass nicht nur cis[fn]cis, im Gegensatz zu trans: wenn Menschen sich mit dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren.[/fn] Frauen schwanger werden können und somit das Recht auf Abtreibung haben. Diese Diskussionen mussten in den Bewegungen geführt werden. „Ich verstehe, dass die meisten Menschen, die abtreiben, cis Frauen sind. Wenn wir aber ein einziges Rechtssubjekt konstruieren, wird höchstwahrscheinlich ein trans Mann, eine nicht-binäre Person oder eine Person, die sich als lesbisch identifiziert und eine Abtreibung beantragt, auf Hindernisse stoßen, die wir selbst zugelassen haben.“ Der Aktivist stimmte Carbajal zu, dass die einzige Möglichkeit der Regierung Milei, den Zugang zur Abtreibung zu verhindern, „nicht darin besteht, das Gesetz aufzuheben, sondern die Versorgung zu unterbinden“. Er rief dazu auf, die „Forderungen zu vereinen“, ohne Klasse, Geschlecht und Alter aus den Augen zu verlieren. „Wir dürfen nicht in die Falle tappen, dass man uns dazu zwingt, eine Forderung der anderen vorzuziehen, als ob Menschenrechte eine begrenzte Ressource wären und die Regierungen diejenigen wären, die sie zu verwalten hätten.“
Kolumbien: Von Schwarzem Wissen lernen
Die kolumbianische afrofeministische Journalistin Sher Herrera sprach über die besonderen Herausforderungen, denen sich rassifizierte Frauen im Kampf für Abtreibung gegenübersehen. Sie stellte die wichtigsten Ergebnisse ihrer Untersuchung über „Vorstellungen und Abtreibungspraktiken rassifizierter Frauen“ im Viertel La Paz in Santa Marta vor. Eines der Ergebnisse war, dass diese Frauen „vor, während und nach der Legalisierung oder Entkriminalisierung der Abtreibung mit Pillen zu Hause abgetrieben haben, unterstützt von Freundinnen, Tanten und Großmüttern, die darüber Bescheid wussten“. Es zeige, dass das eigene Zuhause für rassifizierte Menschen ein sichererer Abtreibungsort ist als das Gesundheitszentrum. Und das, obwohl Frauen dort seit 2022, als Abtreibung bis zur 24. Schwangerschaftswoche entkriminalisiert wurde, ihr Recht auf Abtreibung einfordern können sollten. „Die Zentren erhalten eine Menge Stigmatisierung, Kriminalisierung und rassistische Gewalt gegen diese Frauen aufrecht. Viele gehen gar nicht erst hin, um sich nicht der Misshandlung auszusetzen.“
Auch die Demokratisierung des Wissens über verschiedene Methoden für Schwangerschaftsabbrüche spiele eine Rolle. Es gehe nicht nur darum „für Gesetze zu kämpfen, die uns von der kolonialen Macht des Staates aus die Erlaubnis zur Abtreibung geben. Wir können auch Wissen darüber verbreiten, wie Frauen mit ihren Unterstützungsnetzwerken und Begleiterinnen zu Hause abtreiben können. Und wenn es irgendwelche Komplikationen gibt, werden die Gesetze hoffentlich diesen Frauen den Zugang zum Gesundheitssystem ermöglichen.“ Im Verborgenen zu Hause abzutreiben ist zwar einerseits stigmatisierend, andererseits schützt es aber „die Frauen davor, sich dem Rassismus und der geschlechtsspezifischen Diskriminierung im Gesundheitssystem auszusetzen und davor, dass Familienmitglieder, Freund*innen und andere Menschen, die es nichts angeht, von ihrer Abtreibung erfahren“. In diesem Sinne ist die Heimlichkeit auch „eine Möglichkeit, sich der ultrarechten Bewegung entgegenzustellen“ und wird zu einer „Strategie des Widerstands gegen den kolonialen Staat“. Die Journalistin appellierte an weiße Frauen im Globalen Norden, „die Augen zu öffnen“ und andere Alternativen in Betracht zu ziehen, „als nur auf der Straße zu protestieren“. Daneben sei es wichtig, „zu rassifizierten Menschen oder nicht-binären Menschen zu gehen, und sie zu fragen: Wie macht ihr das? Wie löst ihr das Problem? Wenn wir das Wissen Schwarzer Frauen ignorieren, verachten und stigmatisieren, verschließen wir uns einen wichtigen Zugang zur körperlichen Selbstbestimmung. Die Alternative besteht darin, sich dieses Wissen anzueignen, die Stimme zu erheben und im wahrsten Sinne des Wortes das Schweigen abzutreiben.“
El Salvador: Die Ärmsten kommen in den Knast
Den Abschluss der Runde bildete die salvadorianische Aktivistin Morena Herrera, Präsidentin der Bürger*innengruppe für die Entkriminalisierung der Abtreibung in El Salvador (Agrupación Ciudadana por la Despenalización del Aborto en El Salvador). Die Frage der Abtreibungsrechte sei eine von „Demokratie oder Nicht-Demokratie“. Viele Länder Zentralamerikas, El Salvador, Haiti, Honduras, Nicaragua und die Dominikanische Republik, verbieten Abtreibung vollständig. In diesem regionalen Szenario ist El Salvador das Land, in dem die absolute Kriminalisierung der Abtreibung auf die Spitze getrieben wurde. Wenn eine Abtreibung doch durchgeführt werde, werde sie anschließend mit harten Strafen verfolgt. Auch Gesundheitspersonal werde durch das harte Abtreibungsgesetz unter Druck gesetzt, Frauen zu denunzieren, die „mit Anzeichen eines Schwangerschaftsabbruchs in die Gesundheitszentren kommen, unabhängig davon, ob es sich um eine herbeigeführte Abtreibung oder eine Fehlgeburt handelt“. Eine weitere Facette sei die Kriminalisierung verarmter Frauen, meist aus ländlichen Gebieten. „Sie suchen ein Krankenhaus auf, weil sie einen geburtshilflichen Notfall hatten und dort Hilfe suchen, ohne genau zu wissen, was mit ihnen geschehen ist. Sofort gelten sie als verdächtig, werden denunziert und auf direktem Weg vom Krankenhaus ins Gefängnis gebracht. In einem Gerichtsverfahren werden sie zunächst der Abtreibung beschuldigt. Dann wird die Art des Verbrechens geändert und sie werden schließlich wegen schweren Mordes verurteilt. Da die salvadorianische Verfassung einen Embryo vom Moment der Empfängnis an als Person versteht, reichen die Strafen von 30 bis zu 50 Jahren“, so die Aktivistin. Bis heute wurden dank der Arbeit ihrer Gruppe 73 Frauen freigelassen. Dies sei ein bedeutender Schritt, mache aber auch deutlich, dass der Kampf noch nicht vorbei ist: „Wir werden uns weiterhin für die Frauen einsetzen, denn die Kriminalisierung in den öffentlichen Gesundheitseinrichtungen hat nicht aufgehört.“