In Juliaca steigen wir in einen Minibus mit dem Ziel Rinconada. Die erste Stunde geht es flach über das 4000 Meter hoch gelegene Altiplano hinweg, links und rechts stehen einfache, ärmlich wirkende Lehmziegelhäuser mit Wellblech- oder Strohdächern. Lamas, Schafe, Kühe, einfach gekleidete Campesinos, die ihrer Arbeit nachgehen. In den letzten 200 Jahren hat sich wenig verändert, abgesehen davon, dass einem mittlerweile auf der weiten Straße immer wieder Autos, Motorräder und Lastwagen entgegenkommen. Anschließend wird die Straße schmaler, zieht sich in Serpentinen den Berg hinauf. Hier gibt es kaum noch Häuser, lediglich ein paar Lamaherden mit Hirten. Das letzte Stück schließlich geht die Straße in einen Schotterweg über und die Welt wirkt plötzlich kahl, grau und kalt. Nach einer halben Ewigkeit schließlich erkennt man in der Ferne die Spitzen der mächtigen Schneeberge und an deren Fuß La Rinconada, die am höchsten gelegene Stadt der Welt. Auf 5100 Meter liegt eine Stadt im Süden Perus, in den Weiten der Anden, am Fuße eines etwa 6000 Meter hohen Gletschers, dessen schneebedeckte Felswände in den Himmel ragen und zwischen den Wolkenwänden verschwinden. Es ist schwer vorstellbar, dort hochzugehen, doch noch viel undenkbarer ist es, dass sich auf jener Höhe eben eine Stadt mit geschätzten 50 000 EinwohnerInnen befindet. Diese Stadt ist dem Himmel so nahe wie keine andere, doch ihr Zustand kommt wohl eher der Hölle näher. Die Stadt ist von Müll eingedeckt. Der kalte Wind durchdringt die Kleidung und lässt den Körper zittern. Die sauerstoffarme Luft kann zu Atemwegserkrankungen und Blutarmut führen.
Die Menschen haben dieser feindlichen Umwelt kaum etwas entgegenzusetzen. Der größte Teil der Stadt besteht aus unisolierten, einfachen kleinen Blechbaracken, ohne Bad und fließendes Wasser. Der einzig wirkliche Schutz vor der extremen Kälte besteht aus unzähligen Decken und drei Schichten Unterwäsche unter der dicken Jacke. Viehzucht und Ackerbau sind auf einer solchen Höhe nicht möglich. Was also bewegt die Leute, in einer solch unwirtlichen Mondlandschaft zu leben? Es ist das Gold.
In La Rinconada wird Gold gefördert und aus ganz Peru, insbesondere aus der umliegenden Provinz Puno, treibt es die Menschen im Goldrausch in die Stadt, in der Hoffnung, reich zu werden. Mit der starken Nachfrage nach Gold Ende der 90er-Jahre und der Eurokrise war der Goldpreis in die Höhe geschnellt und damit auch die Bevölkerung von La Rinconada. In den letzten zehn Jahren ist die Bevölkerung um etwa 250 Prozent gestiegen. Exakte Zahlen zu finden ist schwer, da La Rinconada eine informelle Ortschaft ist und die Leute unerfasst kommen und gehen. Offiziell wurde der Stadt noch nicht einmal das Stadtrecht verliehen und sie kommt somit nur schwer an Geldmittel des Staates. Allenthalben fehlt es an Infrastruktur. Nur die Hauptstraße ist gepflastert. Matschige Trampelpfade führen die Stadt hinauf und am Hang entlang. Es gibt kein fließendes Wasser und keine Kanalisation. Die Informationen über La Rinconada im Umkreis fallen bei Nachfragen alle gleich aus: kalt, dreckig und kriminell. Das ist die häufigste lakonische Beschreibung für diese Stadt. Nur wenig lässt die Anwesenheit des Staates in La Rinconada erahnen: ein kleiner Polizeiposten, ein Rathaus mit einem Bürgermeister und schließlich noch eine Grund- und Sekundarschule, deren Bau überwiegend von den Eltern bezahlt wurde. Der staatliche Beitrag beschränkt sich auf die Bezahlung der LehrerInnen.
Franklin Ernesto (Name geändert), inzwischen Ingenieurstudent in Juliaca, wuchs in La Rinconada auf. Er besuchte dort die Schule, bis er mit elf Jahren nach Juliaca ging und inzwischen mit einem staatlichen Stipendium an der dortigen Universität studiert. Ein Großteil seiner Familie lebt noch immer in La Rinconada. Man kann kaum glauben, dass der schmächtige kleine Mann mit Brille an diesem unwirtlichen Ort aufgewachsen ist.
Wer La Rinconada besucht, betritt eine karge, steinige und kalte Welt. Den Menschen dort mangelt es an einfachsten hygienischen und infrastrukturellen Standards, doch sie können sich jeden technischen Schnickschnack, vom Smartphone bis zum Fernseher, kaufen. In dieser Welt stehen die Menschen mit dem einen Fuß in der Jetztzeit, mit dem anderen in einer grauen Vorzeit. Immerhin haben die BewohnerInnen erreicht, dass nun fast jedes Haus mit Strom versorgt ist. Auf den Straßen sind die Minenarbeiter in voller Arbeitsmontur zu sehen, die für viele wie eine zweite Haut ist. Der Anteil der Männer in der Stadt überwiegt bei weitem. Frauen trifft man meist hinter den Marktständen oder vor den Eingängen zu den Stollen, wo sie die aussortierten Steine nachträglich nach Goldanteilen absuchen.
Der Zugang zur Mine wird den Frauen verweigert. Nach gängiger, abergläubischer Meinung soll es Unglück bringen, wenn Frauen die Bergwerkstollen betreten. Die Mineros, die Bergleute, sind in ihren andinen Riten und ihrem Glauben stark verwurzelt. Sie erhoffen sich, damit die Berggeister gnädig zu stimmen, sodass sie das Gold in ihrem Berg loslassen. Kokablätter zu spenden ist noch der harmloseste Ritus, es gibt auch Tieropfer. Das Ganze erinnert an eine Wildweststadt aus dem vorletzten Jahrhundert. Kriminalität, Drogen und Prostitution sind Alltag. Oft leben die Frauen mit den Kindern in den umliegenden Städten Juliaca oder Puno, während die Väter und älteren Brüder in den tiefen Stollen von Rinconada schürfen.
Der 44-jährige Mateo Carcausto (Name geändert), klein, stämmig, mit erschöpft wirkendem Gesicht, arbeitet schon seit 25 Jahren in La Rinconada. Damals bestand der Ort nur aus ein paar Häusern und einer Handvoll Menschen. Seine Frau und seine sechs Kinder leben in Juliaca. Die Familie kommt kaum nach Rinconada und er kann sie auch nur selten besuchen. Keine guten Voraussetzungen für eine Familie „Nächstes Jahr will ich fort von Rinconada und zu meiner Familie nach Juliaca“, erzählt er. Ob dies nach 25 Jahren nur Wunschdenken ist oder ob er es ernst meint, ist schwer zu sagen. Es ist schwer, woanders ähnlich gut zu verdienen wie in La Rinconada. Die wenigsten haben einen Schulabschluss. Dass die Lebensbedingungen vor Ort hart sind, beweist der exzessive Alkholkonsum. „Bier wird hier wie Wasser getrunken“, erzählt Mateo und nimmt sich selbst nicht aus. Die Leute kommen nicht nach La Rinconada, um dort alt zu werden und Familien zu gründen. Sie wollen Geld machen und haben die Hoffnung, nicht mehr weiter als Kleinbauern, Taxifahrer oder Handwerker für wenig Geld schuften zu müssen. In einer Stadt, in der ein jeder auf Zeit lebt, denkt niemand daran, das Stadtbild zu verschönern. Mateos Sohn Clever, der eine Ausbildung als Koch macht, erzählt, dass viele seiner Kollegen in ihren Semesterferien nach La Rinconada zum Arbeiten in die Mine gehen. Er selbst könnte das nicht.
Wer will schon an einem Ort leben, der extrem gesundheitsschädlich ist? Das hochtoxische Quecksilber, das beim Lösen des Goldes aus dem Gestein in die Flüsse gelangt und als Dampf in der Luft hängt, stellt eine ernstzunehmende Gefahr für die Menschen dar. Den meisten ist diese Gefahr bewusst. Mateo, der nach 25 Jahren in Rinconada noch immer einen gesunden Eindruck macht, kennt selbst viele Opfer von Quecksilbervergiftungen. Meist sind es Schmerzen im Rachen, die ihnen ihre Vergiftung erst richtig bewusst machen. Doch die Aussicht auf das schnelle Geld drängt gesundheitliche Bedenken in den Hintergrund. Dabei sind nicht nur die BewohnerInnen von La Rinconada von der Quecksilberbelastung betroffen. Die nach dem Goldlöseprozess mit Quecksilber kontaminierte Lauge wird einfach in den Boden und den unterhalb der Stadt gelegenen See geleitet, wodurch das Quecksilber über die Flüsse in das Umland gelangt. Wie hoch die Quecksilberbelastung der Flüsse, der Böden und Seen wirklich ist, ist schwer abzuschätzen, da das Problem von den Behörden ignoriert wird. Es gibt kaum exakte Daten über das wahre Ausmaß der Belastung.
In La Rinconada herrscht ein kompliziertes Geflecht aus legalen und nicht legalen Bergbaufirmen und Genossenschaften. Die Minenarbeiter, die keine Schürflizenz besitzen, arbeiten nach einem speziellen Prinzip, dem Cachorreo, nach dem die Arbeiter bezahlt werden. Sie arbeiten den Großteil des Monats kostenlos für ihren Auftraggeber, im Gegenzug haben sie ein paar Tage im Monat, in denen sie für sich selbst schürfen und so viel sie tragen können aus den Minen holen dürfen. Ein Lotterieprinzip. Man kann das große Los ziehen oder aber auch das große Pech haben. Damit der Ausgang nicht ganz vom Glück abhängt, wird das Risiko geteilt. Ein Trupp von etwa 100 Minenarbeitern schürft einen Tag lang nach Gold, anschließend wird der Fund aufgeteilt. Somit wird das Risiko, leer auszugehen, geringer und Streitereien wird vorgebeugt. Zwischen 25 und 30 Euro zahlen die unzählig vorhandenen Goldankaufstellen pro Gramm. Cachorreo als Bezahlsystem wurde inzwischen auf Druck der Minenarbeiter staatlich anerkannt. Die Minenarbeiter bevorzugen dieses gegenüber konventioneller Entlohnung. Steuern werden keine bezahlt. La Rinconada ist eine informelle Stadt, jedoch keine illegale. Der Staat lässt kleine Bergbaufirmen, die ohne den Einsatz großer Maschinen Untertagebergbau betreiben, meist unbehelligt werken. Indirekt profitiert auch der Staat. Die Armutsquote im Bezirk Puno ist durch den informellen Bergbau immerhin stark gesunken.Die Menschen in La Rinconada klammern sich an den Goldpreis und opfern manches Kokablatt und viele Flaschen Bier, damit dieser nicht fällt. Das Schicksal der höchstgelegenen Siedlung der Welt ist an den Wert des Goldes gebunden. Fällt der Goldpreis dauerhaft, fällt auch die Stadt. Da der Wert des Goldes wiederum mit den Krisen dieser Welt steigt und fällt, lebt La Rinconada von diesen Krisen.